cabaret - Staatstheater Darmstadt

CABARET
John Kander / Fred Ebb
Cabaret
Musical in zwei Akten
Buch von Joe Masterhoff nach dem Stück „Ich bin eine Kamera“
von John van Druten und Erzählungen von Christopher Isherwood
Gesangstexte von Fred Ebb – Musik von John Kander
Originalproduktion am Broadway unter der Leitung von Harold Prince
Deutsch von Robert Gilbert
Dialoge in deutscher, Songtexte in deutscher und englischer Sprache
Premiere am 30. Januar 2016, 19.30 Uhr
Staatstheater Darmstadt, Großes Haus
Premiere der Originalproduktion:
20. November 1966, Imperial Theatre New York City
Lena Lafrenz,
Marianne
Curn,
Ellen
Wawrzyniak,
Michael
Pegher,
Lena
Lafrenz,Steven
StevenKlopp,
Klopp,
Marianne
Curn,
Ellen
Wawrzyniak,
Michael
Pegher,
Marc Baumann,
Florian
Weigel,
Claudia
Artner
Marc
Baumann,Nina
NinaBülles,
Bülles,
Florian
Weigel,
Claudia
Artner
Der Conférencier heißt die Gäste in „Cabaret“ willkommen und verspricht
einen unbeschwert-frivolen Abend im Berlin der späten Weimarer Republik
(„Willkommen“).
Sylvester 1929, kurz nach Beginn der Weltwirtschaftskrise: Ein junger
amerikanischer Schriftsteller aus gutem Hause namens Clifford Bradshaw
kommt nach Berlin. Am Bahnhof lernt er den jungen Deutschen Ernst
Ludwig kennen, der mit Cliffs Unterstützung eine Aktentasche am Zoll
vorbeischmuggelt. Er wird sein erster Berliner Freund.
Auf Ernsts Empfehlung wird Cliff Mieter im größten Zimmer der einst
großbürgerlichen, aber nun heruntergekommenen Wohnung von
Fräulein Schneider, einer Frau Mitte 50, die in der Inflation ihr Vermögen,
nicht aber ihren Humor verloren hat („Na und“). Als weitere Mieter
lernt er die Prostituierte Fräulein Kost und den jüdischen Obsthändler Herrn
Schultz kennen.
Ins neue Jahr feiert Cliff in einem jener Cabarets, für die das Berlin der
späten 1920er Jahre ebenso berühmt wie berüchtigt ist: Es bietet neben
Tischtelefonen für den solventen Gast jedweder sexuellen Vorliebe ein
reichhaltiges Angebot an Mädchen und Jungs. Cliff trifft auf den Berliner
Arbeiterjungen Otto, in dem er augenblicklich die Chance zur Erfüllung
seiner geheimsten Wünsche sieht („Telefon-Song“).
Während ihres Showauftritts als ungezogenes Schulmädchen („Don’t
Tell Mama / Mama darf nichts wissen“) hat Sally Bowles den attraktiven
jungen Amerikaner im Publikum entdeckt. Auf eine Begegnung mit einem
wichtigen Hollywoodproduzenten hoffend, wählt sie die Nummer von
Cliffs Tischtelefon. Amüsiert lässt er sich aus einer Laune heraus auf ihr
Flirtangebot ein, bis sie von Max, dem Besitzer des Cabarets und
ihrem derzeitigen Liebhaber, weggerufen wird. Unvorsichtigerweise hat
er ihr da bereits seine Adresse verraten.
Der Conférencier erklärt dem Publikum, die neueste Berliner Mode
seien Beziehungen zu dritt („Two Ladies“).
Am nächsten Morgen platzt Ernst in die Zweisamkeit von Cliff und Otto.
Doch auch der geplante Englischunterricht kann nicht stattfinden – denn
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plötzlich steht Sally in Cliffs Zimmer, pleite und mit ihrer gesamten Habe.
Sie versucht, ihn nach allen Regeln der Kunst zu verführen, bis sie schließlich
begreift, dass er nicht auf Frauen steht. Mit großem Charme vermittelt sie
ihm, dass das kein Problem ist. Und sie beschließen fortan als gute Freunde
Zimmer und Bett zu teilen („Perfectly Marvellous / Einmalig himmlisch“).
Es ist Frühling geworden. Herr Schultz macht Fräulein Schneider den Hof
und bringt sie mit einem ganz besonderen Geschenk in Verlegenheit: einer
Ananas („Nichts wäre mir so lieb“). Im Cabaret singen die Kellner beim
Aufräumen ein patriotisches Volkslied („Der morgige Tag ist mein“).
Cliff genießt das Leben mit Sally an seiner Seite und Otto und anderen
Jungs in seinem Bett aus vollen Zügen. Gemeinsam ziehen sie durchs
Berliner Nachtleben und lassen keine Gelegenheit aus, sich zu amüsieren
und Sex zu haben – zumindest solange ihr Geld dafür ausreicht. Doch
heute ist Sally schlecht drauf und will ausziehen. Nach einigem Zögern
gesteht sie Cliff, dass sie schwanger ist und nicht einmal weiß von wem.
Cliff realisiert, dass sogar er der Vater sein könnte und bittet sie, auf eine
Abtreibung zu verzichten. Er will mit ihr leben und sich um das Kind
kümmern. Sally hofft, in Cliff den Partner fürs Leben gefunden zu haben
(„Vielleicht diesmal / Maybe This Time“).
Um für seine künftige Familie sorgen zu können, beschließt Cliff,
für Ernst zu schmuggeln. Im Cabaret findet derweil eine Privatvorführung
für ein paar reiche Ausländer statt. Der Conférencier kommentiert, es
gebe vielerlei Möglichkeiten, zu Geld zu kommen: Man kann seine moralische Integrität verkaufen, seinen Körper oder die Körper von anderen …
(„Sitting Pretty / Money“).
Fräulein Kost überrascht Fräulein Schneider und Herrn Schultz in
einer kompromittierenden Situation. Daraufhin macht er Fräulein Schneider
einen Heiratsantrag („Heirat“).
Cliff will mit aller Macht an eine glückliche Zukunft mit Sally und
ihrem Kind glauben („Wer will schon wach sein“). Er löst sich von seinem
bisherigen Leben, indem er Otto ein letztes Mal für seine Dienste bezahlt
(„Mich berührt’s nicht“).
Handlung
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Auf der Verlobungsfeier von Fräulein Schneider und Herrn Schultz
kommt es zu einem Eklat, als Ernst von Fräulein Kost erfährt, dass Herr
Schultz Jude ist. Cliff begreift, dass er für die Nazis geschmuggelt hat.
