Hilfe für serbelnde Ortskerne - vlp

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Siedlungsentwicklung l Brennpunkt
Hilfe für serbelnde
Ortskerne
Ohne die grossen Detailhändler drohen viele Ortskerne auszusterben. Wie lassen sie sich im
Zentrum halten? Mit dieser Frage befasste sich eine Tagung des Vereins für Landesplanung.
Patentrezepte wurden keine gefunden, aber einige vielversprechende Ansätze aufgezeigt.
Von Ben Kron
Am richtigen Ort:
Das Einkaufszentrum
Seepark in Sursee LU
befindet sich zwischen
Bahnhof und Altstadt.
Bild: zvg
B
ei immer mehr Schweizer Dörfern
und Kleinstädten tragen die Zen­
tren ihre Bezeichnung nur noch
aus geografischen Gründen. Als Kern­
des ­lokalen öffentlichen Lebens, als Ein­
kaufsort oder Treffpunkt haben viele aus­
gedient. Die Filialen der grossen Detail­
händler sind in einen Neubau in der
Gewerbezone gezogen, und mit ihrem
Weggang fehlt auch den traditionellen
Läden und Restaurants die Laufkund­
schaft. «Die Kundenfrequenz – zentral
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für das Gewerbe in den Ortszentren –
wird zu einem knappen Gut», resümierte
der Detailhandelsspezialist Martin Hotz
an einer Tagung des Vereins für Landes­
planung (VLP-Aspan). Und deshalb ser­
beln viele Ortskerne. Der Wegfall der
­Geschäftsnutzung, den die mangelnde
Kundenfrequenz zur Folge hat, und da­
mit oft der Einbruch der wirtschaftlichen
Grundlage der Liegenschaften, stellt Pri­
vate, aber auch die öffentliche Hand vor
massive Probleme. Dieser Entwicklung
gilt es also möglichst entgegenzuwirken,
und des Pudels Kern scheint rasch ge­
funden: Die Gemeinden müssen ihren
Migros oder Coop, ihren Aldi oder Lidl
im Ortszentrum halten oder allenfalls
wieder dort hinbringen. Doch das ist oft
schwer umzusetzen, und die an der Ta­
gung geführten Diskussionen mit Ver­
tretern von Migros und Coop machen
klar, dass es keine Patentrezepte gibt.
Die Anliegen der Grossverteiler und jene
der Gemeindevertreter sind oft nicht
Nr. 1 Februar/März 2016
­ eckungsgleich. So kommt es immer
d
­wieder zu Entwicklungen, welche die
­Gemeinden unbedingt verhindern woll­
ten. Solche «Worst Cases» werden an der
Tagung vorgestellt und analysiert; zum
Beispiel das thurgauische Weinfelden,
wo Coop dem Ortskern den Rücken kehr­
te, oder Neuhausen am Rheinfall SH,
wo die Migros ihren Neubau ausserhalb
des Ortszentrums erstellt.
dazu ein erweiterter Bushof, eine Grup­
pen-Arztpraxis, Pflegeplätze eines be­
nachbarten Altersheims und ein Lift plus
Rolltreppe, um den Niveauunterschied
von der Altstadt zum tiefer gelegenen
Bahnhof auszugleichen.
Der Bushof muss erweitert werden,
da der bestehende den Anforderungen
nicht mehr genügt. Unter anderem sind
die Postautos länger geworden. Der Kan­
ton hatte der Gemeinde nun zwei Vor­
schläge zur Lösung des Problems unter­
breitet, die aber vom Gemeinderat zu­rückgewiesen wurden. «Sie entsprachen
nicht unseren stadtplanerischen Bedürf­
nissen, und wir sahen bei beiden keine
Verbesserung der Situation.» Also wurde
der Gemeinderat selber aktiv und such­
te nach einem Weg, den erweiterten Bus­
hof wie bisher auf dem Post­areal unter­
zubringen. So entstand das Projekt zur
Umgestaltung und Umnutzung des gan­
zen Areals, mit dem man dann auf die
Migros zugegangen ist. «Die Migros woll­
te sowieso in Aarberg eine Filiale eröffnen, und wir wollten die Migros un­
bedingt bei uns haben», schildert Bour­
quin die Ausgangslage. «Insofern pass­
ten unsere Zielsetzungen zusammen, nur
hatte es bisher einfach noch nicht ge­
passt.» Der Gemeinderat hatte sich dazu
auch an die Post gewandt mit der Bitte,
das Projekt zu prüfen. «So kamen die bei­
den Partner an einen Tisch.» Das Projekt
ist allerdings noch in einem Frühstadium. «Migros und Post müssen die
Verträge noch unterschreiben, da die
Migros die Liegenschaft erwerben wird.»
