CABARET John Kander / Fred Ebb Cabaret Musical in zwei Akten Buch von Joe Masterhoff nach dem Stück „Ich bin eine Kamera“ von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood Gesangstexte von Fred Ebb – Musik von John Kander Originalproduktion am Broadway unter der Leitung von Harold Prince Deutsch von Robert Gilbert Dialoge in deutscher, Songtexte in deutscher und englischer Sprache Premiere am 30. Januar 2016, 19.30 Uhr Staatstheater Darmstadt, Großes Haus Premiere der Originalproduktion: 20. November 1966, Imperial Theatre New York City Lena Lafrenz, Marianne Curn, Ellen Wawrzyniak, Michael Pegher, Lena Lafrenz,Steven StevenKlopp, Klopp, Marianne Curn, Ellen Wawrzyniak, Michael Pegher, Marc Baumann, Florian Weigel, Claudia Artner Marc Baumann,Nina NinaBülles, Bülles, Florian Weigel, Claudia Artner Der Conférencier heißt die Gäste in „Cabaret“ willkommen und verspricht einen unbeschwert-frivolen Abend im Berlin der späten Weimarer Republik („Willkommen“). Sylvester 1929, kurz nach Beginn der Weltwirtschaftskrise: Ein junger amerikanischer Schriftsteller aus gutem Hause namens Clifford Bradshaw kommt nach Berlin. Am Bahnhof lernt er den jungen Deutschen Ernst Ludwig kennen, der mit Cliffs Unterstützung eine Aktentasche am Zoll vorbeischmuggelt. Er wird sein erster Berliner Freund. Auf Ernsts Empfehlung wird Cliff Mieter im größten Zimmer der einst großbürgerlichen, aber nun heruntergekommenen Wohnung von Fräulein Schneider, einer Frau Mitte 50, die in der Inflation ihr Vermögen, nicht aber ihren Humor verloren hat („Na und“). Als weitere Mieter lernt er die Prostituierte Fräulein Kost und den jüdischen Obsthändler Herrn Schultz kennen. Ins neue Jahr feiert Cliff in einem jener Cabarets, für die das Berlin der späten 1920er Jahre ebenso berühmt wie berüchtigt ist: Es bietet neben Tischtelefonen für den solventen Gast jedweder sexuellen Vorliebe ein reichhaltiges Angebot an Mädchen und Jungs. Cliff trifft auf den Berliner Arbeiterjungen Otto, in dem er augenblicklich die Chance zur Erfüllung seiner geheimsten Wünsche sieht („Telefon-Song“). Während ihres Showauftritts als ungezogenes Schulmädchen („Don’t Tell Mama / Mama darf nichts wissen“) hat Sally Bowles den attraktiven jungen Amerikaner im Publikum entdeckt. Auf eine Begegnung mit einem wichtigen Hollywoodproduzenten hoffend, wählt sie die Nummer von Cliffs Tischtelefon. Amüsiert lässt er sich aus einer Laune heraus auf ihr Flirtangebot ein, bis sie von Max, dem Besitzer des Cabarets und ihrem derzeitigen Liebhaber, weggerufen wird. Unvorsichtigerweise hat er ihr da bereits seine Adresse verraten. Der Conférencier erklärt dem Publikum, die neueste Berliner Mode seien Beziehungen zu dritt („Two Ladies“). Am nächsten Morgen platzt Ernst in die Zweisamkeit von Cliff und Otto. Doch auch der geplante Englischunterricht kann nicht stattfinden – denn 5 plötzlich steht Sally in Cliffs Zimmer, pleite und mit ihrer gesamten Habe. Sie versucht, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verführen, bis sie schließlich begreift, dass er nicht auf Frauen steht. Mit großem Charme vermittelt sie ihm, dass das kein Problem ist. Und sie beschließen fortan als gute Freunde Zimmer und Bett zu teilen („Perfectly Marvellous / Einmalig himmlisch“). Es ist Frühling geworden. Herr Schultz macht Fräulein Schneider den Hof und bringt sie mit einem ganz besonderen Geschenk in Verlegenheit: einer Ananas („Nichts wäre mir so lieb“). Im Cabaret singen die Kellner beim Aufräumen ein patriotisches Volkslied („Der morgige Tag ist mein“). Cliff genießt das Leben mit Sally an seiner Seite und Otto und anderen Jungs in seinem Bett aus vollen Zügen. Gemeinsam ziehen sie durchs Berliner Nachtleben und lassen keine Gelegenheit aus, sich zu amüsieren und Sex zu haben – zumindest solange ihr Geld dafür ausreicht. Doch heute ist Sally schlecht drauf und will ausziehen. Nach einigem Zögern gesteht sie Cliff, dass sie schwanger ist und nicht einmal weiß von wem. Cliff realisiert, dass sogar er der Vater sein könnte und bittet sie, auf eine Abtreibung zu verzichten. Er will mit ihr leben und sich um das Kind kümmern. Sally hofft, in Cliff den Partner fürs Leben gefunden zu haben („Vielleicht diesmal / Maybe This Time“). Um für seine künftige Familie sorgen zu können, beschließt Cliff, für Ernst zu schmuggeln. Im Cabaret findet derweil eine Privatvorführung für ein paar reiche Ausländer statt. Der Conférencier kommentiert, es gebe vielerlei Möglichkeiten, zu Geld zu kommen: Man kann seine moralische Integrität verkaufen, seinen Körper oder die Körper von anderen … („Sitting Pretty / Money“). Fräulein Kost überrascht Fräulein Schneider und Herrn Schultz in einer kompromittierenden Situation. Daraufhin macht er Fräulein Schneider einen Heiratsantrag („Heirat“). Cliff will mit aller Macht an eine glückliche Zukunft mit Sally und ihrem Kind glauben („Wer will schon wach sein“). Er löst sich von seinem bisherigen Leben, indem er Otto ein letztes Mal für seine Dienste bezahlt („Mich berührt’s nicht“). Handlung 4 6 7 Auf der Verlobungsfeier von Fräulein Schneider und Herrn Schultz kommt es zu einem Eklat, als Ernst von Fräulein Kost erfährt, dass Herr Schultz Jude ist. Cliff begreift, dass er für die Nazis geschmuggelt hat. Um Ernst zu zeigen, dass er mit seiner politischen Haltung nicht allein ist, stimmt Fräulein Kost ein patriotisches Lied an. Ein Verlobungsgast nach dem anderen beginnt mitzusingen; das Lied entpuppt sich als Parteimarsch der Nationalsozialisten („Der morgige Tag“ Reprise). Pause Im Cabaret tanzt eine Girlreihe („Kickline“). Fräulein Schneider überlegt angesichts der poltitischen Verhältnisse auf die Hochzeit zu verzichten. Herr Schultz hat sie fast beruhigt, als es zu einem rechten Angriff auf seinen Obstladen kommt („Heirat“ Reprise). Der Conférencier plädiert für den Abbau rassistischer Vorurteile und präsentiert seine neue Liebe: einen Gorilla („Säht ihr sie / If You Could See Her“). Cliff kann nicht fassen, dass Fräulein Schneider ihre Verlobung gelöst hat. Doch sie findet, er solle sich erst einmal in ihre Lage versetzen („Was würd’st du tun?