Um Ernst zu zeigen, dass er mit seiner politischen Haltung nicht allein ist,
stimmt Fräulein Kost ein patriotisches Lied an. Ein Verlobungsgast
nach dem anderen beginnt mitzusingen; das Lied entpuppt sich als Parteimarsch der Nationalsozialisten („Der morgige Tag“ Reprise).
Pause
Im Cabaret tanzt eine Girlreihe („Kickline“).
Fräulein Schneider überlegt angesichts der poltitischen Verhältnisse
auf die Hochzeit zu verzichten. Herr Schultz hat sie fast beruhigt, als es zu
einem rechten Angriff auf seinen Obstladen kommt („Heirat“ Reprise).
Der Conférencier plädiert für den Abbau rassistischer Vorurteile und
präsentiert seine neue Liebe: einen Gorilla („Säht ihr sie / If You Could
See Her“).
Cliff kann nicht fassen, dass Fräulein Schneider ihre Verlobung gelöst
hat. Doch sie findet, er solle sich erst einmal in ihre Lage versetzen („Was
würd’st du tun?“).
Da Cliff sich weigert, weiter für Ernst zu schmuggeln, will Sally wieder
auftreten. Doch Cliff will angesichts der politischen Lage nicht in Berlin
bleiben: Er beschließt, mit Sally nach Amerika zu gehen, und stürzt
davon, um Fahrkarten zu kaufen. Alleine zurückgeblieben sieht Sally
keine Zukunft für sich mit Cliff. Sie entscheidet, auf das Kind zu verzichten und ins Cabaret zurückzukehren („I Don’t Care Much“).
Sally ist nicht nach Hause gekommen. Cliff findet sie im Cabaret und
erfährt von ihr, dass sie abgetrieben hat. Sie konfrontiert ihn mit den
Widersprüchen in seinem Selbstentwurf als treusorgender Familienvater
und lässt ihn dann stehen. Aufgebracht legt er sich mit Ernst an. Auf der
Bühne verteidigt Sally ihre Lebensphilosophie („Cabaret“).
Cliff verlässt Berlin und beginnt über seine Erlebnisse dort zu schreiben:
die Geschichte, die der Conférencier soeben präsentiert hat („Finale“).
Dorothea Maria Müller, Markus Schneider
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Mark Schachtsiek
„Hier ist das Leben wunderschön“
Die späte Weimarer Republik als Spiegel der eigenen Zeit
Lügen wir uns,
trügen wir uns,
in eine Welt hinein
und lass uns dann
in dieser Welt ganz verzaubert
Prinz und Prinzessin sein.
Du bist aus Gold,
ich bin aus Gold
und unser Tag ist froh,
vergessen der Student im
Dachstübchen
und das Mädelchen vom Büro!
Eine kleine Sehnsucht
braucht jeder zum glücklich sein,
eine kleine Sehnsucht,
ein wenig Sonnenschein,
eine Sehnsucht für den grauen Tag,
eine Sehnsucht, ganz egal wonach …
Eine kleine Sehnsucht,
ein flüchtiges Traumgebild’ ,
eine Sehnsucht,
die sich niemals erfüllt.
aus: Friedrich Hollaender
Eine kleine Sehnsucht (1930)
Cabaret ist das etwas andere Erfolgsmusical. Entstanden in einer Zeit, in
der sich das traditionelle amerikanische Unterhaltungstheater deutlich
im Niedergang befand und zahlreiche große Broadwaytheater in Stripclubs
oder Pornokinos umgewandelt wurden, gelang es mit ihm, ein neues
Musical-Publikum zu gewinnen, ohne das alte zu verlieren. Es verknüpfte
gekonnt eine emotional bewegende Geschichte mit nostalgischer Aura,
erotischen Tanznummern, prickelnden Dialogen und, nicht zuletzt,
einem politischen Anliegen.
Seine Broadway-Premiere erlebte Cabaret 1966, in einer Zeit heftiger
Auseinandersetzungen um die Gleichberechtigung der Schwarzen,
kurz nach dem Marsch auf Selma, den Ausschreitungen von Little Rock,
Arkansas und der Ermordung Martin Luther Kings jr. Angesichts eines
ökonomischen Abschwungs und steigender Arbeitslosenzahlen befürchteten viele eine Rückkehr von Zuständen wie während der Großen
Depression der 1930er Jahre und prophezeiten den USA „Weimarer Verhältnisse“. Zugleich war es die Zeit der ersten erfolgreichen Produktionen
von Stücken Bertolt Brechts in New York. Seine epische Spielweise war eine
wichtige Inspirationsquelle für die Struktur von Cabaret und die kommentierende Funktion der Nummern des Conférenciers.
In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Harold Prince, dass ihn
am Cabaret-Stoff keineswegs die Figur der Sally Bowles anzog. Die wichtigste
Inspiration stammte aus seiner eigenen Armeezeit in Deutschland; 1951
war er in Stuttgart stationiert gewesen und hatte regelmäßig das Maxim’s
besucht, einen Nachtclub in den Ruinen der Keller einer alten Kirche.
Dort moderierte ein zwergenhafter Conférencier, desillusioniert und zynisch
tanzte er und dirigierte vier übergewichtige Walküren als Showgirls. Prince
machte ihn zum Zentrum seiner Erzählung eines vom verlorenen Krieg,
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der Inflation und der Armut ausgebrannten Deutschlands, das moralisch
korrumpiert, fehlgeleitet und despotisch im Nationalsozialismus neue
Stärke zu finden sucht.
Diese Atmosphäre klang für die Autoren aus den pointierten und oft
zynischen Chansons der 1920er und frühen 1930er Jahre von Friedrich
Hollaender, Mischa Spolianski, Kurt Weill und anderen, sie fanden sie
aber auch in der Literatur der „Neuen Sachlichkeit“, die 1924, also parallel
zum Ende der galoppierenden Geldentwertung, den Expressionismus
abgelöst hatte. Kühl seziert sie den modernen Menschen, der sich keine
Emotionen mehr erlaubt, und bringt angesichts der Inflationserfahrung,
dass der soziale Absturz jederzeit jeden treffen kann und moralische
Integrität keinen Schutz bietet, dem von der bürgerlich-liberalen Vorkriegsgesellschaft so gefeierten Individuum und seinen (Liebes-)Sehnsüchten
nur noch milde Verachtung entgegen.
