Züri Front 04.02.2016

ZÜRCHER WOCHE | Freitag, 04. Februar 2016 | KW 05 | 3. Jahrgang | Tel. 044 941 07 25 | www.zuerizeitung.ch | [email protected] | [email protected]
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Wenn nicht jetzt – wann dann??
Zürich: Stiftung Gamaraal leistet direkten Support an armutsbetroffene Holocaust-Opfer
denden und finanziell schlecht
dastehenden Holocaust-Opfern
in der Schweiz bessere Lebensqualitäten ermöglicht.
Anita Winter kämpft gegen das Vergessen. Vor einem Jahr gründete sie die
Stiftung Gamaraal, die Holocaust-Überlebende in der
Schweiz unterstützt. Sie leiden nicht nur unter ihrer
traumatischen Vergangenheit sondern sind im Alter
oft auch von bitterer Armut
betroffen.
Die Frau ist 83 und lebt bescheiden und zurückgezogen in einem Zürcher Vorort. Auf ihrem
Arm ist die Nummer 71978 eintätowiert. Diese Zahl ist so unauslöschbar wie die Erinnerungen an ihre grauenhafte Vergangenheit. Die Jahre im Konzentrationslager Auschwitz, in
denen sie täglich den Tod vor
Augen hatte, während sie unsäglichen Hunger litt, auf 25 kg abmagerte und als Hilfsarbeiterin
über die totale Erschöpfung hinaus krampfte. Nur ein Moment
der Schwäche und sie wäre in
der Gaskammer erstickt worden. Kein Tag wusste sie, ob sie
als nächste dran war. Die Seniorin gehört zu der diskreten Generation, die lieber über die Vergangenheit schweigen, als alles
– wie heute selbstverständlich –
in die Öffentlichkeit hinauszutragen. Sie leidet still, kein Wort
kommt gegenüber den Nachbarn über ihre Lippen trotz der
ständigen Angstzustände und
Albträume, die sie plagen. Und
Bild: zVg
Anita Winter leistet mit ihrer Stiftung Gamaraal direkte Hilfe an HolocaustOpfer, die in ärmlichen Verhältnissen leben
so versank sie fast in der Anonymität. Wenn da nicht Anita
Winter mit ihrer Stiftung Gamaraal gewesen wäre. «Einer
der grössten Versäumnisse, die
wir seit der Gründung des Staates Israel 1948 gemacht haben,
ist, dass wir nicht realisiert ha-
ben, wie traumatisiert Überlebende des Genozids sind» vertraute ihr der dortige Sozialminister Itzhak Herzog anlässlich
eines Mittagessens an. Seine
Worte waren für sie der Auslöser, um zu handeln und ihre
Stiftung zu gründen, die notlei-
Hilfe für gequälte Menschen
«Viele, die jahrelang auf der
Flucht oder im KZ waren, untertauchen und mit falscher Identität leben mussten, verschweigen ihre Geschichte – oft sogar der eigenen Familie gegenüber», sagt Anita Winter und
fügt hinzu, «so bizarr es auch
klingen mag, aber Personen, die
den Genozid am eigenen Leibe
erlebt haben, fürchten, dass er
sich eines Tages wiederholen
könnte und ein rechtsextremer
Diktator wie Hitler wieder an die
Macht kommt.» Für die sensible
Geschäftsfrau war es schwierig, die in der Schweiz wohnenden Nachkriegs-Opfer ausfindig zu machen, als sie 2014
die Stiftung Gamaraal in Zürich aus der Taufe hob. Aber die
Tochter von Eltern, die den Holocaust überlebt haben, erwies
sich als zielstrebig. Und richtete
ihr ganzes Engagement darauf
aus, das Leid von Betroffenen,
die heute mitten in der Schweiz
unter Armut leiden, mit direkten finanziellen Zuwendungen
zu lindern.
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AKTUELLES / KOLUMNE
DONNERSTAG, 4. FEBRUAR 2016
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FORTSETZUNG FRONT
Moment mal ...