“). Da Cliff sich weigert, weiter für Ernst zu schmuggeln, will Sally wieder auftreten. Doch Cliff will angesichts der politischen Lage nicht in Berlin bleiben: Er beschließt, mit Sally nach Amerika zu gehen, und stürzt davon, um Fahrkarten zu kaufen. Alleine zurückgeblieben sieht Sally keine Zukunft für sich mit Cliff. Sie entscheidet, auf das Kind zu verzichten und ins Cabaret zurückzukehren („I Don’t Care Much“). Sally ist nicht nach Hause gekommen. Cliff findet sie im Cabaret und erfährt von ihr, dass sie abgetrieben hat. Sie konfrontiert ihn mit den Widersprüchen in seinem Selbstentwurf als treusorgender Familienvater und lässt ihn dann stehen. Aufgebracht legt er sich mit Ernst an. Auf der Bühne verteidigt Sally ihre Lebensphilosophie („Cabaret“). Cliff verlässt Berlin und beginnt über seine Erlebnisse dort zu schreiben: die Geschichte, die der Conférencier soeben präsentiert hat („Finale“). Dorothea Maria Müller, Markus Schneider 9 Mark Schachtsiek „Hier ist das Leben wunderschön“ Die späte Weimarer Republik als Spiegel der eigenen Zeit Lügen wir uns, trügen wir uns, in eine Welt hinein und lass uns dann in dieser Welt ganz verzaubert Prinz und Prinzessin sein. Du bist aus Gold, ich bin aus Gold und unser Tag ist froh, vergessen der Student im Dachstübchen und das Mädelchen vom Büro! Eine kleine Sehnsucht braucht jeder zum glücklich sein, eine kleine Sehnsucht, ein wenig Sonnenschein, eine Sehnsucht für den grauen Tag, eine Sehnsucht, ganz egal wonach … Eine kleine Sehnsucht, ein flüchtiges Traumgebild’ , eine Sehnsucht, die sich niemals erfüllt. aus: Friedrich Hollaender Eine kleine Sehnsucht (1930) Cabaret ist das etwas andere Erfolgsmusical. Entstanden in einer Zeit, in der sich das traditionelle amerikanische Unterhaltungstheater deutlich im Niedergang befand und zahlreiche große Broadwaytheater in Stripclubs oder Pornokinos umgewandelt wurden, gelang es mit ihm, ein neues Musical-Publikum zu gewinnen, ohne das alte zu verlieren. Es verknüpfte gekonnt eine emotional bewegende Geschichte mit nostalgischer Aura, erotischen Tanznummern, prickelnden Dialogen und, nicht zuletzt, einem politischen Anliegen. Seine Broadway-Premiere erlebte Cabaret 1966, in einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen um die Gleichberechtigung der Schwarzen, kurz nach dem Marsch auf Selma, den Ausschreitungen von Little Rock, Arkansas und der Ermordung Martin Luther Kings jr. Angesichts eines ökonomischen Abschwungs und steigender Arbeitslosenzahlen befürchteten viele eine Rückkehr von Zuständen wie während der Großen Depression der 1930er Jahre und prophezeiten den USA „Weimarer Verhältnisse“. Zugleich war es die Zeit der ersten erfolgreichen Produktionen von Stücken Bertolt Brechts in New York. Seine epische Spielweise war eine wichtige Inspirationsquelle für die Struktur von Cabaret und die kommentierende Funktion der Nummern des Conférenciers. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Harold Prince, dass ihn am Cabaret-Stoff keineswegs die Figur der Sally Bowles anzog. Die wichtigste Inspiration stammte aus seiner eigenen Armeezeit in Deutschland; 1951 war er in Stuttgart stationiert gewesen und hatte regelmäßig das Maxim’s besucht, einen Nachtclub in den Ruinen der Keller einer alten Kirche. Dort moderierte ein zwergenhafter Conférencier, desillusioniert und zynisch tanzte er und dirigierte vier übergewichtige Walküren als Showgirls. Prince machte ihn zum Zentrum seiner Erzählung eines vom verlorenen Krieg, E s s ay 8 der Inflation und der Armut ausgebrannten Deutschlands, das moralisch korrumpiert, fehlgeleitet und despotisch im Nationalsozialismus neue Stärke zu finden sucht. Diese Atmosphäre klang für die Autoren aus den pointierten und oft zynischen Chansons der 1920er und frühen 1930er Jahre von Friedrich Hollaender, Mischa Spolianski, Kurt Weill und anderen, sie fanden sie aber auch in der Literatur der „Neuen Sachlichkeit“, die 1924, also parallel zum Ende der galoppierenden Geldentwertung, den Expressionismus abgelöst hatte. Kühl seziert sie den modernen Menschen, der sich keine Emotionen mehr erlaubt, und bringt angesichts der Inflationserfahrung, dass der soziale Absturz jederzeit jeden treffen kann und moralische Integrität keinen Schutz bietet, dem von der bürgerlich-liberalen Vorkriegsgesellschaft so gefeierten Individuum und seinen (Liebes-)Sehnsüchten nur noch milde Verachtung entgegen. Für ihre Geschichte griffen die Autoren auf die berühmteste Beschreibung des Berlins der 1930er Jahre in englischer Sprache zurück. Der 1904 geborene Christopher William Bradshaw-Isherwood, britischer