Für ihre Geschichte griffen die Autoren auf die berühmteste Beschreibung
des Berlins der 1930er Jahre in englischer Sprache zurück. Der 1904
geborene Christopher William Bradshaw-Isherwood, britischer Schriftsteller
aus gutem Hause, hatte im März 1929 zwei Wochen lang einen ebenfalls
britischen Freund, den Dichter W. H. Auden, in Berlin besucht und sich
sofort in die Stadt und die erotischen Möglichkeiten, die sie ihm als
Homosexuellen bot, verliebt. Rückblickend beschrieb er den Tag, an dem
er sich im Cosy Corner, einer Stricherkneipe in der Nähe des Halleschen
Tores, „Bubi“, einen Berliner Arbeiterjungen namens Berthold Szczesny,
ausgesucht hatte, als den wichtigsten seines Lebens. Als typischer Vertreter
der britischen Oberschicht seiner Zeit war er unfähig gewesen, sich
mit einem Standesgenossen sexuell zu entspannen; nur in den Armen
eines Ausländers aus der Unterschicht konnte er zu sich und seiner sexuellen
Identität finden.
So kehrte er am 29. November 1929 zurück und bis 17. Mai 1933 blieb
die deutsche Reichshauptstadt sein Hauptwohnsitz. Sein Aufenthalt
umfasst also die gesamte letzte Phase der Weimarer Republik; als er dort
ankam, begann man in Deutschland langsam die Auswirkungen des
New Yorker Börsencrash vom 24. Oktober 1929 und den Beginn der Welt-
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wirtschaftskrise zu spüren, die die wirtschaftliche Scheinblüte der „Goldenen
Zwanziger“ im Anschluss an die Inflation beendete. Als er Berlin verließ,
war Hitler seit dreieinhalb Monaten Reichskanzler und die ersten Verhaftungswellen, Razzien und Boykotte jüdischer Geschäfte in vollem
Gange. Die politischen Umwälzungen dieser dreieinhalb Jahre reflektiert
auch Cabaret.
Bald nach seiner Ankunft hatte Isherwood den Plan zu einem großen
Roman über den geistigen Zustand Deutschlands gefasst, der Die Verlorenen
heißen sollte, und umfangreiche Tagebuchnotizen über seine Begegnungen
mit Berlinern verfasst, die die Basis der Hauptfiguren bilden sollten.
Da das Material jedoch zu umfangreich wurde, entstanden zwei Romane:
zunächst 1934 Mr Norris Changes Trains über einen Schmuggler und
politischen Strippenzieher, hinter dem sich die schillernde Persönlichkeit
von Gerald Hamilton verbirgt, dann 1936–39 Goodbye To Berlin, ein
Episodenroman in sechs eigenständigen Kapiteln, der die Entwicklung
Deutschlands zwischen 1929 und 1933 anhand von Figuren aus den
unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus nachzeichnet. Zu ihnen
gehören Sally Bowles, eine junges modern gesinntes englisches Mädchen,
das ununterbrochen mit seinen sexuellen Abenteuern prahlt, von einer
Filmkarriere träumt und sich für eine Abtreibung entscheidet, als sie
schwanger wird – ihr ist das zweite Kapitel gewidmet – und Otto Nowak,
ein arbeitsloser Berliner Arbeiterjunge, der sich von einem homosexuellen
Engländer aushalten lässt, dann aber im Erzähler einen echten Freund
findet, im dritten und vierten Kapitel. Sally basiert vor allem auf Isherwoods
Freundin Jean Ross, die eine Weile bei der gleichen Zimmerwirtin wie
er wohnte; Otto ist ein Portrait von Isherwoods eigener längerer Liebschaft
auf finanzieller Basis mit dem Arbeiterjungen Walter Wolff, was der Text
aber natürlich – zeit- und zensurbedingt – kunstvoll verschleiert (Man
darf nicht vergessen, das selbst im Berlin der Weimarer Republik, in dem
homosexuelle Bars und Clubs von der Polizei wohlwollend geduldet
wurden, „beischlafähnliche Handlungen“ unter Männern gemäß §175 des
Strafgesetzbuchs strafbar waren; in England waren die Gesetze noch
schärfer). Gemeinsam ist beiden Romanen einerseits das liebevolle Portrait
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von Isherwoods Zimmerwirtin in der Schöneberger Nollendorffstraße
Meta Thurau, die dort als Frl. Schroeder (und im Musical als Fräulein
Schneider) erscheint und andererseits der Protagonist. Er ist derselbe,
auch wenn er im einen Roman William Bradshaw und im anderen
Christopher Isherwood heißt. Beide Figuren sind ein ironisches Selbstportrait des Autors, der damit kokettiert, in einer extrem sexualisierten
und politisierten Welt ein Mann ohne politische Haltung und sexuelle
Begierden zu sein. An seiner Stelle durfte sich Sally Bowles, die neben
Zügen von Jean Ross auch solche von Walter Wolff und Isherwood selbst
aufweist, exzessiv sexuell ausleben. Sie ist eine Frau, doch abgesehen
von ihrer Schwangerschaft könnte ihre Geschichte durchaus die eines
schwulen Mannes sein (Ihre wichtigste Affäre in Goodbye To Berlin,
die mit dem reichen Amerikaner Clive, ist Isherwoods eigene mit einem
verheirateten, aber ausschließlich an Männern interessierten Amerikaner
namens John Blomshield, der im Sommer 1931 Berlin besuchte und ihn
finanziell so aushielt, wie er bislang die Arbeiterjungen ausgehalten hatte).
In dieser Form wurde Goodbye To Berlin ein riesiger Erfolg und Sally
Bowles zu einer Ikone des Frauenbilds dieser Zeit.
Der homoerotische Subtext von Isherwoods Berlinromanen ist in allen
Bearbeitungen des Stoffes präsent, auch wenn er erst 1977 von Isherwood
selbst in seinem Buch Christopher And His Kind (Christopher und seine
Artgenossen) explizit offengelegt wurde. 1966 wäre ein schwuler Protagonist
am Broadway undenkbar gewesen und so wurde aus dem kühl beobachtenden homosexuellen britischen Schriftsteller Christopher Isherwood im
Musical der heterosexuelle, politisch zupackende amerikanische Schriftsteller Clifford Bradshaw, der für ein amerikanisches Publikum der 1960er
Jahre bessere Identifikationsmöglichkeiten bot. Während der Christopher
des Romans nur als Vater von Sallys ungeborenem Kind ausgegeben wird,
schwängert der Clifford der Uraufführungsfassung sie selbst – das war
eine Vorgabe des Produzenten, wie es heißt. Dafür wurde der Conférencier,
gespielt von Joel Grey, als androgyne Figur gestaltet und ein schwules
Pärchen, Bobby und Viktor, zum Personal der Nebenfiguren im Cabaret
hinzugefügt.
