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1 Homo avarus – der gierige Mensch
Ohne Gier gäbe es unsere Kultur nicht, wie sie heute ist. Da
Gier eine starke motivationale Kraft besitzt, hat sie die Entwicklung der Menschheit beschleunigt – in eine bestimmte,
materielle Richtung. Die der Gier zugrunde liegenden neurobiologischen Vorgänge (▶ S. 144) ermöglichen Langzeitplanungen und Durchhaltevermögen. Wir können der Gier
dankbar sein. Es kommt jedoch immer auf das Maß an, in
dem wir ihr gestatten in uns und anderen zu wirken. Mitscherlich (in Moser, B14) beschrieb letztlich die Auswirkung der Gier als „Entgrenzung der Maßstäbe“. In weniger
soziologischem Deutsch: Maß halten war gestern. Denn so
wie eine Prise Salz ein fades Essen erheblich leckerer macht,
ist ein Pfund Salz tödlich. Es gibt zahlreiche Hinweise da­
rauf, dass Gier inzwischen tonnenweise verteilt wird.
Historie
Gier ist eine der „alten“ sieben Todsünden (B6). Das Wort
geht auf das mittelhochdeutsche Wort gir und auf das alt­
hochdeutsche Wort giri zurück. Es bedeutete ursprünglich
begierig und entstammt einer Zusammenfassung von verlangen bzw. haben wollen und gähnen bzw. den Mund aufsperren. Diese Ursprungsbedeutung bezieht sich auf das
Vereinnahmende der Gier. Der Ausdruck Geiz geht auf das
Mittelhochdeutsche gitesen zurück, was begehren bedeutet, und auf das Althochdeutsche git, was Gier und Habsucht meint. Geiz hat damit vom Ursprung her mit Begehren und Verlangen zu tun, eine noch ältere Bedeutung wird
als Ehrgeiz beschrieben. So entwickelte sich dieses Wort
ursprünglich von der Geldgier und dem Verlangen nach
Reichtum hin zu übertriebener Sparsamkeit. Übrigens
stammt das Wort Geld nicht etwa von Gold ab, sondern
von gilt, was Schuld bedeutet.
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Bergner: Die gierige Gesellschaft. ISBN: 978-3-7945-3152-3. © Schattauer GmbH
Definition
Gier bedeutet: unbedingt immer mehr. In Gier versteckt sich
eine Art Zwang (unbedingt), sie versucht den Einfluss der
Zeit zu nutzen oder zu umgehen (immer) und negiert damit
die eigene Endlichkeit, drittens strebt sie nach Menge (mehr).
Es geht ums unbedingte Haben, ums Bekommen, ums Besitzen, ums An-sich-Raffen. Wer gierig ist, nimmt sich etwas,
das ihm nicht einfach so gegeben wird oder sogar nicht zusteht. Gier bedeutet auch eine kompromisslose Bereicherung. Da sie sich oft verschleiert und verbirgt, wird ihre
Kompromisslosigkeit bei Weitem nicht immer offenkundig.
Gier kennt grundsätzlich nur eine Richtung: nach vorn
zur Zukunft hin. Selbst wenn wir etwas nicht bekommen
haben, gieren wir nicht nach hinten, sondern nach vorne.
Dann wollen wir es halt bald besitzen.
Statt das Leben auf sein Inneres zu beziehen, wird der
Blick auf den nach außen orientierten Anteil unserer Persönlichkeit gerichtet. Meistens bleibt es nicht dabei, das
wäre ja schlichter Narzissmus, sondern die Orientierung
erfolgt noch weiter nach außen, zu anderen und anderem
hin – das Leben als Showveranstaltung.
Gier hat einen Hinwendungsanteil, der sich offenkundig etwas aneignen will. Dies ist ein wichtiger Bestandteil
unseres Lebenstriebs. Gier hat aber auch einen Vermeidungsanteil. Dieser entspricht dem verborgenen Ziel, den
eigenen Tod zu vermeiden oder vergessen zu machen. Denn
Gier lenkt ab.
Zum Überleben gehört, sich mit Nahrung zu versorgen.
Deswegen dürfte die erste Gier im Rahmen der Menschwerdung sich in diesem Zusammenhang entwickelt haben.
Die Essgier ist vermutlich die am stärksten archaische Form
der Gier. Wenn wir sie betrachten, fühlen wir das Wesen
der Gier selbst. Wohl jeder hat schon einmal extremen
Hunger gehabt. Wenn wir uns in eine solche Situation hineinversetzen, können wir verstehen, wie stark der Drang
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Bergner: Die gierige Gesellschaft. ISBN: 978-3-7945-3152-3. © Schattauer GmbH
ist, den eine Gier auslöst. Nicht nur, dass wir die Wände
ankratzen könnten – der Heißhunger und die dadurch ausgelöste Gier nehmen immer mehr Raum in uns ein und wir
können uns auf nahezu nichts anderes mehr konzentrieren
als auf Essensbeschaffung. Natürlich hat Hungern starke
körperliche Auswirkungen. Das ist bei Habgier sehr viel
weniger der Fall. Trotzdem steuert Gier unser Verhalten
stark, erst recht, wenn wir sie (wie meistens bei Habgier)
nicht bewusst wahrnehmen. Was uns nicht bewusst ist, entzieht sich der Steuerung durch unseren Willen.
Im heutigen Alltag bezieht sich Gier fast nie auf eine
objektive Not oder Lebensnotwendigkeit, sondern auf ein
inneres, ausschließlich subjektiv vorhandenes und empfundenes Verlangen. Jeder Mensch, der einen Tag lang nichts
zu essen hatte, wird unleidlich (und die meisten bereits
nach vier Stunden). Aber bei Weitem nicht jeder ist willens,
Mitmenschlichkeit und grundsätzlich zu erwartende Werte
aufzugeben, um immer mehr zu erlangen. „Ich habe mehr,
als ich tatsächlich brauche“ – das ist kein Satz, der einem
Gierigen zumindest während der Phase seines Raffens in
den Sinn käme.
Gier und Geiz sind Gefühle. Gefühle werden in recht
wenige, übergeordnete Gruppen unterteilt: Angst, Wut,
Traurigkeit, Verachtung, Ekel, Überraschung, Neugier,
Scham, Schuld sowie Liebe, Glück und Freude (B2). Gier
und Geiz gehören zu einer dieser Gruppen, nämlich der
Verachtung. Verachtung dient uns dazu, gegen unsere
Urängste, vorrangig vor dem Tod und vor dem Verlassenwerden, anzugehen (B2). Verachtung schützt also erst einmal unser Leben. Diese wirkliche Bedeutung schlägt sich in
der üblichen Heftigkeit der Gier und des Geizes nieder.
Aber beide bringen uns unseren Zielgefühlen Liebe, Glück
und Freude nicht wahrhaftig näher. Da wir Menschen dazu
neigen, immer die gleichen Dinge zu tun in der Hoffnung,
es käme doch mal zu einem anderen Ergebnis, wenn wir es
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