Schriftsteller aus gutem Hause, hatte im März 1929 zwei Wochen lang einen ebenfalls britischen Freund, den Dichter W. H. Auden, in Berlin besucht und sich sofort in die Stadt und die erotischen Möglichkeiten, die sie ihm als Homosexuellen bot, verliebt. Rückblickend beschrieb er den Tag, an dem er sich im Cosy Corner, einer Stricherkneipe in der Nähe des Halleschen Tores, „Bubi“, einen Berliner Arbeiterjungen namens Berthold Szczesny, ausgesucht hatte, als den wichtigsten seines Lebens. Als typischer Vertreter der britischen Oberschicht seiner Zeit war er unfähig gewesen, sich mit einem Standesgenossen sexuell zu entspannen; nur in den Armen eines Ausländers aus der Unterschicht konnte er zu sich und seiner sexuellen Identität finden. So kehrte er am 29. November 1929 zurück und bis 17. Mai 1933 blieb die deutsche Reichshauptstadt sein Hauptwohnsitz. Sein Aufenthalt umfasst also die gesamte letzte Phase der Weimarer Republik; als er dort ankam, begann man in Deutschland langsam die Auswirkungen des New Yorker Börsencrash vom 24. Oktober 1929 und den Beginn der Welt- 11 wirtschaftskrise zu spüren, die die wirtschaftliche Scheinblüte der „Goldenen Zwanziger“ im Anschluss an die Inflation beendete. Als er Berlin verließ, war Hitler seit dreieinhalb Monaten Reichskanzler und die ersten Verhaftungswellen, Razzien und Boykotte jüdischer Geschäfte in vollem Gange. Die politischen Umwälzungen dieser dreieinhalb Jahre reflektiert auch Cabaret. Bald nach seiner Ankunft hatte Isherwood den Plan zu einem großen Roman über den geistigen Zustand Deutschlands gefasst, der Die Verlorenen heißen sollte, und umfangreiche Tagebuchnotizen über seine Begegnungen mit Berlinern verfasst, die die Basis der Hauptfiguren bilden sollten. Da das Material jedoch zu umfangreich wurde, entstanden zwei Romane: zunächst 1934 Mr Norris Changes Trains über einen Schmuggler und politischen Strippenzieher, hinter dem sich die schillernde Persönlichkeit von Gerald Hamilton verbirgt, dann 1936–39 Goodbye To Berlin, ein Episodenroman in sechs eigenständigen Kapiteln, der die Entwicklung Deutschlands zwischen 1929 und 1933 anhand von Figuren aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus nachzeichnet. Zu ihnen gehören Sally Bowles, eine junges modern gesinntes englisches Mädchen, das ununterbrochen mit seinen sexuellen Abenteuern prahlt, von einer Filmkarriere träumt und sich für eine Abtreibung entscheidet, als sie schwanger wird – ihr ist das zweite Kapitel gewidmet – und Otto Nowak, ein arbeitsloser Berliner Arbeiterjunge, der sich von einem homosexuellen Engländer aushalten lässt, dann aber im Erzähler einen echten Freund findet, im dritten und vierten Kapitel. Sally basiert vor allem auf Isherwoods Freundin Jean Ross, die eine Weile bei der gleichen Zimmerwirtin wie er wohnte; Otto ist ein Portrait von Isherwoods eigener längerer Liebschaft auf finanzieller Basis mit dem Arbeiterjungen Walter Wolff, was der Text aber natürlich – zeit- und zensurbedingt – kunstvoll verschleiert (Man darf nicht vergessen, das selbst im Berlin der Weimarer Republik, in dem homosexuelle Bars und Clubs von der Polizei wohlwollend geduldet wurden, „beischlafähnliche Handlungen“ unter Männern gemäß §175 des Strafgesetzbuchs strafbar waren; in England waren die Gesetze noch schärfer). Gemeinsam ist beiden Romanen einerseits das liebevolle Portrait E s s ay 10 12 von Isherwoods Zimmerwirtin in der Schöneberger Nollendorffstraße Meta Thurau, die dort als Frl. Schroeder (und im Musical als Fräulein Schneider) erscheint und andererseits der Protagonist. Er ist derselbe, auch wenn er im einen Roman William Bradshaw und im anderen Christopher Isherwood heißt. Beide Figuren sind ein ironisches Selbstportrait des Autors, der damit kokettiert, in einer extrem sexualisierten und politisierten Welt ein Mann ohne politische Haltung und sexuelle Begierden zu sein. An seiner Stelle durfte sich Sally Bowles, die neben Zügen von Jean Ross auch solche von Walter Wolff und Isherwood selbst aufweist, exzessiv sexuell ausleben. Sie ist eine Frau, doch abgesehen von ihrer Schwangerschaft könnte ihre Geschichte durchaus die eines schwulen Mannes sein (Ihre wichtigste Affäre in Goodbye To Berlin, die mit dem reichen Amerikaner Clive, ist Isherwoods eigene mit einem verheirateten, aber ausschließlich an Männern interessierten Amerikaner namens John Blomshield, der im Sommer 1931 Berlin besuchte und ihn finanziell so aushielt, wie er bislang die Arbeiterjungen ausgehalten hatte). In dieser Form wurde Goodbye To Berlin ein riesiger Erfolg und Sally Bowles zu einer Ikone des Frauenbilds dieser Zeit. Der homoerotische Subtext von Isherwoods Berlinromanen ist in allen Bearbeitungen des Stoffes präsent, auch wenn er erst 1977 von Isherwood selbst in seinem Buch Christopher And His Kind (Christopher und seine Artgenossen) explizit offengelegt wurde. 