Die Freunde W. H. Auden, Christopher Isherwood
und Stephen Spender, um 1930
Christopher Isherwood
in Berlin, ca. 1931
Berthold „Bubi“ Szeczeny –
Isherwoods erste Berliner Liebe
Jean Ross in Berlin –
Das Vorbild für Sally Bowles
Walter Wolff und
Christopher Isherwood
in Berlin
Die Jungs aus dem Cosy Corner –
Ein Foto aus dem Isherwood-Nachlass
Bis zur Cabaret-Verfilmung durch Bob Fosse, die Liza Minelli als Sally
Bowles 1972 zum Star machte, hatten sich die Zeiten geändert. Isherwood
war dank A Single Man (Der Einzelgänger, 1964), dem ersten Roman
über eine homosexuelle Beziehung, in der Homosexualität nicht als Problem
dargestellt wird, zu einer Ikone der Schwulenbewegung geworden und
das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe höchst aktuell. Clifford Bradshaw
wurde zu Brian Roberts, einem bisexuellen Engländer, der zwar mit
Sally ein sexuelles Erweckungserlebnis hat, sich dann aber von einem ihrer
Liebhaber verführen lässt. Seither ist Joe Masterhoffs Buch immer wieder
bearbeitet worden, zum einen, um es zu ermöglichen, berühmte Nummern,
die erst für den Film komponiert wurden wie Money, Maybe This Time
und Mein Herr in die Bühnenfassung einzufügen, zum anderen aber auch,
um die erzählte Geschichte rund um den jungen Romanautor, der nach
Berlin kommt, wieder den realen Erlebnissen Isherwoods und der Erwartungshaltung von Zuschauern, die den Film kennen und lieben, anzunähern.
Für das Broadway Revival von 1998 hat Masterhoff sein Buch selbst
dahingehend neu überarbeitet, dass Clifford (wie er noch immer heißt)
deutlich als homosexuell sichtbar wird und Cabaret vom Berlin der
Weimarer Republik als Ort sexueller Freiheit erzählt.
Die ursprünglichen politischen Implikationen des Musicals sind demgegenüber in den letzten Jahrzehnten in den Hintergrund getreten,
ohne dass sie ganz verschwunden wären. Es wird nicht mehr, wie in der
Uraufführungsfassung, impliziert, dass der ichbezogene Hedonismus
einer Sally Bowles (und damit Homosexualität) in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus steht und sich Clifford von
diesem löst, wenn er nach seiner Schlägerei mit dem Nazi Ernst Ludwig
Berlin Richtung Amerika verlässt. Stattdessen steht im Zentrum der
Beziehung Sally-Clifford die Frage, welchen Status Liebe, sexuelles Begehren
und ein Kinderwunsch für eine emanzipierte Frau und einen homosexuellen Mann haben können – in den Zeiten des Kampfes um ein Adoptionsrecht für homosexuelle Paare ein höchst aktuelles Thema.
Isherwood selbst hat nie von einer Familie geträumt, wie es Cliff
in Masterhoffs jüngster Cabaret-Fassung tut. Doch in seinem engsten
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Freundeskreis gab es genau diesen inneren Konflikt zwischen sexueller
Orientierung und Lebensentwurf. Stephen Spender, der in Hamburg
lebte, während Isherwood in Berlin war und über ihre Freundschaft einen
Roman schrieb, entschied sich 1936 dafür, seinen Freund zu verlassen
und eine Frau zu heiraten. Isherwood hatte dafür nur Verachtung übrig;
er konnte nicht ertragen, dass jemand aus ihrem „Club“ desertierte.
Um gegen die gesellschaftlichen Regeln der Elterngeneration zu rebellieren,
konnte man als britischer Oberschichtintellektueller ihrer Generation
offenbar nur dreierlei tun: Katholik, Kommunist oder offen homosexuell
werden. Spender war auf einmal nichts mehr davon.
In allen Bühnenfassungen von Cabaret unverändert geblieben ist dagegen
die Geschichte von Fräulein Schneider und ihrem jüdischen Verehrer
Herrn Schultz, dessen galantes Werben wohl auf dem von Mr Norris in
Isherwoods erstem Roman beruht, auch wenn er eine Erfindung der
Autoren des Musicals war (Im Film wurde auf ihn zugunsten von Isherwoods
eigenem Kapitel zum Thema Antisemitismus, der Geschichte der jüdischen
Kaufhauserbin Natalia Landauer verzichtet). Die Geschichte der Zimmerwirtin war immer nahe an der historischen Wirklichkeit und überzeugt
bis heute, auch dank Lotte Lenya, der aus Deutschland in die USA emigrierten Witwe Kurt Weills, die das erste Fräulein Schneider war und starken
Einfluss auf die Gestaltung der Figur nahm. Die historisch genaue Zeichnung
dieser Repräsentantin des verarmten deutschen Bildungsbürgertums ist
anrührend und doch begreift man, dass genau dieses Verhalten den Antisemitismus und Rassismus der anderen ermöglicht, wenn sie Clifford und
uns, das Publikum, fragt: „Was würd’st du tun?“.
Vielleicht ist es 2016 an der Zeit, genauer auf das zynische doppelte
„Willkommen“ des Conférenciers zu Beginn und am Ende des Stückes zu
hören. Wer wird da, mit welchen Implikationen, in Deutschland willkommen geheißen und wer bald schon, nachdem Clifford Berlin verlassen hat
und die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Gesellschaft
eskaliert sind, nicht mehr? Jede Zeit hat ihre eigenen Parallelen zu den
Jahren 1929–33 in Deutschland.
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Nina Bülles, Marc Baumann, Marianne Curn, Opernchor
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Thomas Mehnert, Petra Welteroth
Wie viele andere Opfer der Inflation aus dem Bürgertum hatte Fräulein
Thurau schon rosigere Zeiten erlebt und die Tatsache, dass sie sich
gezwungen sah, Dienstbotenarbeit zu verrichten, die ihrem ehemaligen
Status als „Gnädige Frau“ keineswegs entsprachen, erfüllte sie mit
bitterer Belustigung. („Wärest Du eine deutsche Frau deiner sozialen Herkunft“, hatte Christopher [seiner Mutter] Kathleen einmal wütend
an den Kopf geworfen, „dann würdest du wahrscheinlich gerade ein Bordell
führen!“) Das arme Fräulein Thurau hätte es mit einem Bordell weitaus
besser getroffen, als mit ihrer Wohnung voller heruntergekommener
Mieter – Bobby, dem Barkeeper, Fräulein Kost, die auf den Strich ging,
Fräulein Mayr, der arbeitslosen Jodlerin nationalsozialistischer Gesinnung.
