Und doch hat jeder seine zwei

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„Und doch hat jeder seine zwei“
Das Dreihasenmotiv im Paderborner Dom: ein kultur- und
religionsgeschichtlich vieldeutiges Motiv wird kommentiert und interpretiert
durch eine Installation der Künstlerin Miriam Jonas im Kreuzgang des Doms
Rita Burrichter
Abb. 1: Installationsansicht Miriam Jonas „Und doch hat jeder seine zwei“, 2015 im Hohen Dom zu Paderborn, Kreuzgang rückseitig
des Dreihasenfensters (Foto: Jean-Sébastien Massicotte-Rousseau)
„Eigentlich wär’s doch schön, wenn die Hasen auch mal nach Paderborn kämen.“ Dieser Satz
fiel in einem Telefongespräch mit der Berliner Künstlerin Miriam Jonas, das ich mit ihr
anlässlich meiner Beschäftigung mit ihrer Arbeit „Run run run (Dreihasen)“ aus dem Jahr 2011
in einem religionspädagogische Fachbuch führte.1 Dass die Hasen dann nicht einfach nur nach
1
Rita Burrichter / Claudia Gärtner, Mit Bildern lernen. Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht, München
2014, 138-141. Die folgende Beschreibung des Kunstwerks geht auf diesen Text zurück.
2
Paderborn gekommen sind, wo sie schließlich eh schon jeden Kanaldeckel zieren, sondern dass
sie im Hohen Dom zu Paderborn im Kreuzgang hinter dem berühmten Hasenfenster selbst zu
sehen sind, dafür ist dem Dompropst Monsignore Joachim Göbel und dem ganzen Domkapitel
sehr herzlich zu danken, die den Hasen von Miriam Jonas Obdach gewährt haben.2 Und so
laufen sie nun dort: https://vimeo.com/147014634
Einige Hinweise zu Kunstwerk und Künstlerin
Miriam Jonas (geb. 1981 in Paderborn) absolvierte eine Ausbildung als Bühnenmalerin und
studierte Freie Kunst an der Kunstakademie Münster bei Katharina Fritsch, Ayşe Erkmen und
Maik und Dirk Löbbert. Ihre Skulpturen, Objekte und Installationen sind „Vorschläge“ zur
Nutzung von Räumen, von Einrichtungsgegenständen, von Geräten, die sehr gerne mal so tun,
als seien sie höchst nützlich und richtig wichtig. Doch schaut man näher hin, sind sie das nicht,
meist sind sie noch nicht einmal echt, sondern die Augen täuschende Nachbauten.3 Obwohl
nicht wirklich nützlich, obwohl im funktionalen Sinne nicht wirklich wichtig, sind sie dennoch
nicht unnütz oder unwichtig. Es sind – im besten Sinne – hintersinnige Ansinnen.
Meine Dortmunder Kollegin Claudia Gärtner hatte die nun auch im Paderborner Dom
ausgestellte Arbeit 2011 in Münster gesehen und sie mir für unser Buch zur Arbeit mit
Kunstwerken im Religionsunterricht vorgeschlagen. Das Objekt der Bildhauerin zeigt das
Dreihasenmotiv in grellem Magenta auf einer Trommel, die von innen beleuchtet ist und durch
einen Motor in Bewegung gesetzt wird. Die pinkfarbene Hasenfiguration auf dem rotierenden
Leuchtkörper verschwimmt bei zunehmender Geschwindigkeit in der Wahrnehmung zu einem
„Sägeblatt“, zu einem „Lollipop“, zu schließlich nach außen sich auflösenden, sich ergießenden
konzentrischen Kreisen. In Gang gesetzt wird die Trommel durch Bewegungsmelder. An ihrem
ursprünglichen Standort wurde sie in einem Glaspavillon in den Wiesen am Münsteraner Aasee
gezeigt. Dort hoppeln zahlreiche Kaninchen vor allem in den Abendstunden herum. Sie setzten
die Dreihasentrommel in Gang, denn die Bewegungsmelder waren in den Gebüschen auf ihrer
Höhe montiert. Spaziergängerinnen und Spaziergänger konnten sehen, dass da im Park etwas
geschieht, etwas in Gang gesetzt wird. Sie wurden angelockt durch das leuchtende Objekt, das
2
Darüber hinaus verdankt sich die Ausstellung „‘Und doch hat jeder seine zwei‘ Miriam Jonas im Hohen Dom zu
Paderborn. 05.11.-13.12.2015“ der Unterstützung durch Prof. Dr. Josef Meyer zu Schlochtern von der
Theologischen Fakultät, auf dessen große Erfahrung als Kurator moderner Kunst in sakralen Räumen
zurückgegriffen werden konnte. Besonders zu danken ist auch den tatkräftigen Herren der Domgilde und der
Haustechnik.
3
Zu Vita und Œuvre siehe: www.miriamjonas.de.
3
sich farbig von Wiesen und Gebüsch abhob. Und hatten dann die Aha-Erkenntnis, dass die
Hasen die Hasen zum Rotieren bringen, dass das Objekt ein interaktives Kunstwerk ist, in erster
Linie für Kaninchen, dann aber auch für den Besucher im nächtlichen Gebüsch.
Für die Bildhauerin Miriam Jonas ist das Motiv des „Anlockens“ eine zentrale Motivation ihres
Werks. Ihre Arbeiten, die mit Bedacht „schöne Kunst“ sind und auf dem schmalen Grat
zwischen angewandter und freier Kunst, zwischen Kunst und Design angesiedelt sind, sollen
die Betrachterinnen und Betrachter anlocken, in ein Arrangement verwickeln, in ein Interieur
einbinden, in eine Situation hineinziehen und sie auffordern, ihre eigene Bedeutung zu finden.