«Ich will denjenigen, die in jungen Jahren unsägliche Qualen
erfahren mussten, zumindest
im Alter einen würdigen Lebensherbst ermöglichen», meint
sie entschlossen und man spürt
in jedem Wort ihr Mitgefühl und
den ungeheuren Willen, den
vom Schicksal geprägten Menschen vor ihrem Tod den Respekt und die Anteilnahme zu
zollen, die ihnen gebührt.
Direkt und unkompliziert
Im Gegensatz zu anderen Benefiz-Projekten drängen sich
bei der Stiftung Gamaraal
keine Bittsteller auf. Anita Winter macht dank der engen Zusammenarbeit mit der Claims
Conference und dem Verband
Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen hierzulande lebende Holocaust-Opfer ausfindig, die
nicht nur von der Vergangenheit traumatisiert sondern auch
in finanziellen Nöten sind. Sie
sind zwischen 75 und 94 Jahre
alt. «Wenn wir ihr Leben noch
verbessern wollen, muss es jetzt
und sofort sein – für sie zählt
jeder Tag», betont sie. Deshalb
geschieht die Hilfeleistung auch
sehr direkt. Dreimal im Jahr, an
jüdischen Feiertagen, werden
Geldsummen an die Adressaten verteilt, damit sie Arztrechnungen und andere Lebensnotwendigkeiten begleichen können. Die Namen der Empfänger bleiben unter Verschluss.
Alles geht sehr diskret vonstatten. Die Reaktionen auf die Zuwendungen berühren tief. Winter dazu: «Eine Dame schreibt,
dass sie sich dank dem Zusatz endlich ein Hörgerät leis-
Who the fuck
is Hofer?...
HHH
Bild: zVg
Lebenslange Erinnerung an die Gräueltaten: Die eintätowierte HäftlingsNummer
ten konnte. Aber viele sind auch
einfach froh, dass man sie nicht
vergessen hat. Die Geste ist für
sie wichtiger als das Geld.» Der
Response auf den Artikel einer
Holocaust-Überlebenden im Tages-Anzeiger, die sich dank der
Stiftung Gamaraal überwand
und ihre schreckliche Vergangenheit preisgab, war enorm.
«Auch viele junge Leute, welche
die Judenverfolgung nur aus der
Geschichte kennen, zeigten sich
sehr betroffen», erzählt Winter.
Unterstützt wird das Projekt von
Stiftungen, Banken, Privatpersonen – vor allem auch denjenigen, die den Holocaust überlebten und heute finanziell gut situiert sind.
ren Leidensweg geäussert haben. Sie schrieben ihre Biographien auf und verwahren sie bei
ihr. «Alle wünschen sich, dass
die unglaubliche Geschichte
der Judenverfolgung nicht vergessen geht, und dass man auch
in der Zukunft und wenn es unglaublich klingt, weiss, dass
ihre schrecklichen Erinnerungen nicht absurde Fantasien
entspringen sondern real stattfanden und von Menschen gemacht sind», erläutert die Gamaraal-Präsidentin und ihre
Stimme zittert vor Emotionalität und gleichzeitiger Entschlossenheit, dem Grauen die Stirn
zu bieten.
Gegen das Vergessen
Dank ihrer einfühlsamen Art
hat sich Anita Winter das Vertrauen vieler Persönlichkeiten
erworben, die sich ihr ganzes
Leben lang noch nie über ih-
Weitere Infos zur
Stiftung Gamaraal auf
www.gamaraal.org
Kennen Sie Polo Hofer? Selbstverständlich, werden Sie jetzt
sagen, was für eine blöde
Frage. Er hat uns mit unzähligen Songs wie «Kiosk», «Alperose» oder «Giggerig» die
letzten 40 Jahre entzückt. Der
Mann ist ein nationales Kulturgut. Und jetzt ist Polo National sogar noch zum Schweizer des Jahres gewählt worden.
Was für ein Geschenk.