Sie alle waren regelmäßig mit der Miete im Rückstand.
Fräulein Thurau und Christopher mochten einander sofort. […] Sie
ereiferte sich gern über den lasterhaften Lebenswandel Berlins, doch in
Wirklichkeit konnte nichts sie wirklich schockieren. Sie hatte eine
schlechte Meinung von Otto, den sie für einen Schmarotzer auf Christophers
Kosten hielt, doch sie hatte keinerlei Einwände gegen das, was die
beiden in ihrer Wohnung miteinander anstellten. Sie schlief auf dem Sofa
in dem von allen als Wohnzimmer genutzten Durchgangszimmer
zwischen Vorderhaus und Seitenflügel und konnte deshalb alles, was in
den Schlafzimmern um sie herum vorging, mithören. Wenn Christopher
nach einer Nacht, in der er sich ausgiebiger und geräuschvoller als
gewöhnlich verlustiert hatte, den Kopf durch die Tür steckte, um ihr
„Guten Morgen!“ zu sagen, verdrehte sie die Augen und bemerkte mit
einem schelmischen Lächeln: „Wie süß doch die Liebe sein muss …“
Auch Fräulein Kosts Gewerbe missbilligte sie nur, wenn sie aus anderen
Gründen wütend auf sie war. Eine Unterkunft wie die bei Fräulein
Thurau, in der man in sexueller Hinsicht tun und lassen konnte, was man
wollte, nannten die Berliner „sturmfrei“.
Christopher Isherwood Christopher And His Kind (1977)
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Christopher Isherwood
aus:
Einer hat zärtliche Hände,
einer packt kräftiger zu.
Wenn ich den Richtigen fände,
brächt’ er mir auch keine Ruh.
Bin ich bei einem geborgen,
glücklich, zufrieden und still,
lockt mich ein anderer morgen:
Nie hab’ ich das, was ich will.
Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre;
ich bin doch zu schade, für einen allein.
Wenn ich jetzt g’rad dir Treue schwöre,
wird wieder ein and’er ganz unglücklich sein.
Ja, soll denn etwas so Schönes nur einem gefallen?
Die Sonne, die Sterne, gehör’n doch auch allen!
Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre.
Ich glaub’, ich gehöre nur mir ganz allein.
aus: Robert Liebmann / Friedrich Hollaender
Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre (1932)
Goodbye To Berlin
„Bin ich sehr viel zu spät, Fritz Darling?“
„Nur eine halbe Stunde, denke ich.“ Fritz strahlte vor Besitzerstolz.
„Darf ich vorstellen: Herr Isherwood – Fräulein Bowles. Herrn Isherwood
kennt man allgemein als ‚Chris’. ‘
„Stimmt nicht“, sagte ich, „Fritz ist ungefähr der einzige, der mich jemals
Chris genannt hat.“
Sally lachte. Sie trug schwarze Seide und dazu ein kleines Cape über den
Schultern und hatte ihre kleine Kappe keck wie ein Liftboy auf eine Seite
gerückt.
„Stört es dich, wenn ich dein Telefon benutze, Süßer?“
„Klar. Bedien’ dich.“ Fritz warf mir einen Blick zu. „Komm ins andere
Zimmer, Chris. Ich will dir etwas zeigen.
Ganz offensichtlich brannte er darauf, meinen ersten Eindruck von Sally,
seiner neuen Eroberung, zu hören.
„Um Himmels Willen, lasst mich mit diesem Mann nicht allein!“ rief
sie aus. „Sonst wird er mich hier und jetzt durchs Telefon verführen. Er
ist furchtbar leidenschaftlich!“
Während sie wählte, bemerkte ich, dass ihre Fingernägel smaragdgrün
lackiert waren, eine unglücklich gewählte Farbe, denn sie lenkte die
Aufmerksamkeit auf ihre Hände, die vom Zigarettenrauchen verfärbt
und schmutzig wie die eines kleinen Mädchens waren. […]
„Hallo“, gurrte sie und spitzte ihre leuchtend kirschroten Lippen, als wolle
sie den Hörer küssen, „Ist das Du, mein Liebling?“ Ihr Mund öffnete sich
zu einem töricht süßen Lächeln. Fritz und ich sahen ihr zu, wie in einer
Theatervorstellung. „Was wollen wir machen, Morgen Abend? Oh, wie
wunderbar … Nein, nein, ich werde bleiben Heute Abend zu Hause. Ja, ja,
ich werde wirklich bleiben zu Hause … Auf Wiedersehen, mein Liebling …“
Sie legte den Hörer auf und wandte sich triumphierend zu uns um.
„Das ist der Mann, mit dem ich letzte Nacht geschlafen habe“, verkündete sie.
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„Er ist großartig im Bett. Und ein genialer Unternehmer und unglaublich
reich …“ Sie kam und setzte sich neben Fritz auf das Sofa, ließ sich
mit einem Seufzer in die Kissen sinken: „Gib mir Kaffee, sei so lieb,
Darling. Ich sterbe vor Durst.“ […]
Dann musste Sally gehen. „Ich sollte um fünf einen Mann im Adlon treffen“,
erklärte sie. „Und es ist schon sechs! Sei’s drum, es tut dem alten Schwein
gut, ein bisschen zu warten. Er will, dass ich seine Geliebte werde, aber ich
habe ihm gesagt, dass ich den Teufel tun werde, bevor er alle meine
Schulden bezahlt hat. Warum sind Männer immer solche Biester?“ Sie
öffnete ihre Handtasche und zog rasch ihre Lippen und Augenbrauen
nach. „Ach übrigens, Fritz, sei ein Engel und leih’ mir zehn Mark. Ich
habe keinen Pfennig mehr für’s Taxi.“
„Natürlich!“ Fritz griff in die Tasche und zahlte ohne jedes Zögern, wie
ein Held.