1966 wäre ein schwuler Protagonist am Broadway undenkbar gewesen und so wurde aus dem kühl beobachtenden homosexuellen britischen Schriftsteller Christopher Isherwood im Musical der heterosexuelle, politisch zupackende amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw, der für ein amerikanisches Publikum der 1960er Jahre bessere Identifikationsmöglichkeiten bot. Während der Christopher des Romans nur als Vater von Sallys ungeborenem Kind ausgegeben wird, schwängert der Clifford der Uraufführungsfassung sie selbst – das war eine Vorgabe des Produzenten, wie es heißt. Dafür wurde der Conférencier, gespielt von Joel Grey, als androgyne Figur gestaltet und ein schwules Pärchen, Bobby und Viktor, zum Personal der Nebenfiguren im Cabaret hinzugefügt. Die Freunde W. H. Auden, Christopher Isherwood und Stephen Spender, um 1930 Christopher Isherwood in Berlin, ca. 1931 Berthold „Bubi“ Szeczeny – Isherwoods erste Berliner Liebe Jean Ross in Berlin – Das Vorbild für Sally Bowles Walter Wolff und Christopher Isherwood in Berlin Die Jungs aus dem Cosy Corner – Ein Foto aus dem Isherwood-Nachlass Bis zur Cabaret-Verfilmung durch Bob Fosse, die Liza Minelli als Sally Bowles 1972 zum Star machte, hatten sich die Zeiten geändert. Isherwood war dank A Single Man (Der Einzelgänger, 1964), dem ersten Roman über eine homosexuelle Beziehung, in der Homosexualität nicht als Problem dargestellt wird, zu einer Ikone der Schwulenbewegung geworden und das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe höchst aktuell. Clifford Bradshaw wurde zu Brian Roberts, einem bisexuellen Engländer, der zwar mit Sally ein sexuelles Erweckungserlebnis hat, sich dann aber von einem ihrer Liebhaber verführen lässt. Seither ist Joe Masterhoffs Buch immer wieder bearbeitet worden, zum einen, um es zu ermöglichen, berühmte Nummern, die erst für den Film komponiert wurden wie Money, Maybe This Time und Mein Herr in die Bühnenfassung einzufügen, zum anderen aber auch, um die erzählte Geschichte rund um den jungen Romanautor, der nach Berlin kommt, wieder den realen Erlebnissen Isherwoods und der Erwartungshaltung von Zuschauern, die den Film kennen und lieben, anzunähern. Für das Broadway Revival von 1998 hat Masterhoff sein Buch selbst dahingehend neu überarbeitet, dass Clifford (wie er noch immer heißt) deutlich als homosexuell sichtbar wird und Cabaret vom Berlin der Weimarer Republik als Ort sexueller Freiheit erzählt. Die ursprünglichen politischen Implikationen des Musicals sind demgegenüber in den letzten Jahrzehnten in den Hintergrund getreten, ohne dass sie ganz verschwunden wären. Es wird nicht mehr, wie in der Uraufführungsfassung, impliziert, dass der ichbezogene Hedonismus einer Sally Bowles (und damit Homosexualität) in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht und sich Clifford von diesem löst, wenn er nach seiner Schlägerei mit dem Nazi Ernst Ludwig Berlin Richtung Amerika verlässt. Stattdessen steht im Zentrum der Beziehung Sally-Clifford die Frage, welchen Status Liebe, sexuelles Begehren und ein Kinderwunsch für eine emanzipierte Frau und einen homosexuellen Mann haben können – in den Zeiten des Kampfes um ein Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ein höchst aktuelles Thema. Isherwood selbst hat nie von einer Familie geträumt, wie es Cliff in Masterhoffs jüngster Cabaret-Fassung tut. Doch in seinem engsten 15 Freundeskreis gab es genau diesen inneren Konflikt zwischen sexueller Orientierung und Lebensentwurf. Stephen Spender, der in Hamburg lebte, während Isherwood in Berlin war und über ihre Freundschaft einen Roman schrieb, entschied sich 1936 dafür, seinen Freund zu verlassen und eine Frau zu heiraten. Isherwood hatte dafür nur Verachtung übrig; er konnte nicht ertragen, dass jemand aus ihrem „Club“ desertierte. Um gegen die gesellschaftlichen Regeln der Elterngeneration zu rebellieren, konnte man als britischer Oberschichtintellektueller ihrer Generation offenbar nur dreierlei tun: Katholik, Kommunist oder offen homosexuell werden. Spender war auf einmal nichts mehr davon. In allen Bühnenfassungen von Cabaret unverändert geblieben ist dagegen die Geschichte von Fräulein Schneider und ihrem jüdischen Verehrer Herrn Schultz, dessen galantes Werben wohl auf dem von Mr Norris in Isherwoods erstem Roman beruht, auch wenn er eine Erfindung der Autoren des Musicals war (Im Film wurde auf ihn zugunsten von Isherwoods eigenem Kapitel zum Thema Antisemitismus, der Geschichte der jüdischen Kaufhauserbin Natalia Landauer verzichtet). Die Geschichte der Zimmerwirtin war immer nahe an der historischen Wirklichkeit und überzeugt bis heute, auch dank Lotte Lenya, der aus Deutschland in die USA emigrierten Witwe Kurt Weills, die das erste Fräulein Schneider war und starken Einfluss auf die Gestaltung der Figur nahm. Die historisch genaue Zeichnung dieser Repräsentantin des verarmten deutschen Bildungsbürgertums ist anrührend und doch begreift man, dass genau dieses Verhalten den Antisemitismus und Rassismus der anderen ermöglicht, wenn sie Clifford und uns, das Publikum, fragt: „Was würd’st du tun?“. Vielleicht ist es 2016 an der Zeit, genauer auf das zynische doppelte „Willkommen“ des Conférenciers zu Beginn und am Ende des Stückes zu hören. Wer wird da, mit welchen Implikationen, in Deutschland willkommen geheißen und wer bald schon, nachdem Clifford Berlin verlassen hat und die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft eskaliert sind, nicht mehr? Jede Zeit hat ihre eigenen Parallelen zu den Jahren 1929–33 in Deutschland. E s s ay 14 16 17 Nina Bülles, Marc Baumann, Marianne Curn, Opernchor 18 19 Thomas Mehnert, Petra Welteroth Wie viele andere Opfer der Inflation aus dem Bürgertum hatte Fräulein Thurau schon rosigere Zeiten erlebt und die Tatsache, dass sie sich gezwungen sah, Dienstbotenarbeit zu verrichten, die ihrem ehemaligen Status als „Gnädige Frau“ keineswegs entsprachen, erfüllte sie mit bitterer Belustigung. („Wärest Du eine deutsche Frau deiner sozialen Herkunft“, hatte Christopher [seiner Mutter] Kathleen einmal wütend an den Kopf geworfen, „dann würdest du wahrscheinlich gerade ein Bordell führen!