Liedpredigt über Gerhard Tersteegen

Liedpredigt über: "Gott ist gegenwärtig" von Gerhard Tersteegen
Eberlein
Gott ist gegenwärtig, Gott ist in der Mitte - das ist die Voraussetzung für einen Gottesdienst: für jeden
Gottesdienst, der seinen Namen verdient. Wäre Gott nicht gegenwärtig, träfen wir uns zu einer geselligen
Stunde oder aus Tradition, weil wir es gewohnt sind, oder um unseren neuen Mantel bewundern zu lassen.
Früher einmal waren Gottesdienste für junge Leute auch Orte zum Kennenlernen und Anbändeln - die Zeiten
sind vorbei und der Altersdurchschnitt darob deutlich gestiegen. Ich finde es gut, dass derartige Motivationen,
die einen Gottesdienst nicht ernstnehmen, niemanden mehr in die Kirche treiben. Und ich finde es schlecht, dass
wir, um unsere Kirchen wieder voll zu kriegen, genau diese falschen Motivationen neu zu stärken versuchen:
indem wir vorgaukeln, Gottesdienste seien nette Unterhaltungsveranstaltungen, Angebote der Gemeinde zur
Freizeitbeschäftigung in Konkurrenz zur Vernissage oder zum Fußball. Allein schon darin liegt eine völlig
verkehrte, vermessene Haltung, liegt Sünde, dass wir einladen, dass wir freundlich begrüßen, als seien wir die
Gastgeber - wo wir uns doch scheuen müssten vor jedem Gottesdienst, wo wir in Panik geraten müssten, geht es
doch um Tod und Leben, unseren Tod und unser Leben.
Denn Gott ist gegenwärtig, Gott ist in der Mitte, dem die Cherubinen Tag und Nacht gebücket dienen, dem zur
Ehre aller Engel hohe Chöre singen: Heilig, Heilig, heilig! Wissen wir, was es bedeutet, dass er gegenwärtig ist?
Jesaja, an den Tersteegen hier denkt, beschreibt die Majestät Gottes auf seinem Thron mit den Seraphim und
dem Rauch, der alles erfüllt und wird sich voller Schrecken seiner Unreinheit, seiner Geschöpflichkeit bewusst.
Das Geschöpf, jedes Geschöpf muss sterben, muss vergehen, wenn es dem Schöpfer des Universums
unvermittelt gegenübersteht. Selbst Mose durfte Gott nicht sehen, um nicht zu verglühen. Darum werden Jesajas
Lippen gereinigt mit glühenden Kohlen, damit er den Anblick Gottes erträgt. Spüren wir sie, die glühenden
Kohlen in unserem Mund? Spüren wir das Feuer? Spüren wir, das da mitten unter uns in dieser kleinen Kirche
am Stadtrand von Wuppertal der ist, der in diesem Moment Gammablitze schleudert und Myriaden von Galaxien
explodieren lässt? Es braucht nur einen Funken, eine kleinen Moment des Rückzugs der Gnade, und wir sind alle
des Todes. Wer das nicht spürt, weiß nicht, worauf er sich einlässt, wenn er oder sie einen Gottesdienst besucht.
Gott ist gegenwärtig, dem die Cherubinen Tag und Nacht gebücket dienen.
Da können wir nicht anders als anbeten und in Ehrfurcht vor ihn treten, schweigen und uns innigst vor ihm
beugen, die Augen niederschlagen und uns ergeben. Da können wir nicht anders als willig allen Eitelkeiten
entsagen und aller Erdenlust und Freuden. Da können wir nicht anders, als unsren Willen, Seele, Leib und Leben
ihm zum Eigentume geben. Man hat vorgeschlagen, die dritte Strophe aus dem Gesangbuch zu streichen, weil sie
unzumutbar sei. Schlechthin unzumutbar sei es, von modernen Menschen zu verlangen, sie sollten aller Lust und
allen Freuden entsagen und Leib und Leben hingeben. Jawohl, es ist unzumutbar! Gott ist unzumutbar! Die
solche Streichung vorschlagen, kennen den Gottesschrecken nicht, von dem die Bibel spricht, kennen Gott nicht,
nennen nicht ihn. Sie reden von einem anderen: von einem zahnlosen Alten, von einem Gedankengespinst, das
dabei hilft, unsere innere Welt zusammenzuhalten, die immer wieder auseinanderzubrechen droht in Moral und
Geschäft, privat und öffentlich, gut gewollt und schlecht gemacht. Am allermeisten reden wir von einem Popanz,
den die Kirche braucht, um sich wichtig zu machen.
Nein: Dieses Gefühl gehört hinein, dieses Bewusstsein ist elementar: dass wir nichts sind und er alles, dass
nichts bleibt von uns, aber auch gar nichts, wo er ist. Dass wir vernichtet sind in ihm. Die Negation des Ich steht
am Anfang des Weges mit Gott.