Die Künstlerin spielt mit der Möglichkeit unterschiedlicher Assoziationen und Deutungen, sie
riskiert dabei auch Missverständnisse, gewinnt aber in jedem Fall durch den einladenden und
auffordernden Charakter ihrer Arbeiten die persönlichen Bedeutungszuschreibungen der
Betrachterinnen und Betrachter, die nicht selten biographisch-existenzielle Konnotationen sind,
hinzu.
Die leuchtende Trommel mit dem Dreihasenmotiv, scheinbar aus dem Nichts, scheinbar
zufällig ins Rotieren gebracht, lockte also am Aasee abendliche SpaziergängerInnen und
NachtschwärmerInnen an, die sich dann selbst in der Hasenrolle, als bewegte Beweger des
leuchtenden Objekts wiederfanden. Die Installation „Dreihasen. Run, run, run“ verwickelte die
Betrachterinnen und Betrachter damit nicht nur spielerisch in die Frage, was denn da eigentlich
passiert, sondern vor allem auch in die Frage, warum es jetzt passiert. Die Antwort ist
verblüffend, auch amüsant: Die Hasen bringen die Hasen in Bewegung! Die Hasen bringen sich
selbst in Bewegung!
Nun steht die Arbeit hier im Kreuzgang des Doms hinter dem Hasenfenster und wird tagsüber
in Bewegung gesetzt von den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern des Doms, von denen
viele nicht so sehr auf der Suche nach spiritueller Labung, sondern auf der Suche nach dem
Hasenfenster sind. Und das sind wirklich viele und sie sausen immer schnell durch den
Kreuzgang und den Dom, um das Fenster zu finden, schauen hierhin und dorthin und sagen
dann, wenn sie’s gefunden haben, oft: „Och, das war’s schon?!“ Zu vermuten steht, dass die
Hasentrommel von Miriam Jonas bei diesem Auftrieb kaum zum Stillstand kommt. Diese
Hasen aber sind nicht so einfach, mal eben im Vorbeigehen zu haben. Wer diese Hasen wirklich
sehen will (und so ist es ja auch in Wirklichkeit mit den Hasen in der freien Natur), der muss
stehenbleiben und wirklich ganz stille werden und bleiben. Stehenbleiben – innehalten schauen: nicht die schlechteste spirituelle Übung!
4
Deutung und Bedeutung
Mit dem Standortwechsel des Kunstwerks von Miriam Jonas in den Kreuzgang hinter das
Hasenfenster ändert sich nicht einfach nur der Umraum; Kunstwerke sind keine Möbel, die hier
oder dort oder doch eher da mal mehr oder weniger gut aussehen. Mit dem Standortwechsel
ändert sich für jedes Kunstwerk der Kontext und damit nicht nur die Bedingungen seiner
Wahrnehmung, sondern es ändern sich auch die möglichen Deutungszugänge zum Werk. Die
Dreihasen von Miriam Jonas erscheinen jetzt sehr dezidiert nicht als Kunstobjekt mit
aufgebrachtem Symbol, das man kultur- und religionsgeschichtlich so oder so deuten kann und
keinesfalls festlegen sollte auf eine Bedeutung als Trinitätssymbol. Sondern sie erscheinen als
Rückseite, als Kehrseite des Hasenfensters im Umraum des Paderborner Doms, im Umraum
von Kirche. Können sie da etwas zum Ausdruck bringen, etwas „sagen“? Vielleicht zu „Kirche“
sagen? Vielleicht etwas ganz neu zu Kirche sagen?
Soviel jedenfalls: Sie lassen sich von Menschen, von denen, die einfach nur vorbeikommen,
bewegen und in Gang halten. Das ist doch schon mal was! Als Theologin, die sich auch viel
mit Fragen der pädagogischen und kulturellen Erschließung des christlichen Kirchenraums
beschäftigt weiß ich, dass der Kirchenraum in der Wahrnehmung und Lebenspraxis von
Menschen der Gegenwart nicht einfach nur der Raum der gottesdienstlichen Versammlung ist.
Das ist er hier zu Lande – angesichts rapide sinkender Zahlen des sonntäglichen Kirchgangs in
den großen christlichen Kirchen – mittlerweile vielleicht am wenigsten. Er ist aber für religiöse
und gerade auch für nicht-religiöse Menschen ein durchaus viel und gern aufgesuchter Ort der
Stille, der Besinnung, der Begegnung mit sich und dem ganz Anderen. Er ist für religiöse und
auch für nicht-religiöse Mensch ein kultureller Gedächtnisort, der vielleicht zunächst lediglich
aus rein touristischen Gründen besucht wird, an dem dann aber – gleichsam „nebenbei“ - auch
die Erfahrungen und Traditionen, die Hoffnungen und Ängste, die Sehnsucht und die
Gewissheit der Menschen vor uns anschaulich werden, aufbewahrt, bewahrt werden. Darüber
hinaus spielt der Kirchenraum im städtebaulichen Ensemble die Rolle einer „Landmarke“, die
im Sinne architektursoziologischer Überlegungen nicht einfach nur topographische
Orientierung ermöglicht, sondern Anhaltspunkt der personalen Identifikation mit einem Ort,
der identitätsbezogenen Selbstverortung ist.4 Wenn nun die Dreihasentrommel von Miriam
Jonas in der Zeit der Ausstellung pausenlos „im Einsatz“ ist, die Hasen nur nachts zur Ruhe
kommen können, und dieses Dreihasenmotiv im Dom nur gesehen werden kann, wenn niemand
4
Zum Ganzen: Rita Burrichter, „Hinter der Kirche gleich links“. Überlegungen zum Verhältnis von
„Identifikation“ und „Identität“ im Horizont der Umnutzung von Kirchengebäuden, in: Gottfried Bitter / Martina
Blasberg-Kuhnke, Religion und Bildung in Kirche und Gesellschaft, Würzburg 2011, 226-234.