“) Das arme Fräulein Thurau hätte es mit einem Bordell weitaus besser getroffen, als mit ihrer Wohnung voller heruntergekommener Mieter – Bobby, dem Barkeeper, Fräulein Kost, die auf den Strich ging, Fräulein Mayr, der arbeitslosen Jodlerin nationalsozialistischer Gesinnung. Sie alle waren regelmäßig mit der Miete im Rückstand. Fräulein Thurau und Christopher mochten einander sofort. […] Sie ereiferte sich gern über den lasterhaften Lebenswandel Berlins, doch in Wirklichkeit konnte nichts sie wirklich schockieren. Sie hatte eine schlechte Meinung von Otto, den sie für einen Schmarotzer auf Christophers Kosten hielt, doch sie hatte keinerlei Einwände gegen das, was die beiden in ihrer Wohnung miteinander anstellten. Sie schlief auf dem Sofa in dem von allen als Wohnzimmer genutzten Durchgangszimmer zwischen Vorderhaus und Seitenflügel und konnte deshalb alles, was in den Schlafzimmern um sie herum vorging, mithören. Wenn Christopher nach einer Nacht, in der er sich ausgiebiger und geräuschvoller als gewöhnlich verlustiert hatte, den Kopf durch die Tür steckte, um ihr „Guten Morgen!“ zu sagen, verdrehte sie die Augen und bemerkte mit einem schelmischen Lächeln: „Wie süß doch die Liebe sein muss …“ Auch Fräulein Kosts Gewerbe missbilligte sie nur, wenn sie aus anderen Gründen wütend auf sie war. Eine Unterkunft wie die bei Fräulein Thurau, in der man in sexueller Hinsicht tun und lassen konnte, was man wollte, nannten die Berliner „sturmfrei“. Christopher Isherwood Christopher And His Kind (1977) 21 Christopher Isherwood aus: Einer hat zärtliche Hände, einer packt kräftiger zu. Wenn ich den Richtigen fände, brächt’ er mir auch keine Ruh. Bin ich bei einem geborgen, glücklich, zufrieden und still, lockt mich ein anderer morgen: Nie hab’ ich das, was ich will. Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre; ich bin doch zu schade, für einen allein. Wenn ich jetzt g’rad dir Treue schwöre, wird wieder ein and’er ganz unglücklich sein. Ja, soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen? Die Sonne, die Sterne, gehör’n doch auch allen! Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre. Ich glaub’, ich gehöre nur mir ganz allein. aus: Robert Liebmann / Friedrich Hollaender Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre (1932) Goodbye To Berlin „Bin ich sehr viel zu spät, Fritz Darling?“ „Nur eine halbe Stunde, denke ich.“ Fritz strahlte vor Besitzerstolz. „Darf ich vorstellen: Herr Isherwood – Fräulein Bowles. Herrn Isherwood kennt man allgemein als ‚Chris’. ‘ „Stimmt nicht“, sagte ich, „Fritz ist ungefähr der einzige, der mich jemals Chris genannt hat.“ Sally lachte. Sie trug schwarze Seide und dazu ein kleines Cape über den Schultern und hatte ihre kleine Kappe keck wie ein Liftboy auf eine Seite gerückt. „Stört es dich, wenn ich dein Telefon benutze, Süßer?“ „Klar. Bedien’ dich.“ Fritz warf mir einen Blick zu. „Komm ins andere Zimmer, Chris. Ich will dir etwas zeigen. Ganz offensichtlich brannte er darauf, meinen ersten Eindruck von Sally, seiner neuen Eroberung, zu hören. „Um Himmels Willen, lasst mich mit diesem Mann nicht allein!“ rief sie aus. „Sonst wird er mich hier und jetzt durchs Telefon verführen. Er ist furchtbar leidenschaftlich!“ Während sie wählte, bemerkte ich, dass ihre Fingernägel smaragdgrün lackiert waren, eine unglücklich gewählte Farbe, denn sie lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre Hände, die vom Zigarettenrauchen verfärbt und schmutzig wie die eines kleinen Mädchens waren. […] „Hallo“, gurrte sie und spitzte ihre leuchtend kirschroten Lippen, als wolle sie den Hörer küssen, „Ist das Du, mein Liebling?“ Ihr Mund öffnete sich zu einem töricht süßen Lächeln. Fritz und ich sahen ihr zu, wie in einer Theatervorstellung. „Was wollen wir machen, Morgen Abend? Oh, wie wunderbar … Nein, nein, ich werde bleiben Heute Abend zu Hause. Ja, ja, ich werde wirklich bleiben zu Hause … Auf Wiedersehen, mein Liebling …“ Sie legte den Hörer auf und wandte sich triumphierend zu uns um. „Das ist der Mann, mit dem ich letzte Nacht geschlafen habe“, verkündete sie. 22 „Er ist großartig im Bett. Und ein genialer Unternehmer und unglaublich reich …“ Sie kam und setzte sich neben Fritz auf das Sofa, ließ sich mit einem Seufzer in die Kissen sinken: „Gib mir Kaffee, sei so lieb, Darling. Ich sterbe vor Durst.“ […] Dann musste Sally gehen. „Ich sollte um fünf einen Mann im Adlon treffen“, erklärte sie. „Und es ist schon sechs! Sei’s drum, es tut dem alten Schwein gut, ein bisschen zu warten. Er will, dass ich seine Geliebte werde, aber ich habe ihm gesagt, dass ich den Teufel tun werde, bevor er alle meine Schulden bezahlt hat. Warum sind Männer immer solche Biester?“ Sie öffnete ihre Handtasche und zog rasch ihre Lippen und Augenbrauen nach. „Ach übrigens, Fritz, sei ein Engel und leih’ mir zehn Mark. Ich habe keinen Pfennig mehr für’s Taxi.“ „Natürlich!