Ich bin nichts, Gott ist alles: Luft, die alles füllet, aller Dinge Grund und Leben. Man kann sich philosophisch
berauschen an diesem alles. Gott ist alles, darin wir schweben: Gott ist die Knospe, die in diesen Tage aufgeht,
der Regen, der uns benetzt, der Donner des Gewitters und die singende Zikade. Gott ist das Meer ohn Grund und
Ende, Gott ist Sonne, Mond und Sterne, das ganze Universum. Gott bist du und bin ich, Gott ist die ganze
Menschheit, Gott ist alles, was wir tun. Gott und Welt sind eins. Dieser philosophische Rausch hat die deutsche
Kultur in ihrer klassischen Epoche maßgeblich bestimmt - Goethe hat in diese Richtung gedacht und Hegel hat
die ganze Weltgeschichte aus dieser Einheit heraus konstruiert. Wer ihn nicht einmal selbst gespürt hat, selbst
trunken war von diesem Rausch, wer sich ängstlich zurückzieht hinter die Mauern kirchlicher Verbote, wie das
zur Zeit Goethes fromme Christen getan haben, dem wird die Schönheit dieses Gedankens immer verschlossen
bleiben.
Gott ist alles, aller Dinge Grund und Leben. Man kann es auch anders ausdrücken, etwas vorsichtiger, damit
noch eine Distanz bleibt zwischen Welt und Gott: Gott ist in der Knospe, im Regen, im Donner, im Universum,
in mir und der Menschheit - aber er geht darin nicht auf. Du durchdringest alles. Das Universum, die ganze Welt
ist in Gott, aber er ist größer als sie. Gott ist nicht ein Gegenüber zur Welt, aber auch nicht mit ihr identisch. Die
ganze Geschichte des Universums ist Teil Gottes - und Gott hat sich hineinbegeben in einen universalen Prozess.
(Auch hierfür stehen Namen: Herder und die nordamerikanische Prozesstheologie.) Christus ist in diesem
Prozess eine Stufe neben anderen.
Viele Freunde Tersteegens versuchen, den frommen Pietisten weit weg von solchen Gedanken zu sehen. Sie
weisen auf den Blutbrief hin, durch den er sich Christus überschrieben hat. Sie zitieren sein späteres
Glaubensbekenntnis, das Christus und sein Opfer explizit erwähnt: Mein Sinn und Religion ist dies, daß ich als
ein durch Christi Blut mit Gott Versöhnter mich im täglichen Sterben, Leiden und Beten durch den Geist Gottes
herausführen lasse aus mir selbst und allem Geschaffenen, um ganz Gott allein zu leben, in Christo Jesu. Mit
allen, die unter allerlei Volk also gesinnt sind, habe ich einerlei Religion. (Wobei die selbsternannten Ehrenretter
Tersteegens in der Regel übersehen, dass dieser etwas überladene Satz deutlich flüssiger und geschmeidiger
klänge ohne die Hinweise auf Christus und genauso verständlich wäre.) Ehrenrettung hin oder her und
Tersteegens Rechtgläubigkeit bar jeden Zweifels: In diesem Lied werden Jesus Christus und der Heilige Geist
nicht genannt, müssen offenbar nicht genannt werden. Gönnen wir uns doch einen Moment, mindestens einen
Moment lang die Vorstellung, dass christliche Frömmigkeit an den Rand dessen geraten kann, was kirchlicher
Lehre zu sagen erlaubt ist. Welch herrliche Freiheit der Kinder Gottes - dass wir uns in unserem Glauben, in
unserem Gefühl und auch nicht in unserem Denken Fesseln lassen müssen durch das Du darfst! oder das Du
darfst nicht! beamteter Glaubenspolizisten!
Ich bin nichts, Gott ist alles - in mir! Das ist das Wunderbare, das Unbegreifliche, das Unaussprechliche: Alles
passt ins Nichts, der Schöpfer des Universums in sein Geschöpf - und es lebt, es darf leben! Ich in dir, du in mir,
lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden. Spüren Sie die gedankliche Unschärfe? Nur wo Ich und
Du sind, kann man einander sehn und finden. Wo das Ich im Du verschwunden ist, gibt es kein Ich mehr. Ist nun
Gott unser Gegenüber, oder sind wir Teil von ihm oder er Teil von uns? Lieder und Gedichte sind nicht
eindeutig, wie dogmatische Lehrbücher es sein müssen. Poetische Sprache lebt von der Mehrdeutigkeit. Darum
ist die Bibel eben kein dogmatisches Lehrbuch, sondern Poesie. Wir können in ihr keine Wahrheit finden - nur
unsere eigene. Darum ist es egal, ob Tersteegen Mystiker war oder nicht und ob Mystik überhaupt mit
reformatorischem Denken vereinbar ist. Ich in dir, du in mir: Das mag alles andere sein als richtig. Es ist schön.