Fragt sich bloss für wen? Für
Hofer ganz sicher nicht, denn
der Berner Mundart-Rocker
bezeichnete den Award bei
der Verleihung als «Staubfänger». Damit gehe er wohl in
die Geschichte ein, meinte er,
was ihm jedoch «scheiss egal»
sei, liess er die Nation ebenfalls wissen. Also, bleibt nur
die zweite Variante, dass Polo
Hofer als Schweizer des Jahres
ein ganz besonderes Geschenk
für Herr und Frau Schweizer
ist.
Ursula Burgherr
«Danke schön», sage ich da
nur und frage mich, wer da
wohl alles für diesen Herrn gestimmt hat? Ich habe weder
die Sendung gesehen, noch
für Hofer gestimmt. Hätte ich
aber zugesehen, dann hätte
man mich nur mit einer vorgehaltenen Waffe dazu bringen
können, für Polo zu stimmen.
Natürlich sind solche Abstimmungen, bei denen «Kreti und
Pleti» mitwirken, nicht ganz
ernst zu nehmen, aber ernst
nehmen sollte man zumindest
den auserkorenen Schweizer
des Jahres können.
Kann ich aber nicht und noch
viel weniger, das an diesem
Abend zahlreich vor dem Bildschirm versammelte TV-Publikum. Welchen Massstab für die
Wahl zum Schweizer des Jahres legt denn dieses Publikum
an, notabene eine stattliche
Anzahl erwachsener, mündiger, urteilsfähiger, intelligenter, gestandener, gebildeter,
interessierter, schlauer und
lebenserfahrener Personen?
Hätte man diese Personen eine
Woche vor der Wahl gefragt,
ob sie sich vorstellen könnten, dass jemand zum Schweizer des Jahres gewählt, wird,
der sich praktisch bei jedem
öffentlichen Auftritt in vulgärer Gassensprache auszudrücken pflegt, stets bekifft oder
angetrunken in die Kamera
blickt und dabei immer einen
oberklugen Ratschlag zur Ret-
tung der Menschheit parat hat
(aber sich selbst noch nie politisch engagiert hat), diese Person hätte ungefähr so gut abgeschnitten wie die jeweiligen
Schweizer Vertreter am Eurovision Song Contest – zero
points…
Der Kandidat Hofer aber hat
hundert Punkte erzielt. Ich
aber frage mich: «Who the
fuck is Hofer?» Was hat der
Mann zum Image der Schweiz
beigetragen, welchen bleibenden Wert für dieses Land geschaffen, hat er sich über die
Landesgrenzen hinaus verdient gemacht oder das Ansehen der Schweiz in der übrigen Welt positiv beeinflusst?
Ich muss das schlicht und einfach verpasst haben. Mir sind
nämlich nur ein paar gängige
Songs von ihm in den Ohren
hängen geblieben und hin und
wieder habe ich ihn auch optisch, dabei aber mehrheitlich
als peinliche Erscheinung, zur
Kenntnis genommen.
Vielleicht liegt es aber gar
nicht «am Hofer», sondern am
TV-Publikum, das mir mittlerweile gar nicht mehr so erwachsen, mündig, urteilsfähig, intelligent, gestanden, gebildet, interessiert, schlau und
lebenserfahren erscheint. Deshalb schlage ich vor, dass bei
der nächsten Award-Vergabe
nur noch abstimmen kann,
wer nicht bevormundet ist, einen Alkoholtest mit null Promille vorweisen kann, über
keinen Eintrag im Strafregister verfügt, einen negativen Drogentest vorlegen kann,
keine aktuellen Betreibungen
laufen und keine Steuerschulden hat, die Bilag-Gebühren
bezahlt, noch nie Fremdgegangen ist und sich regelmässig an
den nationalen Abstimmungen beteiligt. Damit hätten wir
dann zweifellos Gewähr, dass
das Schweizer Volk nächstes
Jahr nicht noch auf die Idee
kommt, Carlos zum Schweizer
des Jahres zu wählen…
Walter Ryser
Redaktioneller Mitarbeiter
HHH