“ Fritz griff in die Tasche und zahlte ohne jedes Zögern, wie ein Held. An dem Nachmittag, an dem Sally zum Tee zu mir kam, war Fräulein Schroeder außer sich vor Aufregung. Sie zog zu dieser Gelegenheit ihr bestes Kleid an und ondulierte ihr Haar. Als es läutete, riss sie die Tür mit Schwung auf; „Herr Issiwu“, meldete sie, indem sie mir vertraulich zuzwinkerte und laut verkündete, „da ist Damenbesuch für sie!“ Ich machte Sally und Fräulein Schroeder in aller Form miteinander bekannt. Fräulein Schroeder floss über vor Höflichkeit und sprach Sally wiederholt als „Gnädiges Fräulein“ an. Sally, mit ihrer Liftboykappe über einem Ohr, lachte ihr silbriges Lachen und sank elegant auf das Sofa. Fräulein Schroeder umschwebte sie mit aufrichtiger Bewunderung und voller Staunen. Offenbar hatte sie niemals einen Menschen wie Sally getroffen. […] Sylvester zog Sally bei Fräulein Schroeder ein. […] In den folgenden Wochen waren Sally und ich tagsüber fast immer zusammen, Sie lag in dem großen schmutzigen Zimmer zusammengekauert auf dem Sofa, rauchte, trank Prärieaustern und sprach endlos über die Zukunft. Wenn das Wetter schön war und ich keine Stunden zu geben hatte, 23 schlenderten wir zum Wittenbergplatz, saßen in der Sonne und redeten über die Leute, die vorbeiliefen. Jeder starrte Sally an, ihre kanariengelbe Baskenmütze und ihren schäbigen Pelzmantel, der einem räudigen Hundefell glich. „Ich frage mich“, sagte sie dann gern, „was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass wir alten Penner eines Tages der berühmteste Romanautor und die größte Schauspielerin der Welt sein werden.“ „Sie wären vermutlich sehr erstaunt.“ „Wahrscheinlich werden wir uns an diese Zeit erinnern, wenn wir in unserem Mercedes herumkurven und denken: Eigentlich hatten wir doch ziemlich viel Spaß!“ „Wir hätten ziemlich viel Spaß, wenn wir den Mercedes jetzt hätten.“ Wir redeten unablässig über Reichtum, Ruhm, hochdotierte Verträge für Sally und die Rekordauflagen der Romane, die ich eines Tages schreiben würde. „Ich glaube“, sagte Sally, „es muss wunderbar sein ein Romanautor zu sein. Du bist unheimlich verträumt und ungeschickt und wenig geschäftstüchtig und die Leute meinen, sie könnten dich nach Belieben betrügen – und dann setzt du dich hin, schreibst ein Buch über sie, in dem zeigst du ihnen genau, was für Schweine sie sind und es wird ein riesiger Erfolg und du schwimmst nur so im Geld!“ „Ich vermute, mein Problem ist, dass ich nicht verträumt genug bin …“ „ … wenn ich nur einen wirklich reichen Mann als Liebhaber finden könnte. Lass mich nachdenken … Ich sollte nicht mehr als dreitausend im Jahr verlangen, und eine Wohnung und ein passables Auto. Ich würde alles dafür tun, jetzt in diesem Augenblick, um reich zu sein, Wenn du reich bist, kannst du dir leisten, um einen richtig guten Vertrag zu kämpfen; du bist nicht gezwungen, das erstbeste Angebot anzunehmen … Natürlich würde ich dem Mann, der mich aushält, absolut treu bleiben … “ (1939) 24 25 Dorothea Maria Müller, Markus Schneider, Christoph Bornmüller Christopher Isherwood aus: Christopher And His Kind Kein Ort hätte weniger dekadent aussehen können als das Cosy Corner. Es war simpel, hausbacken und anspruchslos. Der einzige Wandschmuck bestand aus ein paar Fotos von Boxern und Radrennfahrern, die oberhalb der Bar mit Reißnägeln an die Wand gepinnt waren. Geheizt wurde mit einem großen altmodischen eisernen Ofen. Teils wegen der großen Hitze, die von diesem Ofen ausging, teils weil sie wussten, dass dies ihre Kunden erregte, zogen die Jungs ihre Pullover oder Lederjacken aus, öffneten ihre Hemden bis zum Nabel und krempelten ihre Hemden bis zur Achsel hoch. Sie stammten alle aus der Arbeiterschicht und fast alle von ihnen waren arbeitslos. Will man sie als männliche Prostituierte beschreiben, muss man hinzufügen, dass sie im Vergleich mit den professionellen Jungs im Westen der Stadt größtenteils blutige Anfänger waren. Sie wollten Geld, waren aber nicht kalkulierend, unfähig weiter als an morgen zu denken. […] Christopher entwickelte rasch zu vielen der Jungs ein lockeres und vertrautes Verhältnis. Vielleicht erkannten sie seine Jungenhaftigkeit und das machte ihn für sie sympathisch. Er fühlte sich unglaublich frei in ihrer Gegenwart. Er, der auf Englisch nur angedeutet und gestammelt hatte, konnte auf Deutsch geradeheraus nach dem fragen, was er wollte. Weil er die Sprache so schlecht sprach, musste er direkt sein, und die fremden Worte für sexuelle Praktiken hatten nichts mit seinem Leben in England zu tun. […] Was Christopher am meisten erregte – eine Rangelei allmählich zu einem Sexspiel ausarten zu lassen – schien für die deutschen Jungs ganz natürlich zu sein; tatsächlich erregte es auch sie. Vielleicht, weil dies etwas war, was man mit einem Mädchen nicht erleben konnte, jedenfalls nicht unter den gleichen Kräfteverhältnissen; etwas, was sie als Ausdruck von Aggression und Zuneigung unter Männern reizte. Abgesehen von seiner Fähigkeit, für Christopher die Rolle des „German Boy“ und des blonden Hünen zu spielen, spielte Bubi noch eine Rolle, die er für sich selbst kreiert hatte; er war „Der Wanderer“, ein verlorener 26 Junge, heimatlos, ohne einen Pfennig Geld, untätig-verträumt, aber auch zäh und furchtlos, unangefochten von den Härten des Lebens. So sah Bubi sich selbst und so wollte er von Christopher und anderen gesehen werden. Bubis Verletzlichkeit war in Kombination mit seiner zähen Eigenständigkeit ungemein anziehend und irritierte zugleich. Christopher wollte Bubi für alle Zeit