Vom Höhepunkt der Einheits-Innigkeit führt der Weg wieder hinab in alltägliche Gefilde, in die terrestrische
Poesie einer Blumenwiese: Lass dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte. Wie die zarten Blumen
willig sich entfalten und der Sonne stille halten, lass mich so, still und froh ... Naturlyrik war nie die Stärke des
Protestantismus. Die Natur war ihm oft allein Gegenstand der Plage oder der Arbeit. Etwas, das es zu verändern
galt. Tersteegen ist ein Meister der Naturwahrnehmung. Sein wichtigstes Buch - aus dem auch unser Lied
stammt - heißt Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen. Da wusste einer noch, dass Seelenfriede nicht ohne
Naturfrieden sein kann und Friede mit der Natur nicht ohne Frieden in der Seele.
Du durchdringest alles. Alles weitere folgt aus dieser Erfahrung. Sein Lied übertitelt Tersteegen: Erinnerung der
herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes - es ist reinste Erfahrungs-Theologie. Lauter Erfahrungs-Sachen das in der Tat versteht er unter Theologie. Von Gott reden kann nur der, der Erfahrungen mit Gott gemacht hat.
Wer seine Rede von Gott nur aus heiligen Schriften schöpft, wühlt in den Ruinen der Erfahrung anderer.
Lebendiges Wasser schöpft man nicht aus abgestandenem Tümpel, sondern aus sprudelnder Quelle. Die Relikte
der Gotteserfahrung anderer können nur anregen, Wege zeigen, vor Irrwegen warnen - so wie ich das jetzt
mithilfe von Tersteegens Lied versuche. Aber Tersteegens Erfahrungen sind nicht unsere. Unsere Erfahrungen
müssen wir schon selbst machen.
Lass ..., mache mich ..., komm ... Wir können nur beten. Unsere Frömmigkeit, unsere Einfalt, unseren inneren
Frieden, unsere Gottesschau, unsere Einwohnung in Gott und die Einwohnung Gottes in uns - eine
Lieblingsmetapher Tersteegens - geht nie von uns aus, kommt nie aus unserem Entschluss, aus unserem Anstoß,
aus unserem Willen. Es gibt einen mystischen Weg, aber es gibt keine mystische Methode. Wir können uns auf
den Weg machen, wir sollen uns auf den Weg machen - aber wir können nicht sicher sein, dass eintritt, was wir
uns erwarten. Tersteegen hat den Freunden in der Pilgerhütte Otterbeck Anweisungen gegeben zu schweigen,
Streit aus dem Weg zu gehen, aufmerksam einfache Dinge zu tun. Das sind gute Ratschläge. Aber dass sie zum
Ziele führen, steht nicht in unserer Macht. Wer je bei leiser Musik auf einer Decke liegend, statt sich seines
Körpers bewusster zu werden, eingeschlafen ist, weiß das. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen.
Ich ... mein ...mich ... mir ... Erfahrungen mit Gott macht der Einzelne. Es braucht keine Kirche. Tersteegen hat
die Kirche nicht bekämpft - dafür war sie ihm viel zu unwichtig. Er hat sie ignoriert. Seine Lieder sind recht spät
aus Privatgesangbüchern in die offiziellen Kirchengesangbücher gewandert. Kernige Kirchenmänner und
Kirchenfrauen waren diesem frommen Bandwirker in Mülheim gegenüber immer misstrauisch - mit Recht. Doch
seine Lieder haben sich durchgesetzt, weil sie etwas Elementares spiegeln, was jeder einzelne von uns erleben
kann. Weil diesem Menschen vergönnt war, was wenige konnten: ihre Erfahrung in Poesie gießen, in singbare
Poesie sogar, dass diese Poesie unser Herz aufschließe für - nein nicht für Tersteegens Erfahrungen, sondern für
unsere eigenen. Dass ich leer werde, auf dass er Wohnung fände in mir. Ich in Dir, du in mir.
Wir reden in der Kirche viel zu viel von der Kirche und viel zu wenig von Gott. Wir reden viel zu viel von der
Gemeinde, als habe sie etwas zu tun - dabei haben wir nur zu empfangen. Eine Gemeinde, eine Kirche, die stark
und selbstbewusst auftreten will und sich in Szene setzt, ist vom Teufel. Nur eine schwache Kirche lässt Raum
für Gottes Stärke. Es geht in der Kirche nicht um die Kirche. Es geht in der Gemeinde nicht um die Gemeinde,
schon gar nicht die Gemeinde der Kirchensteuerzahler. Wir laden zu nichts ein. Wir dürfen Erfahrungen
austauschen, Erinnerungen der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes, mehr nicht: Gott ist gegenwärtig,
alles in uns schweige. Wer ihn kennt, schlag die Augen nieder; kommt, ergebt euch wieder!
Ich habe Ihnen heute nichts erzählt über Tersteegen, über die Abfassungsverhältnisse dieses Liedes, seinen
Aufbau aus barocken Pokalstrophen, die Geheimnisse der Melodie. All das können Sie nachlesen. Die Sache, um
die es geht, ist wichtiger.