5
schaut, dann ist das ein echtes Paradox, das aber in seiner Widersprüchlichkeit auf das
Eigentliche verweist, das gerade auch die kirchlich „Affinen“, die den christlichen
Traditionsverlust beklagen, genauer zu bedenken hätten: nämlich die fraglos grundsätzlich
große Bedeutsamkeit dieses Ortes für Menschen.
Ein Weiteres: Die bewegten Dreihasen im Kreuzgang des Doms bringen sich in unserer
Wahrnehmung durch ihre Rotation an die Grenze zur Auflösung. Auch das ist eine Kehrseite,
eine zweite Seite der Bedeutung, die das Kunstwerk durch den Kontextwechsel aufruft. Das ist
die Rückseite von Bewegung: Es schwirrt ja der Kopf beim Zusehen! Wo ist Anfang, wo ist
Ende? Wo gibt es Halt und Sicherheit im Sehen? Am Objekt, das ja auch noch unwirklich
leuchtet – verlockend zwar, betörend, doch unfasslich – scheinbar nirgends, höchstens durch
unsere ruhige Standfestigkeit. Dabei ist auch hier ein Paradox zu vermerken: Am Objekt selbst
ändert sich ja nichts. Es zeigt die Dreihasen, nur eben in Bewegung. Unser Sehen ist es, das da
nicht nachkommt, unser Kopf ist es, der das nicht fassen kann. Nicht nachvollziehbar, unfassbar
ist auch so manches, was im Kontext von Kirche begegnet. Doch worüber rede ich gerade,
wenn ich über das Unfassbare rede? Über Skandale, Machtmissbrauch, materiellen Reichtum?
Oder über höchst wirksame Hilfsaktionen, freiwilliges gesellschaftliches Engagement,
Beratung und Unterstützung von Menschen in Not- und Krisensituationen? Oder über Erlösung,
Menschwerdung, Gnade Gottes? Das Kunstwerk legt sich nicht fest. Wie auch – wir halten es
ja in Bewegung mit unseren Assoziationen, Denkversuchen, Deutungsvorschlägen! „Und doch
hat jeder seine zwei“ – Der Ausstellungstitel bezieht sich nicht nur auf das, was das Objekt zu
sehen gibt, sondern spielt sozusagen den Ball zurück zu den Betrachterinnen und Betrachtern,
denen eben nicht nur eine – gar von der Künstlerin festgelegte – Interpretation vorgestellt wird,
sondern die grundsätzlich verwiesen werden auf „eindeutige Uneindeutigkeit“, auf Ambiguität
und Ambivalenz von Deutung und Bedeutung.
Ein Letztes: Miriam Jonas wurde gefragt, ob der Kreuzgang für ihre Arbeit nicht leer geräumt
werden sollte. Aber nein: Zwischen die Memorabilien, zwischen die Bestuhlung, zwischen die
Funktion setzt sie ihre bewegten Hasen, lässt sie die Dreihasen frei. Darf man das eigentlich?
6
Dreihasen in Paderborn – ein Erkundungsgang nicht nur durch den Paderborner Dom
Abb. 2: Hoher Dom zu Paderborn Dreihasenfenster5
Wer auf der Internetseite des Paderborner Cityportals den Audiobeitrag zum Dreihasenfenster6
anklickt, bekommt zunächst die Ergebnisse einer Befragung von Passanten in der Paderborner
Fußgängerzone zu hören: „Ich glaub‘, dieses Paderborner Dreihasenfenster ist im Dom zu
sehen, mehr weiß ich darüber aber auch nicht.“ „Das sind drei Hasen mit drei Ohren, aber
eigentlich sind es sechs.“ „Die Dreihasen sind ein Symbol, aber ich weiß nicht, welches Symbol
das ist.“ „Die Dreihasen, ist das nicht ein Märchen oder sowas?“ „Das sind drei Hasen, aber
was es bedeutet, habe ich leider keine Ahnung.“ „Irgendwas mit Fruchtbarkeit, aber ich weiß
nicht.“ „Es ist was Mathematisches, das weiß ich, aber ich hab‘ keine Ahnung.“ Anschließend
wird der ehrenamtliche Domführer befragt, der die Verbreitung des Motivs über Paderborn
hinaus und seine „heidnische“ Herkunft erläutert. Er deutet die Kreisbewegung als Hinweis auf
ewige Wiederkehr und die Dreiecksbildung der Ohren als Zeichen der Göttlichkeit und versteht
das Motiv da, wo es an christlichen Kirchen begegnet als Hinweis auf die Trinität, als Zeichen
des einen, dreifaltigen und ewigen Gottes. Zu Wort kommt dann – und sie klingt ein bisschen
5
http://www.erzbistum-paderborn.de/dom/1618-Virtueller-Rundgang.html.