Passivität rächt sich
Dass der Gemeinderat in Aarberg so
aktiv wurde, ist kein Zufall: Einige Jahre
früher hatte man den Wegzug des Coop
aus der unmittelbaren Nähe zur Altstadt
«Wenn wir eine schöne Altstadt
behalten wollen, müssen wir
für Fussgängerverkehr sorgen, der den
Läden zugute kommt.»
Christine Bourquin,
Gemeinderätin von Aarberg BE
nicht verhindern können. Doch aus den
damaligen Ereignissen zogen die Politiker die richtigen Schlüsse. Bourquin:
«Der Gemeinderat hat damals erkannt,
dass wir ein Ressort Wirtschaft schaffen
müssen. Ich selber leite dieses Ressort
heute.» So habe man eine Person, die
den Aspekt der Wirtschaft in alle Ge­
schäfte der Gemeinde einbringe. «Ein
Beispiel: Wir sind daran, die Sonderbauvorschriften für die Altstadt zu
Lage nicht hoffnungslos
Die Tagung kann aber auch mit erfolg­
reichen Beispielen aufwarten, die den
vielen Gemeindevertretern Mut machen
sollten. Eins davon ist Aarberg im Kan­
ton Bern. Gemeinderätin Christine Bour­
quin beschreibt ein Projekt, mit dem die
Stadt im Seeland nicht nur die Migros
ins Zentrum holen will, sondern gleich
noch eine Reihe weiterer Probleme an­
geht: «Wir haben auf einer Parzelle zwi­
schen Bahnhof und Altstadt ein älteres
Postgebäude, das für die aktuellen Be­
dürfnisse der Post viel zu gross ist.» Auf
der nur teilweise genutzten Parzelle sol­
len nun Post und Migros Platz finden,
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Aarberg BE packt die Chance zur Aufwertung: Das alte Postgebäude soll einem Neubau mit Läden, Dienstleistungen
und erweitertem Bushof weichen. Bild: Netzwerk Altstadt
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überarbeiten. Wir stellten uns die Frage, noch von der Gemeindeversammlung auf der sprichwörtlichen grünen Wiese
ob wir im Erdgeschoss auch eine Wohn­ ­abgesegnet werden, aber ich bin sehr im Nachbarort Schenkon geplant war.
nutzung zulassen sollten. Nicht zuletzt zuversichtlich.»
«Der Quartier­verein Altstadt und das lo­
kale Gewerbe befürchteten den Verlust
dank einem Workshop mit der VLPNicht auf der grünen Wiese
Aspan haben wir davon abgesehen.»
vieler Kunden. Deshalb haben sie zuStattdessen machte man sich zur In der Luzerner Stadt Sursee war die sammen mit dem Stadtrat gegen diesen
­Leitlinie, dass die neuen Vorschriften Ausgangslage eine andere, wie Stadtrat Bau gekämpft.» Der Konflikt ging da­
bes­sere Rahmenbedingungen für die­ und Bauvorsteher Bruno Bucher aus­ mals bis vors Bundesgericht, das zu
Haus- und Ladenbesitzer in der Altstadt führt. Dort befindet sich die Migros Gunsten von Sursee entschied.
schaffen sollten. «Wir haben heute eine schon seit langem an der BahnhofWährend man nach aussen also eine
sehr schöne, herausgeputzte Altstadt, strasse «und damit an der zentralen, negative und wenig nachhaltige Ent­
mit belebten und vielfältigen Geschäf­ quasi ‹richtigen› Achse. Diese stellt die wicklung stoppen konnte, ist der Stadt­
ten. Und wir haben erkannt: Wenn wir Verbindung vom etwas dezentral gele­ rat auch nach innen aktiv. Bucher: «Wir
sind an der Revision der Baudas behalten wollen, müssen wir
für Fussgängerverkehr sorgen,
und Zonenordnung, wofür wir
der den Läden zugute kommt,
schon ab 2011 ein räumliches
«Wenn es um Ansiedlungen geht,
und für genügend Qualität zu­
Entwicklungskonzept ausge­
müssen wir den Dialog
gunsten der Bewohner der Häu­
arbeitet haben.» Die neue
ser», sagt Bourquin. Hier greifen
Bau- und Zonenordnung steht
mit den Grossverteilern suchen.»
