Wie richtig aufarbeiten? - DDR

Wie richtig aufarbeiten?
Herausforderungen an die
Aufarbeitung im Umgang mit den
Betroffenen
Prof. Dr. Peter Schruth
18./19.10.2013
Ein Vorbehalt:
Es muss Enttäuschung geben......
• Grundlage aller Möglichkeiten der Beteiligung
von Betroffenen einer Opfergruppe an
Prozessen gesellschaftlicher Aufarbeitung ist das
Verhältnis der Betroffenen zur eigenen
Heimbiographie, zur eigenen Leidensgeschichte.
• Trotz Runder Tische, trotz Fondsleistungen an
Betroffene: Der Gewaltaspekt bleibt, lässt sich
nicht harmonisieren.
Egal, wie groß das gesellschaftliche
„Entgegenkommen“ von Staat und Kirchen ist
und sein wird, für ehemalige Heimkinder muss
es „Enttäuschung“ geben, weil ihre seelische
Verletzung und Missachtung nicht zu tilgen sind.
Fragestellungen
• Was hat das öffentliche Sprechen ehemaliger
Heimkinder, was hat ihre Beteiligung am
gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozess befördert
bzw. gehemmt, behindert oder gar blockiert?
• Was hat diese Opfergruppe so spät wieder öffentlich
aktuell gemacht? Gibt es eine besondere
Wirksamkeit eines „zivilgesellschaftlichen
Agendasettings“ für Opfergruppen?
• Welche Anforderungen sind an die unterstützenden
Dritten in der Interessensvertretung zu stellen?
Zivilgesellschaftliches Agendasetting
Ausgangspunkt:
Aus eigenen Kräften haben es die Betroffenen im Anfangsprozess
der Skandalisierung der ehemaligen Heimerziehungsgeschichte
nicht geschafft, auf die gesellschaftliche Agenda öffentlicher
politischer Befassung zu kommen.
Deshalb die Annahme:
Es braucht andere gesellschaftliche Kräfte,
es braucht zivilgesellschaftliches Agendasetting.
Begriff: Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaft =
- Schutzfunktion gegenüber Bedrohungen
der Rationalität,
- der individuellen Freiheit und
- eines unkritischen Gehorsam gegenüber
einen sich verselbständigenden
Staatsapparat
• Zivilgesellschaftliches Engagement formiert
sich bei rechtsstaatlichen Defiziten, bei
„unzivilen“ Zuständen
• Wird durch Empörung wirksam, gelangt in die
Öffentlichkeit und unter Umständen in den
engen Korridor der Themen des politischen
Systems (Schwelle: „Autismus des politischen
Systems“ lt. Habermas)
• Eigenschaften von Zivilgesellschaft bilden sich:
kritisch, rational, mitunter oppositionell
Begriff: Agendasetting
• Agendasetting = Themensetz-Prozess
• Das Thema früherer Heimerziehung in der
BRD ist erst über die mediale Skandalisierung
auf die öffentliche Agenda gekommen.
• Einzelne Betroffene haben sich durch mediale
Unterstützung angesprochen und ermutigt
gefühlt, sich öffentlich zu äußern, Petitionen
an den Bundestag zu schreiben.
Es treten Dritte hinzu
Es treten zivilgesellschaftlich Dritte/Experten mit
ihrem kulturellen, sozialen und ökonomischen
Kapital hinzu, die den Betroffenen der
Opfergruppe wegen deren eingeschränkter
gesellschaftlichen Diskursfähigkeit kompensativ
„Übersetzungshilfe“ in Bezug auf das politische
System geben.
• Gewicht im Sinne politisch relevanter
Verstetigung haben diese zivilgesellschaftlich
verstärkten Stimmen der ehemaligen
Heimkinder erst bekommen, als es durch ein
besonderes Petitionsverfahren des Bundestages
gelang, den „Autismus des politischen Systems“
(Habermas) zu durchbrechen.
• Hierdurch wird das politische System in seinem
Autismus gestört, die zivilgesellschaftliche
Aktivierung für das Thema greift, allerdings
offen im Ausgang.
Prozesshafte Mandatierung
und beschleunigte Beteiligungen
• Im Rahmen einer prozesshaften Mandatierung
der Betroffenenvertretung ist deren Gelingen
wesentlich von dem Gelingen der
Auseinandersetzung mit der eigenen
Opferbiographie abhängig.
• Im beschleunigten öffentlichen
Aufarbeitungsprozess gibt es diese Zeit für die
Betroffenen nicht – und das hat Folgen auf
allen Seiten für die Aufarbeitungen selbst.
Fehlende gemeinsame Sprache
Alles Relativierende verletzt ehemalige
Heimkinder, weil sich darin eine fehlende
Anerkennung ihrer persönlichen Geschichte
ausdrückt. Dies führt dazu, dass es keine
Vermittlung in der Sache über diese Verletzungen
hinweg gibt.
Verstärkt wird dieser Prozess durch das
reaktivierende Gefühl der Bevormundung: Die
haben wieder das Sagen, geben vor - und dies
entzieht Verständigung den Boden.
Anforderungen an Dritte
Advokatorische Ethik nach M. Brumlik:
• Bindung an die unterstellte Zustimmung der
Betroffenen, denn ethisch ausgewiesen sei
solches advokatorisches Handeln nur, wenn
ihr auch seitens der Betroffenen hätte
zugestimmt werden können.
• Ethischen Selbtvergewisserung, dass die
Betroffenen das eigene Handeln gewollt
hätten.
• Wenigstens im Nachhinein um Zustimmung
der Betroffenen zum advokatorischen Handeln
bemühen,
• Mandatierung nicht auf Dauer:
Stets müsse Ziel sein die Rücksicht auf die
Selbstachtung und Integrität der Betroffenen
sowie
die Befähigung der Betroffenen, wieder selbst
ihre Interessen in die eigen Hände zu nehmen
(Auflösung partieller Unmündigkeiten)
Übertragung auf Stellvertretungen
• Keine Stellvertretungen Dritter ohne Rückhalt
eines maßgeblichen teils der Betroffenen.
• Die advokatorische Ethik ist im Schwarz-WeißDenken verhaftet.
• Den Prozess der Mandatierung beachten
• Therapeutische Aufarbeitungsbedarfe können
nicht Teil der Sacharbeit der
Betroffenenbeteiligungen sein.
• Dritte sollten nie einzeln und ohne
Reflexionshilfen agieren.
• Dritte sind aufgefordert, ihre begrenzten
Mandate ständig zu überprüfen.
Abschließende Bemerkungen
• Der Aufarbeitungsprozess diente mehr der
öffentlichen Debatte als selbstreferenzielle
Vergewisserung der Geltung von
Grundrechten, von Kinderrechten, von
gewolltem Kinderschutz.
• Damit diente der Aufarbeitungsprozess
weniger der Genugtuung gegenüber der
Opfergruppe ehemaliger Heimkinder. Ich stelle
nun fest: Er konnte es auch nicht, selbst wenn
es gewollt war.
Wenn es deshalb eine Voraussetzung für die
heutige persönliche wie soziale Linderung
damaliger Verletzungen für ehemalige
Heimkinder gibt, dann sind es nicht Fonds und
Geld, sondern eine vorbehaltlose Anerkennung
des zugefügten Unrechts sowie Zeit und
Unterstützung, um die eigenen Erwartungen und
Ambivalenzen kennen zu lernen
– als Chance der Aussöhnung mit sich selbst.