Ein Feature von Diana Rudolph, Simon Beisel, Jochen Meckel:
https://www.paderborn.de/freizeit/download/Drei-Hasen-Radiofeature.mp3. (letzter Aufruf 30.10.2015)
6
7
verschnupft – die Fachangestellte der Universitätsbibliothek, die eine ausgewiesene Kennerin
der Materie ist und die es als ein Riesenproblem der Paderborner bezeichnet, dass sie auf diese
trinitarische
Deutungsvariante
so
„eingeschossen“
seien,
denn
kultur-
und
religionsgeschichtliche Belege zeigen ja nicht nur das Dreihasenmotiv jenseits christlicher
Deutungskontexte, sondern das Motiv der miteinander verbundenen Ohren gibt es auch in
Viererformation, und dann sei’s ja wohl vorbei mit der Drei und man müsse die anderen,
unterschiedlichen und weitgehend unerforschten Bedeutungen, z.B. als chinesisches
Meditationssymbol zur Kenntnis nehmen. Der Audiobeitrag schließt, immer wenn ich ihn auf
meinem PC aufrufe: „Am Ende unserer Suche halten wir fest: Ein einprschsss.“
Dieses - zwar nur technisch bedingte - doppelte offene Ende erscheint aber hermeneutisch nicht
nur reizvoll, sondern äußerst produktiv. Ich meine zu wissen, wie der Satz enden soll. Denn das
ist weitgehend Konsens in der Erforschung dieses kultur- und religionsgeschichtlich breit
gestreuten Motivs: Aufgrund der unterschiedlichen Kontexte und der hohen Anschließbarkeit
des Dreihasenmotivs an unterschiedlich konnotierte Symbolsysteme gibt es kein „eindeutiges
Ergebnis“ im Sinne einer eindeutigen, nämlich exklusiven Bedeutung. Wenn ich nun aber im
Folgenden den Satz des Audiobeitrags über die Paderborner Dreihasen zunächst probehalber
mal anders enden lasse: „Am Ende unserer Suche halten wir fest: Ein eindeutiges Ergebnis gibt
es!“, dann geht es mir dabei nicht um eine wider besseres Wissen womöglich trotzige
Behauptung einer christlichen, gar dogmatisch-trinitarischen Deutung des singulären
Fenstermotivs. Aber ich möchte doch die Aufmerksamkeit hinlenken zur Wahrnehmung des
Paderborner Fenstermotivs als Teil eines größeren Ganzen, nämlich als Bestandteil christlicher
Sakralarchitektur.
Kein eindeutiger, aber ein spezifischer Kontext: spätgotische Maßwerkfenster
Das Paderborner Wahrzeichen, das – wie in jeder Dom- und Stadtbeschreibung zu lesen ist zum unbedingten „Muss“ eines jeden Dombesuchs gehört, findet sich im Nordflügel des
Kreuzgangs des Domes. Dort wurden Anfang des 16. Jahrhunderts die bis dahin offenen
Arkaden mit Maßwerkfenstern geschlossen, eins davon ist das Hasenfenster. Es hat damit einen
sehr klar bezeichneten, vielleicht sogar eindeutigen Kontext, auch wenn dieser von den meisten
Besuchern und Besucherinnen kaum beachtet wird. Die Hasen sind nämlich nicht einfach „im
Fenster drin“, sondern sie bilden als figürliches Maßwerk selbst das Fenster.
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Unter Maßwerk versteht man in der Architektur in Stein gebrochene geometrische, mit dem
Zirkel konstruierte, also „gemessene“ Muster,7 die äußerst filigran die großen Fensteröffnungen
der gotischen Bauten gliedern. Ihnen kommt dabei eine konstruktive Aufgabe zu. Sie dienen
der Stabilisierung von Wandöffnungen, indem sie es ermöglichen, Winddruck von außen und
Eigengewicht des Baus abzufangen und abzuleiten. Dabei müssen die zarten Steinprofile durch
Verdübelung untereinander und mit dem Baukörper verbunden und so ihrerseits stabilisiert
werden. Gotisches Maßwerk gliedert nicht nur Fensterbahnen, sondern auch Balustraden oder
Wände, es kann als sogenanntes Blendmaßwerk vor Mauern aufgespannt oder Gewölben
aufgelegt werden. Jenseits der konstruktiven Funktion und jenseits der auf den ersten Blick
immer auch höchst dekorativen Wirkung des durchbrochenen Steins stellt sich beim gotischen
Maßwerk aber auch noch ein weiterer Effekt ein. Indem nämlich die kleineren Formen weiter
hinten liegen und von den größeren Profilschichten überfangen werden - die Fensterlaibungen,
Wände und Gewölbe also auch in die Tiefe gegliedert werden - ergibt sich in Verbindung mit
der immer weiter vorangetriebenen Skelettierung eine weitgehende Entmaterialisierung des
Baukörpers, eine Auflösung seiner Massivität und Monumentalität. Das Schwebende und
vermeintlich „Leichte“, die Bewegtheit und geradezu flirrende Anmutung der gotischen
Kirchbauten (und hier insbesondere der französischen Kathedralarchitektur), die zeitgenössisch
und bis heute immer auch theologisch-spirituell gedeutet wird (Diaphanie als Epiphanie), hat
nicht
zuletzt
mit
dieser
mathematisch-geometrisch
grundierten
konstruktiven
Ingenieursleistung und ihrer handwerklich höchst präzisen Umsetzung im Maßwerk zu tun.
Das Hasenfenster gehört in diesen Kontext und ein Blick auf die Vergleichsformen zeigt relativ
rasch, dass das Verblüffende des Paderborner figürlichen Maßwerks sich in die die Symmetrie
betonenden grundsätzlichen Konstruktionsmöglichkeiten ganz selbstverständlich einfügt. Ohne
es mir gleich mit den Paderbornerinnen und Paderborner verderben zu wollen, muss ich doch
festhalten: „Sooo besonders ist das gar nicht!“
Ein Blick auf charakteristische Beispiele aus dem Formenspektrum gotischer Maßwerkfenster
zeigt: Auch die Hasen sind vom Mittelpunkt her, unter strenger Beachtung gleicher
Größenverhältnisse und in gleicher Bewegungsrichtung konstruiert. Insbesondere lässt sich das
zeigen am sogenannten Dreischneuß, der drei fischblasen- oder tropfenartige Formen in einer
dynamischen Kreisbewegung anordnet, die unschwer formal auf die Dreihasen übertragen
werden können. Das in sich proportional streng Symmetrische und zugleich Bewegte und die
Imagination Bewegende, findet sich also in der architektonischen Form, in der Sache selbst.
7
Günther Binding, Architektonische Formenlehre, Darmstadt 41998, 86 ff.