An dem Nachmittag, an dem Sally zum Tee zu mir kam, war Fräulein
Schroeder außer sich vor Aufregung. Sie zog zu dieser Gelegenheit
ihr bestes Kleid an und ondulierte ihr Haar. Als es läutete, riss sie die Tür
mit Schwung auf; „Herr Issiwu“, meldete sie, indem sie mir vertraulich
zuzwinkerte und laut verkündete, „da ist Damenbesuch für sie!“
Ich machte Sally und Fräulein Schroeder in aller Form miteinander bekannt.
Fräulein Schroeder floss über vor Höflichkeit und sprach Sally wiederholt
als „Gnädiges Fräulein“ an. Sally, mit ihrer Liftboykappe über einem Ohr,
lachte ihr silbriges Lachen und sank elegant auf das Sofa. Fräulein
Schroeder umschwebte sie mit aufrichtiger Bewunderung und voller Staunen.
Offenbar hatte sie niemals einen Menschen wie Sally getroffen. […]
Sylvester zog Sally bei Fräulein Schroeder ein. […] In den folgenden
Wochen waren Sally und ich tagsüber fast immer zusammen, Sie lag in
dem großen schmutzigen Zimmer zusammengekauert auf dem Sofa,
rauchte, trank Prärieaustern und sprach endlos über die Zukunft.
Wenn das Wetter schön war und ich keine Stunden zu geben hatte,
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schlenderten wir zum Wittenbergplatz, saßen in der Sonne und redeten
über die Leute, die vorbeiliefen. Jeder starrte Sally an, ihre kanariengelbe
Baskenmütze und ihren schäbigen Pelzmantel, der einem räudigen
Hundefell glich.
„Ich frage mich“, sagte sie dann gern, „was sie wohl sagen würden, wenn
sie wüssten, dass wir alten Penner eines Tages der berühmteste Romanautor und die größte Schauspielerin der Welt sein werden.“
„Sie wären vermutlich sehr erstaunt.“
„Wahrscheinlich werden wir uns an diese Zeit erinnern, wenn wir in
unserem Mercedes herumkurven und denken: Eigentlich hatten wir doch
ziemlich viel Spaß!“
„Wir hätten ziemlich viel Spaß, wenn wir den Mercedes jetzt hätten.“
Wir redeten unablässig über Reichtum, Ruhm, hochdotierte Verträge für
Sally und die Rekordauflagen der Romane, die ich eines Tages schreiben
würde. „Ich glaube“, sagte Sally, „es muss wunderbar sein ein Romanautor
zu sein. Du bist unheimlich verträumt und ungeschickt und wenig
geschäftstüchtig und die Leute meinen, sie könnten dich nach Belieben
betrügen – und dann setzt du dich hin, schreibst ein Buch über sie,
in dem zeigst du ihnen genau, was für Schweine sie sind und es wird ein
riesiger Erfolg und du schwimmst nur so im Geld!“
„Ich vermute, mein Problem ist, dass ich nicht verträumt genug bin …“
„ … wenn ich nur einen wirklich reichen Mann als Liebhaber finden
könnte. Lass mich nachdenken … Ich sollte nicht mehr als dreitausend
im Jahr verlangen, und eine Wohnung und ein passables Auto.
Ich würde alles dafür tun, jetzt in diesem Augenblick, um reich zu sein,
Wenn du reich bist, kannst du dir leisten, um einen richtig guten
Vertrag zu kämpfen; du bist nicht gezwungen, das erstbeste Angebot
anzunehmen … Natürlich würde ich dem Mann, der mich aushält,
absolut treu bleiben … “ (1939)
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Dorothea Maria Müller, Markus Schneider, Christoph Bornmüller
Christopher Isherwood
aus: Christopher
And His Kind
Kein Ort hätte weniger dekadent aussehen können als das Cosy Corner.
Es war simpel, hausbacken und anspruchslos. Der einzige Wandschmuck
bestand aus ein paar Fotos von Boxern und Radrennfahrern, die oberhalb
der Bar mit Reißnägeln an die Wand gepinnt waren. Geheizt wurde mit
einem großen altmodischen eisernen Ofen. Teils wegen der großen Hitze,
die von diesem Ofen ausging, teils weil sie wussten, dass dies ihre Kunden
erregte, zogen die Jungs ihre Pullover oder Lederjacken aus, öffneten ihre
Hemden bis zum Nabel und krempelten ihre Hemden bis zur Achsel hoch.
Sie stammten alle aus der Arbeiterschicht und fast alle von ihnen waren
arbeitslos. Will man sie als männliche Prostituierte beschreiben, muss
man hinzufügen, dass sie im Vergleich mit den professionellen Jungs im
Westen der Stadt größtenteils blutige Anfänger waren. Sie wollten Geld,
waren aber nicht kalkulierend, unfähig weiter als an morgen zu denken. […]
Christopher entwickelte rasch zu vielen der Jungs ein lockeres und vertrautes Verhältnis. Vielleicht erkannten sie seine Jungenhaftigkeit und das
machte ihn für sie sympathisch. Er fühlte sich unglaublich frei in ihrer
Gegenwart. Er, der auf Englisch nur angedeutet und gestammelt hatte,
konnte auf Deutsch geradeheraus nach dem fragen, was er wollte. Weil er
die Sprache so schlecht sprach, musste er direkt sein, und die fremden
Worte für sexuelle Praktiken hatten nichts mit seinem Leben in England
zu tun. […] Was Christopher am meisten erregte – eine Rangelei allmählich
zu einem Sexspiel ausarten zu lassen – schien für die deutschen Jungs
ganz natürlich zu sein; tatsächlich erregte es auch sie. Vielleicht, weil dies
etwas war, was man mit einem Mädchen nicht erleben konnte, jedenfalls
nicht unter den gleichen Kräfteverhältnissen; etwas, was sie als Ausdruck
von Aggression und Zuneigung unter Männern reizte.
Abgesehen von seiner Fähigkeit, für Christopher die Rolle des „German
Boy“ und des blonden Hünen zu spielen, spielte Bubi noch eine Rolle, die
er für sich selbst kreiert hatte; er war „Der Wanderer“, ein verlorener
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Junge, heimatlos, ohne einen Pfennig Geld, untätig-verträumt, aber auch
zäh und furchtlos, unangefochten von den Härten des Lebens. So sah
Bubi sich selbst und so wollte er von Christopher und anderen gesehen
werden. Bubis Verletzlichkeit war in Kombination mit seiner zähen
Eigenständigkeit ungemein anziehend und irritierte zugleich. Christopher
wollte Bubi für alle Zeit nur für sich haben, ihn besitzen mit Haut und
Haar, doch er wusste, dass dies unmöglich und absurd war. […] In der Tat
machte Christopher Bubi eine Szene, als dieser einmal eine Verabredung
platzen ließ. Er trug eine kleine Rede vor, die […] mit den Worten „Ich
bin eifersuechtig“ begann. Bubi hörte sie sich geduldig an. Vielleicht konnte
er Christophers Gefühle sogar nachvollziehen, denn, wie Wystan später
herausfand, hatte Bubi selbst eine Schwäche für Huren, lief ihnen verzweifelt
hinterher und gab ihnen jeden Pfennig, den er hatte.