nur für sich haben, ihn besitzen mit Haut und Haar, doch er wusste, dass dies unmöglich und absurd war. […] In der Tat machte Christopher Bubi eine Szene, als dieser einmal eine Verabredung platzen ließ. Er trug eine kleine Rede vor, die […] mit den Worten „Ich bin eifersuechtig“ begann. Bubi hörte sie sich geduldig an. Vielleicht konnte er Christophers Gefühle sogar nachvollziehen, denn, wie Wystan später herausfand, hatte Bubi selbst eine Schwäche für Huren, lief ihnen verzweifelt hinterher und gab ihnen jeden Pfennig, den er hatte. War Otto guter Laune, verzauberte er Christopher mit seiner Fähigkeit, das Leben zu genießen. Er liebte es Filme anzuschauen, gut zu essen, Sex zu haben. Wie Christopher selbst, war er ein Schauspieler. Mitten im Liebesspiel konnte er, als sei er einer Ohnmacht nahe, theatralisch hauchen „So möchte ich sterben – genau dabei!“. […] Otto zog Frauen Männern vor, aber in erster Linie war er narzisstisch. Daher hing die Größe seiner Lust hauptsächlich von der Lust seines Partners ab, und Christopher konnte mit den meisten Frauen mithalten, indem er mehr Geilheit an den Tag legte und schamloser war als sie (Ältere Frauen waren eine größere Gefahr als jüngere). „Ich liebe es, wie du aussiehst, wenn du auf mich scharf bist“, sagte Otto immer zu ihm, „deine Augen leuchten dann so.“ […] Christopher gab mehr Geld für Otto aus, als er sich eigentlich leisten konnte, aber Otto achtete darauf, seine Forderungen oder besser: seine zärtlichen Betteleien nicht zu weit zu treiben. Wenn er Christopher überredete, ihm einen neuen Anzug zu kaufen, dann gefiel Christopher dieses Spiel – trotz seines unguten Gefühls. Es war eine Art Verführung und es endete stets mit Belohnungen – finanzieller und erotischer Art. Otto war zweifellos selbstsüchtig. Aber Christopher auch, wie in Goodbye To Berlin klargestellt wird. (1977) Mich berührt’s nicht. Bleib nur – geh. Mich berührt’s nicht. Denn nichts tut mir weh. Hart wie Stein wird das Herz sehr schnell. Ohne Geld wird der Tag niemals hell. D’rum lieb’ mich, küss mich nicht zu sehr. Alles leer. Mich berührt gar nichts mehr. aus: John Kander / Fred Ebb I Don’t Care Much (1966) 28 29 Die „Lasterhaftigkeit“ des Berliner Nachtlebens war eine bedauernswerte: Die Küsse und Umarmungen waren – wie immer – mit Preisschildern versehen, doch hier waren die Preise angesichts einer halsabschneiderischen Konkurrenz in einem übersättigten Markt in extremis reduziert … Das einzige echte Monster war ein junger Ausländer, der fröhlich durch diese Szenen der Trostlosigkeit wanderte und meinte, sie passten zu seinen lächerlich pubertären Phantasien. Ich habe das erst später verstanden – weshalb mein zweites Buch über Berlin zumindest etwas besser ist als mein erstes. Foto ? Christopher Isherwood Vorwort zu Gerald Hamiltons Mr Norris and I (1956) Markus Schneider, Marc Baumann, Nina Bülles, Florian Weigel, Opernchor 30 31 Alfred Polgar Girls Dorothea Maria Müller Claudia Artner, Michael Pegher, Lena Lafrenz, Dorothea Maria Müller, xxxxxxxxxxxxxxx Nina Bülles, Ellen Wawrzyniak Girls nennt man Gruppen von jüngeren Frauen, die bereit sind, ziemlich entkleidet auf einer Bühne genau vorgeschriebene parallele Bewegungen zu machen. Der Zweck ihres Erscheinens und Tuns ist, Zuschauer sinnlich anzuregen und diese hierdurch über das, was sonst auf der Bühne vorgeht, zu trösten. Darbietungen, die durch ein derart elastisches, langes fleischfarbenes Band zusammengehalten werden, heißen Revuen und dienen oft, hierin unterstützt von den Darbietungen des ernsteren Theaters, dazu, den Leuten dieses abzugewöhnen. […] Girl neben Girl gestellt wie die Posten einer Summe machen noch lange keine „Girls“, das macht erst die vollzogene Addition, die Verschmelzung der Einzelwesen zum Kollektivum. Mehrere, sagen wir etwa zwölf weibliche Wesen à zwei Beine, ergeben noch keine Girls. Erst wenn sie ein Wesen mit vierundzwanzig Beinen geworden sind, führen sie den Namen zu Recht. Daß die Girls ein Kollektivum sind, macht ihren besonderen Reiz aus. Das Weibliche erscheint da gereinigt vom Menschlichen, „raffiniert“ im chemischen Sinn des Wortes. Hier findet der Wunschtraum des Mannes, der von vielen Frauen träumt, zumindest durchs Aug’ Erfüllung. […] Noch ein anderer Zauber als der erotische wirkt sich in Erscheinung und Tun der Girls aus: der Zauber des Militärs. Das Einexerzierte, Parallele, Taktmäßige, das Klappern der Griffe und Bewegungen, das Gehorchen einem unsichtbaren, aber unentrinnbaren Kommando, das schöne „Abgerichtet“sein, das Untertauchen des Individuums in die Vielzahl, das Zusammenfassen der Körper zu einem „Körper“ – also da steckt für den Zuschauer der eigentliche Reiz, der ihm das Soldatenspiel so schmackhaft macht; natürlich wiederum nur als Zuschauer. [...] Gespenstisch an den Girls ist, daß sie auch Gesichter haben. Das menschliche Antlitz als Zugabe, als eigentlich sinnloser Annex von Busen, Bauch und Beinen … das ist ein wenig unheimlich. Darum lächeln tüchtige Girls auch ohne Unterlaß, […] zu verstehen gebend, daß ihre Physiognomien sich über die Nebenrolle, die ihnen zugewiesen ist, keineswegs kränken. (1926) 32 In Berlin herrschte Bürgerkrieg. Unvermittelt explodierte Haß, ohne Vorwarnung, aus dem Nichts; an Straßenecken, in Restaurants, in Kinos, Tanzhallen, Schwimmbädern; um Mitternacht, nach dem Frühstück, am hellichten