9
8
Abb. 3-5: Maßwerk
Das ist für das Verständnis gotischer Formensprache insgesamt wichtig, die ja den konstruierten
monumentalen Baukörper in seiner Gesamtheit durch zahlreiche – wiederum konstruktivingenieurhafte – Maßnahmen (z.B. die vor- und zurückspringenden Säulenportale französischer
Kathedralen) zugleich aufbricht, in Bewegung bringt und auf diese Weise entmaterialisiert. Das
figürliche Maßwerk der Spätgotik im Paderborner Dom übersetzt sozusagen diese abstrakte
Anregung der Form zu imaginierter Bewegung und optisch-visueller Auflösung in ein
anschaulich-realistisches, an die Naturanschauung unmittelbar rückgebundenes Pendant,
nämlich in einander im Kreis nachsetzende Hasen.
Wenn die Arbeit von Miriam Jonas die Hasen nun real in Bewegung setzt, dann stellt sich ja
als verblüffender Effekt eine zunehmend flirrende Auflösung zu „Sägeblatt“, „Lollipop“ und
sich nach außen ergießenden konzentrischen Kreisen ein und damit gleichsam eine
Entmaterialisierung des Objekts. Das ist im Kontext des aktuellen Standorts der Arbeit mehr
als nur eine Verunsicherung bezüglich der zugrundeliegenden Form, sondern kann zugleich als
veranschaulichender Kommentar zu einem wesentlichen Anliegen gotischer Kirchenräume
verstanden werden, dem Anliegen nämlich, Vorschein und Verweis zugleich auf das ganz
Andere, das Unfassbare göttlicher Wirklichkeit zu sein. Dass dieser aktuelle künstlerische
Kommentar dabei „heiter“, „schön“ daherkommt und das strikte Gegenteil von dem ist, was
man „Transzendenzhuberei“ nennen könnte, empfinde ich als Theologin als wohltuend. Miriam
8
Abb 3: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Orna019-Masswerk.png; Abb 4:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Dreischneu%C3%9F.svg; Abb 5:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Triskel_type_Tonkedeg..svg (letzter Aufruf 2.12.2015).
10
Jonas bleibt – wie die spätmittelalterlichen Steinmetze – ganz bei ihrer – der künstlerischen Sache, nämlich dem Sichtbarmachen des Potenzials von Form als Form.
Das Hasenfenster in seinem Kontext zu sehen, erfordert von Betrachterinnen und Betrachtern,
sich auf dem Kapitelsfriedhof des Paderborner Doms umzuschauen und auch die anderen
Maßwerkfenster, die die Arkaden des Kreuzgangs ausfüllen, in Augenschein zu nehmen. Dort
begegnen dann Dreipass und Vierpass, Fischblase und Nonnenkopf, also die anderen Formen
des gotischen Maßwerks. In diese fügen sich die Dreihasen als Form ein und bleiben doch etwas
ganz Besonderes, insofern sie dort das einzige figurative Maßwerk sind.
Abb. 6: Hoher Dom zu Paderborn, Kapitelsfriedhof 9
9
http://www.erzbistum-paderborn.de/dom/1618-Virtueller-Rundgang.html. (letzter Aufruf 2.12.2015)
11
Zur theologischen Wertschätzung der Form als Form sei noch ein kurzer Seitenblick auf ein
Beispiel mittelalterlicher Buchmalerei erlaubt:
Abb. 7: Bible moralisée, Nordfrankreich, um 1250
Das Bild zeigt den Schöpfergott am Werk, wie er mit dem Zirkel die Kosmosscheibe vermisst
und sie dabei gleichzeitig in Bewegung setzt.10 Die Darstellung Gottes als Baumeister, als
Artifex, war in der frühchristlichen und frühmittelalterlichen Tradition wegen der Verachtung
der körperlichen Arbeit als Zeichen von Unfreiheit und Armut verpönt. Das Motiv taucht dann
aber mit Macht zur Zeit der großen Kathedralbauten in Frankreich auf. In einer Zeit also, in der
erstmals Baupläne begegnen, es also einen Gesamtüberblick zur Baumaßnahme und damit
verbunden eine diffizile Arbeitsteilung gibt. Jetzt erfährt die Person, die über diesen
Gesamtüberblick verfügt, höchste Wertschätzung. In diesen Zusammenhang gehört, dass die
Konstruktionsmetapher einerseits auf Gott übertragen wird, zur Gottesvorstellung, zum
Gottesbild wird, so wie es die mittelalterliche Buchmalerei zeigt. Andererseits wird von diesem
Gottesverständnis her menschliche Forschungs-, Entwicklungs- und Entwurfstätigkeit als
Aufgabe und Tun des göttlichen Willens verstanden. Damit wird also im Kontext des hoch- und
spätmittelalterlichen Weltverstehens das bereits in der biblischen Weisheitstradition zum
10
Eine religionspädagogische Erschließung und die Abb. in: Günter Lange, Kunst zur Bibel. 32
Bildinterpretationen, München 1988.