War Otto guter Laune, verzauberte er Christopher mit seiner Fähigkeit,
das Leben zu genießen. Er liebte es Filme anzuschauen, gut zu essen,
Sex zu haben. Wie Christopher selbst, war er ein Schauspieler. Mitten im
Liebesspiel konnte er, als sei er einer Ohnmacht nahe, theatralisch hauchen
„So möchte ich sterben – genau dabei!“. […] Otto zog Frauen Männern
vor, aber in erster Linie war er narzisstisch. Daher hing die Größe seiner
Lust hauptsächlich von der Lust seines Partners ab, und Christopher konnte
mit den meisten Frauen mithalten, indem er mehr Geilheit an den Tag
legte und schamloser war als sie (Ältere Frauen waren eine größere Gefahr
als jüngere). „Ich liebe es, wie du aussiehst, wenn du auf mich scharf
bist“, sagte Otto immer zu ihm, „deine Augen leuchten dann so.“ […]
Christopher gab mehr Geld für Otto aus, als er sich eigentlich leisten
konnte, aber Otto achtete darauf, seine Forderungen oder besser: seine
zärtlichen Betteleien nicht zu weit zu treiben. Wenn er Christopher überredete, ihm einen neuen Anzug zu kaufen, dann gefiel Christopher dieses
Spiel – trotz seines unguten Gefühls. Es war eine Art Verführung und es
endete stets mit Belohnungen – finanzieller und erotischer Art. Otto
war zweifellos selbstsüchtig. Aber Christopher auch, wie in Goodbye To
Berlin klargestellt wird. (1977)
Mich berührt’s nicht.
Bleib nur – geh. Mich berührt’s nicht. Denn nichts tut mir weh. Hart wie Stein
wird das Herz sehr schnell.
Ohne Geld
wird der Tag niemals hell. D’rum lieb’ mich, küss mich nicht zu sehr.
Alles leer.
Mich berührt
gar nichts mehr.
aus: John Kander / Fred Ebb
I Don’t Care Much (1966)
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Die „Lasterhaftigkeit“ des Berliner Nachtlebens
war eine bedauernswerte: Die Küsse und Umarmungen
waren – wie immer – mit Preisschildern versehen,
doch hier waren die Preise angesichts einer halsabschneiderischen Konkurrenz in einem übersättigten Markt
in extremis reduziert … Das einzige echte Monster war
ein junger Ausländer, der fröhlich durch diese Szenen
der Trostlosigkeit wanderte und meinte, sie passten zu
seinen lächerlich pubertären Phantasien. Ich habe das
erst später verstanden – weshalb mein zweites Buch
über Berlin zumindest etwas besser ist als mein erstes.
Foto ?
Christopher Isherwood
Vorwort zu Gerald Hamiltons Mr Norris and I (1956)
Markus Schneider, Marc Baumann, Nina Bülles, Florian Weigel, Opernchor
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Alfred Polgar
Girls
Dorothea
Maria Müller
Claudia Artner,
Michael Pegher, Lena Lafrenz, Dorothea Maria Müller,
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Nina Bülles, Ellen Wawrzyniak
Girls nennt man Gruppen von jüngeren Frauen, die bereit sind, ziemlich
entkleidet auf einer Bühne genau vorgeschriebene parallele Bewegungen
zu machen. Der Zweck ihres Erscheinens und Tuns ist, Zuschauer sinnlich
anzuregen und diese hierdurch über das, was sonst auf der Bühne vorgeht,
zu trösten. Darbietungen, die durch ein derart elastisches, langes fleischfarbenes Band zusammengehalten werden, heißen Revuen und dienen
oft, hierin unterstützt von den Darbietungen des ernsteren Theaters, dazu,
den Leuten dieses abzugewöhnen. […]
Girl neben Girl gestellt wie die Posten einer Summe machen noch lange
keine „Girls“, das macht erst die vollzogene Addition, die Verschmelzung
der Einzelwesen zum Kollektivum. Mehrere, sagen wir etwa zwölf weibliche
Wesen à zwei Beine, ergeben noch keine Girls. Erst wenn sie ein Wesen
mit vierundzwanzig Beinen geworden sind, führen sie den Namen zu Recht.
Daß die Girls ein Kollektivum sind, macht ihren besonderen Reiz aus.
Das Weibliche erscheint da gereinigt vom Menschlichen, „raffiniert“ im
chemischen Sinn des Wortes. Hier findet der Wunschtraum des Mannes,
der von vielen Frauen träumt, zumindest durchs Aug’ Erfüllung. […]
Noch ein anderer Zauber als der erotische wirkt sich in Erscheinung und
Tun der Girls aus: der Zauber des Militärs. Das Einexerzierte, Parallele,
Taktmäßige, das Klappern der Griffe und Bewegungen, das Gehorchen einem
unsichtbaren, aber unentrinnbaren Kommando, das schöne „Abgerichtet“sein, das Untertauchen des Individuums in die Vielzahl, das Zusammenfassen der Körper zu einem „Körper“ – also da steckt für den Zuschauer
der eigentliche Reiz, der ihm das Soldatenspiel so schmackhaft macht;
natürlich wiederum nur als Zuschauer. [...]
Gespenstisch an den Girls ist, daß sie auch Gesichter haben. Das menschliche
Antlitz als Zugabe, als eigentlich sinnloser Annex von Busen, Bauch und
Beinen … das ist ein wenig unheimlich. Darum lächeln tüchtige Girls auch
ohne Unterlaß, […] zu verstehen gebend, daß ihre Physiognomien sich
über die Nebenrolle, die ihnen zugewiesen ist, keineswegs kränken. (1926)
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In Berlin herrschte Bürgerkrieg. Unvermittelt explodierte Haß, ohne
Vorwarnung, aus dem Nichts; an Straßenecken, in Restaurants, in Kinos,
Tanzhallen, Schwimmbädern; um Mitternacht, nach dem Frühstück,
am hellichten Nachmittag. Messer wurden gezückt, Hiebe ausgeteilt mit
Schlagringen, Bierhumpen, Stuhlbeinen oder Gummiknüppeln; Kugeln
zerfetzten die Reklame auf den Litfaßsäulen, prallten als Querschläger
von den Blechdächern der Pissoirs ab. […] Die Zeitungen waren voll von
Fotos der Leichen rivalisierender Märtyrer – Nazis, Reichsbannerleute,
Kommunisten. Meine Schüler betrachteten sie, schüttelten den Kopf und
entschuldigten sich bei mir für den Zustand Deutschlands. „Oh je, oh je“
sagten sie „schrecklich. So kann es nicht weitergehen“.