die Sonderbauvorschriften, die
kurz vor der Planauflage. Als
Bruno Bucher, Stadtrat von Sursee LU
Kern der Änderungen nennt
in Zusammenarbeit mit der
Denkmalpflege erlassen wurden:
Bucher einen haushälteri­
Ausbauten der Hausteile zur
schen Umgang mit dem Bo­
­Altstadt hin bleiben tabu. Dazu bleibt genen Bahnhof zur Altstadt dar und ist den. «Wir werden noch städtischere
im Parterre eine öffentliche Nutzung bei heute eine sehr a­ ttraktive Einkaufsachse Strukturen erhalten und uns nach innen
den Haupthäusern vorgeschrieben. mit weiterem Ausbaupotenzial.» Inzwi­ entwickeln. Das Fassungsvermögen an
«Aber auf der der Altstadt abgewand- schen seien sogar Coop und Migros un­ zusätzlichen Einwohnern schaffen wir,
ten Seite der Gebäude kann man nach ter einem Dach. Zuvor hat Sursee aber ohne einen einzigen Quadratmeter zu­
einem cleveren Schlüssel Ausbauten vor­ vehement gegen ein Einkaufszentrum sätzliches Land einzuzonen», sagt Buch­
nehmen. Diese Vorschriften müssen mit diversen Fachmärkten gekämpft, das er. Wobei man ohnehin kaum noch Land­
reserven zur Verfügung habe.
Sursee verdichtet
Raumplanerische Todsünde:
Neue L­ adenlokale mit grosszügigen
Parkflächen, gebaut auf der
grünen Wiese (im Bild: Lidl-Filiale
in Noville VD). Bild: zvg
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Die Innenverdichtung in Sursee erfolgt
auch in der dritten Dimension. Hierzu
gibt es einen ersten konkreten Bebau­
ungsplan, über den die Bevölkerung im
nächsten Frühling abstimmen wird. «Ge­
plant sind auf der Basis eines Wettbe­
werbsverfahrens zwei neue Hochhäuser,
48 und 38 Meter hoch, welche die ers­
ten so hohen Wohnbauten in Sursee dar­
stellen.» Der Bebauungsplan schreibe
­dabei vor, dass im Erdgeschoss eine ge­
werbliche Nutzung mittels Retail- und
Dienstleitungsflächen erfolgt, und die
ersten drei bis vier Geschosse Büros be­
herbergen. Der Rest sind Wohnflächen.
Bucher: «Wir haben uns also um ein
nachhaltiges Projekt bemüht.»
Die Stadt Sursee profitiert also davon,
dass die Grossverteiler genau am richti­
gen Ort im Zentrum sind und dieses ent­
sprechend beleben. Unter anderem kann
der Luzerner Vorort mit einer vielfältigen
Gastronomie überraschen. Zudem ist­
die Altstadt in einem hervorragenden
Nr. 1 Februar/März 2016
Zustand. Bereits 2003 hatte Sursee für
die Sanierung des historischen Stadt­
kerns den Wakkerpreis erhalten. «Dazu
haben wir in den letzten 10 bis 15 Jah­
ren 16 Millionen Franken für die Sanie­
rung der Altstadt ausgegeben. So wurde
alles mit einheimischen Quarzsandstei­
nen gepflastert, wir haben also quasi ei­
nen neuen Teppich gelegt», sagt Bucher.
Mit dieser teuren Massnahme habe man
die Grundeigentümer animieren können,
ihre eigenen Häuser à jour zu halten und
allenfalls selber zu investieren.
Ein generelles Patentrezept für Bele­
bung der Ortskerne und Einbindung der
Detailhändler sieht Bruno Bucher nicht.
«Wenn es um Ansiedlungen geht, müs­
sen wir den Dialog mit den Grossverteilern suchen. Geht es um das Setzen
von Rahmenbedingungen, dann müssen
wir das Gewerbe mit ins Boot holen und
­Lösungen suchen.»
Mit Grossverteilern reden
Die Beispiele Aarberg und Sursee zeigen,
dass es sich für die Gemeinden auf je­
den Fall lohnt, ihre Probleme proaktiv
anzugehen und das Gespräch mit den
Grossverteilern zu suchen. Denn die Un­
ternehmen sind ihrerseits unter wach­
sendem Druck: Grosse Einkaufszentren
und die eingeschossigen Normbauten
mit grosser Parkfläche, wie sie Aldi oder
Lidl in Gewerbezonen errichteten, sind
mit dem neuen Raumplanungsgesetz
kaum mehr möglich. Die Standortsuche
wird also immer schwieriger, wie Lukas
Bühlmann unterstreicht, der Direktor der
VLP-Aspan. «Dank dem neuen Raumplanungsgesetz müssen wir heute haus­
hälterischer mit den Boden umgehen.