12
Ausdruck kommende Verständnis der Ordnung der Welt „nach Maß, Zahl und Gewicht“ durch
Gott selbst (Weish 11,20b) nicht nur als Anreiz verstanden, den Gesetzen des Kosmos auf die
Spur zu kommen, sondern auch als Aufforderung, die planvolle Konstruktion der Welt in den
eigenen Konstruktionen nachzuahmen, abzubilden und so zugleich in den eigenen Werken das
Werk des Schöpfers zu loben. Die Auseinandersetzung mit Maß und Zahl, die Faszination der
Gesetzmäßigkeiten, die nicht zuletzt in den vorangetriebenen Konstruktionsformen des
Maßwerks deutlich wird, die Faszination der mathematischen Näherung an „Ewigkeit“ und
„Unendlichkeit“
bestimmt
die
religiöse,
auch
und
gerade
die
christliche
Frömmigkeitsgeschichte sehr stark – in Theorie11 und Praxis.12
Eindeutig uneindeutig: Die Dreihasen in Kultur- und Religionsgeschichte
Dass die Dreihasen nicht nur in Paderborn vorkommen, das haben auch die Paderbornerinnen
und Paderborner schon lange eingesehen. Aufschlussreich ist dabei bereits der Blick in die
nähere Umgebung: Im
Kloster Hardehausen begegnen sie als Gewölbeschlussstein im
Kreuzgang und als Rippenzierscheibe im Gewölbe des Ostquerschiffs im Münsteraner
Paulusdom. In beiden Fällen also als figurativ-bildliches Dekor architektonischer Elemente. Als
derartige Schmuckscheibe lässt sich das Motiv in mittelalterlicher Zeit in großer Zahl im
europäischen Raum nachweisen, so bereits um 1300 als Schlussstein in St. Peter und Paul in
Wissembourg im Elsass. Das „Three-hares-project“ der Kunsthistorikerin Sue Andrew, des
Dokumentarfotografen Chris Chapman und des Archäologen Tom Greeves bietet auf der
zugehörigen Internetseite eine beeindruckende Sammlung von derartigen mittelalterlichen
Gewölbeschlusssteinen mit dem Dreihasenmotiv insbesondere in Devon / England.13
Ebenfalls mittelalterlich ist im näheren Umkreis von Paderborn – und selbst in den
umfangreichen Recherchen des „Three-hares- projects“ ein echter Solitär - die Kirchenglocke
des ehemaligen Zisterzienserklosters Haina. Sie stammt aus dem 13. Jhd. und wurde 1588
erstmals als „Hasenglocke“ erwähnt. Ob das auf Glocken singuläre Motiv etwas mit einem
Glockengießer namens Hase zu tun hat, wie es in der Literatur verschiedentlich diskutiert wird,
11
Z.B. bezüglich der scholastisch-philosophischen Überlegungen zu den Gesetzmäßigkeiten der
„Trinitätsmathematik“, die sich ja auch noch in der Deutung des Dreihasenmotivs als Trinitätssymbol spiegeln.
12
Vgl. Arnold Angenendt / Thomas Lentes, Gezählte Frömmigkeit, in: Kaspar Elm (Hg.), Literarische Formen des
Mittelalters: Florilegien, Kompilationen, Kollektionen, Wiesbaden 2000, 107-114.
13
http://www.chrischapmanphotography.co.uk/hares/index.html (letzter Aufruf 2.12.2015).
13
muss wohl offen bleiben.14 Die Glocke selbst gibt darauf keinen Hinweis; sie trägt die – in
diesem Kontext ganz übliche - Inschrift: „Da veniam Christe plebs supplicat et sonu iste“ „Gib
Gnade Christus, das Volk bittet darum und dieser Klang“. Ein Zusammenhang zum Bildmotiv
wird am Objekt selbst nicht hergestellt.
Vergleicht man die kirchlich-religiösen Umgebungen, in denen das Motiv begegnet, so fällt
auf, dass es im Grunde keine feststehenden ikonographischen Zusammenhänge gibt. Mal finden
sich neben den Hasen Hinweise auf andere Wald- und Wildtiere, mal weitere Spielarten des
„Drei in eins“-Motivs z.B. in Fischform oder in freier Ornamentik. Es begegnet auf Grabsteinen
so gut wie im Chorgestühl. Gerade auch die fehlende Bild-Text-Referenz der Glocke in Haina
lässt fragen, was es mit der Bedeutung des Motivs bzw. seiner Herkunft und Verbreitung auf
sich hat. Der völlige Verzicht auf einen ausdeutenden Brückenschlag, wie er ansonsten in
solchen Kontexten üblich ist, lässt entweder schließen, dass es hier nichts zu begründen gibt,
weil das Motiv selbsterklärend ist, wie das etwa beim Kreuz der Fall ist. Dazu ist das
Dreihasenmotiv aber zu selten und zu wenig christlich-spezifisch. Oder aber der Grund liegt
darin, dass ein „modernes“, im eigenen Kulturkreis eingewandertes neues Motiv durch seine
Gestaltung zeitgenössisch besonders attraktiv erscheint und lose-assoziativ auch christlichen
Interpretationszusammenhängen angeschlossen werden kann, z.B. über die Dreizahl oder das
figürliche Motiv, wobei die Herkunftsbedeutungen auch vollständig verblassen oder überlagert
werden können.
Für diese zweite Vermutung sprechen die bildlichen Quellen: Nicht erst seit dem in den 80er
Jahren begonnenen und seit 2000 forciert betriebenen englischen Forschungsprojekt bekannt,
aber dort besonders gut in zahlreichen Bildbeispielen dokumentiert, sind die zahlreichen
außerchristlichen und außereuropäischen Bezüge des Motivs.
So hat sich auch der Kunsthistoriker Jurgis Baltrušaitis - der u.a. am Warburg Institute in
London lehrte, das sich in besonderer Weise interdisziplinär den kulturgeschichtlichen
Transformationen von Motiven und ihrer Bedeutung widmet - in seinem Werk „Das
phantastische Mittelalter. Antike und exotische Elemente der Kunst der Gotik“ mit den
symbolisch-ikonographischen Wanderungen der Dreihasen befasst: von altorientalischen
Wurzeln genährt, aus buddhistischen Höhlen kommend, durch islamische Dekorkunst im
14
Erhard Ueckermann, Das Hasensymbol am Dom zu Paderborn, im Kloster Hardehausen, in der
Kathedralkirche St. Paulus in Münster und der Klosterkirche Haina, in: Zeitschrift für Jagdwissenschaft 41, 1995,
285-291, 289.