Die Sensationsreporter und Schnulzenschreiber hatte die deutsche Sprache
mit einem Schwulst überzogen, für den es kein Beispiel gab. Das Vokabular
der Schmähungen in den Zeitungen (Verräter, Lakai von Versailles,
Mörderschwein, marxistischer Gauner, Hitlersumpf, rote Pest) ähnelte durch
seine ständige Benutzung allmählich den gestelzten Höflichkeitsfloskeln,
derer sich die Chinesen bedienen. Das Wort Liebe hatte sich längst über den
von Goethe gesetzten Maßstab emporgeschwungen und war längst nicht
mehr den Kuß einer Hure wert. Frühling, Mondschein, Jugend, Rosen, Mädchen, Liebling, Herz, Mai – das war die erbärmlich abgewertere Währung,
mit der die Verfasser all jener Tangos, Walzer und Foxtrotts klimperten, die
die Flucht ins Private befürworteten. Such dir einen lieben, kleinen Schatz,
rieten sie, und vergiß die Krise, übersieh die Arbeitslosen. […]
Und Morgen für Morgen erwachten überall in der riesigen, dunstigen,
trüben Stadt in den Nissenhüttenkolonien der Vorstadtsiedlungen junge
Männer zu einem weiteren Tag ohne Arbeit, um ihn nach bestem Vermögen
zu verbringen – verkauften Schnürsenkel, bettelten, spielten in der Halle
des Arbeitsamtes Dame, hingen in Pissoires herum, […] sangen für ein
paar Groschen auf Hinterhöfen und in der U-Bahn zwischen den Stationen
Volkslieder. Nach Neujahr fiel Schnee, blieb aber nicht liegen; mit
Schneeschüppen war kein Geld zu verdienen.
Christopher Isherwood Mr Norris Changes Trains (1934)
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Zur Melodie der Habanera aus
Carmen zu singen
Ob es regnet, ob es hagelt,
ob es schneit oder ob es blitzt,
ob es dämmert, ob es donnert,
ob es friert oder ob du schwitzt,
ob es schön ist, ob’s bewölkt ist,
ob es taut oder ob es gießt,
ob es nieselt, ob es rieselt,
ob du hustest, ob du niest:
An allem sind die Juden schuld!
Die Juden sind an allem schuld!
Friedrich Holländer
aus der Revue Spuk
in der Villa Stern (1931)
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Petra Welteroth, Marianne Curn, Steven Klopp
John Kander / Fred Ebb Cabaret Cabaret – Originalbesetzung der Produktion von 2016
Musikalische Leitung Michael Nündel Regie Nicole Claudia Weber Choreographie
Christopher Tölle Bühne und Kostüme Friedrich Eggert Dramaturgie Mark Schachtsiek
Chor Thomas Eitler-de Lint
Mit: Frl. Schneider Petra Welteroth Sally Bowles Dorothea Maria Müller Clifford
Bradshaw Markus Schneider Herr Schultz Thomas Mehnert Der Conférencier Michael
Pegher Ernst Ludwig Christoph Bornmüller Frl. Kost / Mausi Marianne Curn Otto
Florian Weigel Rosie (Solo in „Two Ladies“) Nina Bülles Viktor (Solo in „Two Ladies“) / Fritz Marc Baumann (H)eidi (Solo in „Money“) Claudia Artner Herrmann / Karl / Gorilla
Steven Klopp Inge Ellen Wawrzyniak Helga Lena Lafrenz Ein junger Kellner Khvicha
Khozrevanidze / Juri Lawrentiev Franz Nico Reuter / Jonathan Schindler Max Frank
Koch / Michael Stuckert Der Barkeeper Ralph Müller / Klaus Wilms Chorsoli „TelefonSong“ Lydia Ackermann, Bruce Miller, Malte Godglück / Werner Volker Meyer,
Anja Bildstein / Gabriela Fliegel, Gundula Schulte, Myong-Yong Eom / Christoph Keßler,
Ariane Gdanitz / Katja Rollfink Baritonsolo „Morgiger Tag“ Werner Volker Meyer
[Mehrfachbesetzungen in alphabetischer Reihenfolge] Der Opernchor des
Staatstheaters Darmstadt Das Staatsorchester Darmstadt
Text- und Bildnachweise
Die Handlung und das Essay Hier ist das Leben wunderschön schrieb Mark Schachtsiek für dieses
Programmheft. | Die historischen Fotos auf S. 13 wurden folgenden Büchern entnommen, die auch das
Essay inspiriert haben: Peter Parker Isherwood, London 2004, Norman Page Auden and Isherwood.
The Berlin Years, New York 1998, Keith Garebian The Making of Cabaret. Second Edition, New York 2011,
Robert Beachy Gay Berlin, New York 2014. | Die Auszüge aus Goodbye To Berlin, Christopher And His Kind
sowie dem Vorwort zu Mr Norris and I übersetzte Mark Schachtsiek für dieses Programmheft. | Der Text
Girls stammt aus: Alfred Polgar Auswahl. Prosa aus vier Jahrzehnten, Reinbek 1968, S. 186f. | Die Übersetzung von Mr Norris Changes Trains wurde dem Programmheft Cabaret vom Stadttheater Bielefeld Spielzeit
1991/92 entnommen. | | Alle Zitate erscheinen in ihrer ursprünglichen Rechtschreibung, für dieses
Programmheft entstandene folgen der aktuellen amtlichen Rechtschreibung. Sollte es uns nicht gelungen
sein, alle Urheber ausfindig zu machen, bitten wir die Urheber, sich bei uns zu melden. ||
Probenfotos: Candy Welz
Impressum
Spielzeit 2015|16, Programmheft Nr. 20 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-1
www.staatstheater-darmstadt.de | Intendant: Karsten Wiegand |
Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz | Redaktion: Mark Schachtsiek |
Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt | Ausführung: Hélène Beck |
Hersteller: DRACH Print Media GmbH, Darmstadt
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