Von den Kantonen wird eine Arbeits-
zonenbewirtschaftung verlangt, was ge­
rade die Industrie- und Gewerbezone be­
trifft – also genau die Orte, an denen
Aldi und Lidl gerne Neubauten hinstel­
len. Nun müssen die Kantone in diesen
Arbeitszonen aber eine sinnvolle Boden­
nutzung gewährleisten und verdichten.»
Die VLP-Aspan empfiehlt den Gemein­
den, Vorschriften für Gewerbe- und In­
dustriezonen zu erlassen, die grössere
Verkaufsflächen ausschliessen. «Gewer­
bezonen sollten dazu dienen, KMU oder
grössere Betriebe anzusiedeln. Für Ver­
kaufsflächen waren sie eigentlich nicht
gedacht; das hat sich so ergeben», sagt
Bühlmann. «Die Gemeinden sollten aber
nicht nur Gebiete bezeichnen, in denen
sie den Detailhandel ausschliessen, son­
dern die Detailhändler bei der Stand­
ortsuche aktiv unterstützen.» Neben der
Hilfe bei der Standortsuche könne es
sinnvoll sein, Anreize zu schaffen, um die
Detailhändler ins Zentrum zu holen.
«Zum Beispiel, indem man das Bewilli­
gungsverfahren beschleunigt. Die Stadt
Delémont hat bei der Ansiedlung der
grossen Detailhändler zwischen Bahnhof
und Altstadt auf die Erstellung eines auf­
wendigen Sondernutzungsplans verzich­
tet. Stattdessen hat man ein Pflichten­
heft erarbeitet, das der Bauherr erfüllen
muss. Das Pflichtenheft enthält Anforderungen an die Qualität des Gebäudes und die Erschliessung.»
Allgemein rät Bühlmann den Gemein­
den, bei der VLP-Aspan Unterstützung
zu holen. «Mit unserem Beratungspro­
gramm ‹Dialog Siedlung› zeigen wir
Wege auf, wie eine Belebung von
Ortszentren und historischen Altstädten
anzuregen ist. Unsere Experten von
‹Netzwerk Altstadt›, dessen Geschäfts­
Netzwerk Altstadt
Das Netzwerk Altstadt ist ein Kompetenzzentrum und ein Beratungsdienst ­für
Fragen rund um die Entwicklung und Erhaltung von historischen Ortskernen und
Altstadt-Quartieren. Es wird geführt von der Schweizerischen Vereinigung für
Landesplanung (VLP-Aspan) und hilft Gemeindevertretern bei der Analyse der
Lage, dem Anstossen von Projekten und Entwicklungen und bei der Kommuni­
kation. Zurzeit nutzen gegen 40 Schweizer Gemeinden sowie die österreichische
Stadt Villach die Werkzeuge des Netzwerks. Die vier zentralen Tools sind dabei
die Stadtanalyse, die Haus-Analyse, die Nutzungsstrategie und der Gassenclub.
Die vier kostenpflichtigen Werkzeuge haben einen Zeitaufwand von zwei bis
sechs Monaten.
(bk)
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Der Schlüssel für ein lebendiges
Ortszentrum: Oft muss mit den
Grossverteilern verhandelt werden,
um Einkaufsmöglichkeiten
im historischen Kern zu erhalten
(im Bild: Altstadt Winterthur).
Bild: Marcel Müller
stelle wir führen, haben hierfür eine
­Reihe von Werkzeugen entwickelt.» Der
VLP-Direktor mahnt aber zugleich: «Man
kann man das Rad der Zeit nicht zurückdrehen und die kleinen Läden wie­
der ins Zentrum holen. Die Gemeinden
müssen andere Wege suchen, um das
Ortszentrum zu beleben. Sie können
beispiels­weise das Wohnen fördern, so­
ziale und kulturelle Einrichtungen wie
Kinderhorte, Jugendtreffpunkte oder
Kleintheater unterstützen oder gute Rah­
menbedingungen für gewerbliche Akti­
vitäten wie C
­ afés und Handwerksbetriebe schaffen.» Oft lohne es sich für
die Gemeinden, hierfür Experten beizu­
ziehen. Oder sich an guten Beispielen zu
orientieren, wie sie diese Tagung vorge­
stellt hat. ■
Surftipp
www.vlp-aspan.ch
www.netzwerk-altstadt.ch
kommunalmagazin.ch l 17