14
arabisch-persischen Einflussbereich springend, sich in jüdischen Synagogen15 tummelnd und
bis heute nicht nur im christlichen Kontext rotierend.
Auch Baltrušaitis vermag keine bündige, gar quellengestützte Deutung vorzulegen und
insbesondere folge ich ihm nicht bei seiner Quintessenz, die die Dreihasen im europäischen
Mittelalter als sinnentleerte, bloß „phantastische Arabesken“ sieht. Aber – und das scheint mir
wichtig und nachvollziehbar - er macht aufmerksam auf einen formalen Aspekt des Motivs, der
von unterschiedlichen Kulturen und Religionen, in unterschiedlichen historischen Epochen und
auch in rein profanen Kontexten wahrgenommen und wertgeschätzt wird und der auch die
Verwandtschaft mit und die Nachbarschaft zu anderen, auf den ersten Blick weit entfernt
erscheinenden religionsgeschichtlichen Zeichen und Symbolen klärt.
Es ist das Motiv der Bewegung und zwar genauer der sich selbst jagenden, bekämpfenden,
verschlingenden Bewegung. Mit Miriam Jonas gesprochen: Dreihasen, run run run! Den
Ausgangspunkt sieht Baltrušaitis bei lunaren Vorstellungen des Alten Orients, die das
Verschwinden des Mondes als Verschlungenwerden durch rivalisierende Kräfte deuten,
Vorstellungen, die in ihrer bildhaften Gestaltung dann zahlreichen Wandlungen unterworfen
werden: „Die Vorstellung der Zwietracht zwischen dem lichten Gesicht des Himmels und dem
dunklen Drachen der Erde verkörperte sich im Morgenland in einer Gestalt, die schließlich
gleichfalls den Weg nach Europa fand. Diese Gestalt war ihre eigene Widersacherin, denn war
sie nach vorne und mit dem Oberkörper Sternenatur, so war sie hinten und unten, mit Tierfüßen
und langem Schwanz, der sich zuletzt als Hals des Ungeheuers erwies, dessen Kopf er am Ende
trug, sich selbst entgegengesetzt.“16
Das ungleich zusammengesetzte und mit sich selbst kämpfende Wesen sieht Baltrušaitis dann
in der Kunst der Gotik im Abendland in rein profan-scherzhafter Absicht aufgenommen. Das
mutet angesichts der neueren religionsgeschichtlichen, insbesondere frömmigkeits- und
mentalitätsgeschichtlichen Erkenntnisse zu Welt- und Lebensdeutung im Mittelalter, wie sie
etwa bei Arnold Angenendt17 nachgelesen werden können, allzu aufgeklärt-rationalistisch an.
Auch die neuere Kunst- und Kulturwissenschaft weiß mit gotischen Misch- und Fabelwesen im
15
Vgl. Naomi Felice Wonnenberg, Hakensprünge durch die Kunstgeschichte: Das Drei-Hasen-Symbol, in: David.
Jüdische Kulturzeitschrift, http://david.juden.at/2008/76/12_wonnenberg.html (letzter Aufruf 2.12.2015).
Dies., Wie kommt der Hase in die Synagoge? Von China über Paderborn bis Chodorow: Auf den Spuren eines
Symbols, in: Jüdische Allgemeine, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/3077 (letzter Aufruf
2.12.2015).
16
Jurgis Baltrušaitis, Das phantastische Mittelalter. Antike und exotische Elemente der Kunst der Gotik,
Frankfurt a.M. u.a. 1985, 177.
17
Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009.
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sakralen Kontext mehr anzufangen, als sie nur ins Reich der künstlerischen Groteske zu
verbannen.18 Aber Baltrušaitis kann deutlich machen, dass die miteinander verbundenen Tiere,
Figuren und Ornamente im gotischen Drei- und Vierpass eine folgerichtige, nicht
chronologische, aber innere Beziehung zur Dynamik der sich selbst widerstreitenden Figur und
zur Bewegtheit des im Kreislauf von Verschlungenwerden und Wiederkehren sich drehenden
Mondgesichts aufweisen. Die miteinander verbundenen Hasen, deren fernöstliche Belege er
noch relativ spät datiert, bilden für ihn also eine (weitere) morgenländische Gabe für das
gotische Abendland, die als Scherz und als Möglichkeit der Demonstration der eigenen
Kunstfertigkeit rezipiert und weiterentwickelt wird.
Das Moment der Verblüffung über Wiederkehr, Widerstreit und der Vergeblichkeit der
rasenden Bewegung sieht er dann als besonderen Reiz für die Aufnahme des Motivs in vielerlei
Kontexten, kirchlich-religiösen wie profanen bis hin zum Wirtshausschild und zum
volkstümlich bebilderten Rätselspaß. Seine kulturgeschichtliche These lautet: Schon beim
Übergang des Motivs von den frühesten Nachweisen im buddhistischen China (6./7. Jhd.) in
die islamische Welt – also auf seinem Weg entlang der Seidenstraße bis nach Europa - habe das
Motiv seine religiöse Bedeutung als kosmisches Sinnbild und Meditationshilfe verloren; die
Anlagerung von symbolischen Deutungen der Trinität weist er wegen der Möglichkeit der
Viererkomposition strikt zurück.19 In dieser Deutung folgt ihm dann auch der Beitrag „Hase“
im Lexikon der christlichen Ikonographie20, dessen Beitrag zur „Dreifaltigkeit“ die Dreihasen
noch als eines der „Formspiele […], an denen sich die Phantasie seit dem 14. Jh. belustigt hat“21
ansieht, was eben Baltrušaitis‘ scharfen Protest hervorgerufen hat. Dass die Dreihasen sich auch
und gerade im profanen Kontext großer Beliebtheit erfreuen ist unbestritten und hat mit dem
Denk- und Formspiel des 3x2=3x1 zu tun. Dass Baltrušaitis aber assyrischen und chinesischen
Belegen „kosmogonisch bedeutenden“ Zusammenhang zuspricht, den islamischen und
gotischen Anverwandlungen aber nicht, hat weniger mit den Motiven selbst als vielmehr mit
einer bestimmten kunstwissenschaftlichen Sicht des „Realismus“ der Gotik und des „Dekors“
der islamischen Kunst zu tun.