Nachmittag. Messer wurden gezückt, Hiebe ausgeteilt mit Schlagringen, Bierhumpen, Stuhlbeinen oder Gummiknüppeln; Kugeln zerfetzten die Reklame auf den Litfaßsäulen, prallten als Querschläger von den Blechdächern der Pissoirs ab. […] Die Zeitungen waren voll von Fotos der Leichen rivalisierender Märtyrer – Nazis, Reichsbannerleute, Kommunisten. Meine Schüler betrachteten sie, schüttelten den Kopf und entschuldigten sich bei mir für den Zustand Deutschlands. „Oh je, oh je“ sagten sie „schrecklich. So kann es nicht weitergehen“. Die Sensationsreporter und Schnulzenschreiber hatte die deutsche Sprache mit einem Schwulst überzogen, für den es kein Beispiel gab. Das Vokabular der Schmähungen in den Zeitungen (Verräter, Lakai von Versailles, Mörderschwein, marxistischer Gauner, Hitlersumpf, rote Pest) ähnelte durch seine ständige Benutzung allmählich den gestelzten Höflichkeitsfloskeln, derer sich die Chinesen bedienen. Das Wort Liebe hatte sich längst über den von Goethe gesetzten Maßstab emporgeschwungen und war längst nicht mehr den Kuß einer Hure wert. Frühling, Mondschein, Jugend, Rosen, Mädchen, Liebling, Herz, Mai – das war die erbärmlich abgewertere Währung, mit der die Verfasser all jener Tangos, Walzer und Foxtrotts klimperten, die die Flucht ins Private befürworteten. Such dir einen lieben, kleinen Schatz, rieten sie, und vergiß die Krise, übersieh die Arbeitslosen. […] Und Morgen für Morgen erwachten überall in der riesigen, dunstigen, trüben Stadt in den Nissenhüttenkolonien der Vorstadtsiedlungen junge Männer zu einem weiteren Tag ohne Arbeit, um ihn nach bestem Vermögen zu verbringen – verkauften Schnürsenkel, bettelten, spielten in der Halle des Arbeitsamtes Dame, hingen in Pissoires herum, […] sangen für ein paar Groschen auf Hinterhöfen und in der U-Bahn zwischen den Stationen Volkslieder. Nach Neujahr fiel Schnee, blieb aber nicht liegen; mit Schneeschüppen war kein Geld zu verdienen. Christopher Isherwood Mr Norris Changes Trains (1934) 33 Zur Melodie der Habanera aus Carmen zu singen Ob es regnet, ob es hagelt, ob es schneit oder ob es blitzt, ob es dämmert, ob es donnert, ob es friert oder ob du schwitzt, ob es schön ist, ob’s bewölkt ist, ob es taut oder ob es gießt, ob es nieselt, ob es rieselt, ob du hustest, ob du niest: An allem sind die Juden schuld! Die Juden sind an allem schuld! Friedrich Holländer aus der Revue Spuk in der Villa Stern (1931) 34 Petra Welteroth, Marianne Curn, Steven Klopp John Kander / Fred Ebb Cabaret Cabaret – Originalbesetzung der Produktion von 2016 Musikalische Leitung Michael Nündel Regie Nicole Claudia Weber Choreographie Christopher Tölle Bühne und Kostüme Friedrich Eggert Dramaturgie Mark Schachtsiek Chor Thomas Eitler-de Lint Mit: Frl. Schneider Petra Welteroth Sally Bowles Dorothea Maria Müller Clifford Bradshaw Markus Schneider Herr Schultz Thomas Mehnert Der Conférencier Michael Pegher Ernst Ludwig Christoph Bornmüller Frl. Kost / Mausi Marianne Curn Otto Florian Weigel Rosie (Solo in „Two Ladies“) Nina Bülles Viktor (Solo in „Two Ladies“) / Fritz Marc Baumann (H)eidi (Solo in „Money“) Claudia Artner Herrmann / Karl / Gorilla Steven Klopp Inge Ellen Wawrzyniak Helga Lena Lafrenz Ein junger Kellner Khvicha Khozrevanidze / Juri Lawrentiev Franz Nico Reuter / Jonathan Schindler Max Frank Koch / Michael Stuckert Der Barkeeper Ralph Müller / Klaus Wilms Chorsoli „TelefonSong“ Lydia Ackermann, Bruce Miller, Malte Godglück / Werner Volker Meyer, Anja Bildstein / Gabriela Fliegel, Gundula Schulte, Myong-Yong Eom / Christoph Keßler, Ariane Gdanitz / Katja Rollfink Baritonsolo „Morgiger Tag“ Werner Volker Meyer [Mehrfachbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge] Der Opernchor des Staatstheaters Darmstadt Das Staatsorchester Darmstadt Text- und Bildnachweise Die Handlung und das Essay Hier ist das Leben wunderschön schrieb Mark Schachtsiek für dieses Programmheft. | Die historischen Fotos auf S. 13 wurden folgenden Büchern entnommen, die auch das Essay inspiriert haben: Peter Parker Isherwood, London 2004, Norman Page Auden and Isherwood. The Berlin Years, New York 1998, Keith Garebian The Making of Cabaret. Second Edition, New York 2011, Robert Beachy Gay Berlin, New York 2014. | Die Auszüge aus Goodbye To Berlin, Christopher And His Kind sowie dem Vorwort zu Mr Norris and I übersetzte Mark Schachtsiek für dieses Programmheft. | Der Text Girls stammt aus: Alfred Polgar Auswahl. Prosa aus vier Jahrzehnten, Reinbek 1968, S. 186f. | Die Übersetzung von Mr Norris Changes Trains wurde dem Programmheft Cabaret vom Stadttheater Bielefeld Spielzeit 1991/92 entnommen. | | Alle Zitate erscheinen in ihrer ursprünglichen Rechtschreibung, für dieses Programmheft entstandene folgen der aktuellen amtlichen Rechtschreibung. Sollte es uns nicht gelungen sein, alle Urheber ausfindig zu machen, bitten wir die Urheber, sich bei uns zu melden. || Probenfotos: Candy Welz Impressum Spielzeit 2015|16, Programmheft Nr. 20 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-1 www.staatstheater-darmstadt.de | Intendant: Karsten Wiegand | Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz | Redaktion: Mark Schachtsiek | Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt | Ausführung: Hélène Beck | Hersteller: DRACH Print Media GmbH, Darmstadt xxxxxxxxxxxxxxx
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