18
Wolfgang Metternich, Teufel, Geister und Dämonen. Das Unheimliche in der Kunst des Mittelalters,
Darmstadt 2011.
19
Baltrušaitis, Mittelalter, 179.
20
W. Kemp, Art. Hase, in: Lexikon der christlichen Ikonographie Bd 2, Freiburg i.Br. 1990 (Sonderausgabe), 221225, 222.
21
W. Braunfels, Art. Dreifaltigkeit, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Freiburg i.Br. 1990
(Sonderausgabe), 525-537, 531.
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Das breite epochen-, kultur- und religionsübergreifende Vorkommen, die gleichermaßen
intensive Verwendung in religiös-sakralen und profanen Kontexten, die figurative und formale
Varianz sowie das Fehlen schriftlicher Quellen lassen eigentlich nur einen Schluss zu:
Eindeutig uneindeutig. Oder gerade darin eindeutig? Das „Threee-hares-project“ schlägt vor,
das Motiv als „Archetyp“ zu verstehen. Das findet einen durchaus nachvollziehbaren
Anhaltspunkt in der symbolischen Deutung der Formen der Kunst im Sinne der
Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung. Als kreisrundes Motiv erscheinen die Dreihasen dann
als Motiv der Ganzheit in der Vielheit, als Motiv der zentrierten Mitte in Bewegung, ein Motiv,
dessen überzeitlicher „Sinn“ dann darin liegt, dass es die Spannung dieser Gegensätze
sozusagen „aushält“.22
Eindeutig uneindeutig: Der Hase, ein seltsames Tier
Folgt man der formal-ikonographisch gelegten lunaren Spur auch im Blick auf die Figuration
selbst, so ist man mit dem dämmerungs- und nachtaktiven Hasen „auf der sicheren Seite“. Die
Häufigkeit des Motivs wäre dann auch nochmal ein weiteres Indiz für die formale Ableitung.
Darüber hinaus aber ist der Hase im gerade aufgemachten weiten Horizont der Kultur- und
Religionsgeschichte auch für sich selbst schon ein bedeutendes Symboltier, das vor allem für
Erotik und Fruchtbarkeit steht. Die Liebesgöttin Aphrodite zählt ihn zu ihren Attributen. Im
Alten Testament gilt er als unrein, „weil er zwar wiederkäut, aber keine gespaltenen Klauen
hat“ (Lev 11,6). Im christlichen Kontext ist der Hase ein ambivalentes Symboltier: Wegen
seiner Fruchtbarkeit wird er seit frühchristlicher Zeit immer wieder mit Unkeuschheit in
Verbindung gebracht, aber wegen seiner wechselnden Fellfarbe gilt er zum Beispiel Ambrosius
von Mailand im 4. Jhd. auch als Symbol der Auferstehung und Verwandlung. Der Physiologos,
eine frühchristliche Naturlehre, versteht ihn aufgrund seiner ungleich langen Vorder- und
Hinterläufe als Symbol für den Menschen, dem „bergauf“, zu Christus strebend, Rettung
zuteilwird, der aber „bergab“ vom Bösen erfasst wird. Auch in der bildenden Kunst bleibt seine
Rolle mehrdeutig, sind seine Auftritte so oder so zu verstehen: In der Katakombenmalerei darf
er – wie schon in der heidnischen Antike – von Weintrauben naschen. Ob der bloße
Kontextwechsel vom Fußboden des römischen Speisezimmers an die Wand der christlichen
Grabanlage auch schon bedeutet, dass er von den Früchten des ewigen Lebens genießt oder ob
hier ganz allgemein eine Naturidylle vorgestellt wird, ist nicht geklärt. Ob der Hase im Bild
22
Aniela Jaffé, Bildende Kunst als Symbol, in: C.G. Jung, Marie-Louise von Franz / Joseph L. Henderson, Jolande
Jacobi, Aniela Jaffé, Der Mensch und seine Symbole, Olten 1968, 240-249, 240.
17
„Christus am Ölberg“ aus dem Jahr 1455 von Andrea Mantegna dem verzweifelten Christus als
Vorbild „vorstrebt“ oder Symbol seiner Verfolgung ist, selbst das muss im Letzten offen bleibt.
Gilt der Hase als Inbegriff sexueller Laster oder lebensbejahender Fruchtbarkeit? Als wehrloses
Opfer oder als Inbegriff von überlegener Schnelligkeit und Wendigkeit?
So sieht eine mittelalterliche „verkehrte Welt“ am Kaiserdom zu Königslutter den Hasen als
Sieger über seinen Jäger: positiv oder negativ? Eine verkehrte Welt ganz anderer Art ist der
„Tierfriede“, der sich als eschatologische Verheißung auftut, wenn Hase und Hund wie an der
Kirche von Kilpeck friedlich vereint sind. Oder? Die mittelalterliche Bildwelt23 lässt sich – wie
die Arbeit von Miriam Jonas - nicht so leicht festlegen; ihre Mehrdeutigkeit wird im Letzten
erst in der Betrachtung und Deutung eingeholt.
23
Die genannten Beispiele finden sich in: Wolfgang Metternich, Teufel, Geister und Dämonen. Das Unheimliche
in der Kunst des Mittelalters, Darmstadt 2011.