Hörbildern - Initiative Hören

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Günter Olias plädiert für eine „Erweckung des Hörens“
VON KLÄNGEN, KLANGORTEN UND
Hörbildern
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ängst haben sich die Grenzen des Hörens vom engeren Bezug auf ein
erklingendes Musikstück, einen zu verstehenden Gesprächspartner
oder ein zu vernehmendes Signal auf das Wahrnehmen der Gesamtheit
unserer akustischen Umwelt, auf das Atmo- oder besser Sonosphärische
unserer Umgebung, auf die Eigentümlichkeiten von Klanglandschaften
(„Soundscapes“) erweitert.
Den Begriff „Soundscape“ prägte der kanadische Musikpädagoge, Komponist und Musikwissenschaftler R. Murray Schafer, indem er
in seiner 1977 publizierten Schrift The Tuning of
the World erstmalig umfassend in einem kulturhistorischen Exkurs die Beziehung des Menschen zu seiner akustischen Umwelt darstellte und somit das musikalische Phänomen von
Klangkompositionen begründete. Es geht bei
Soundscapes um das künstlerische Collagieren von Naturklängen und Klangeindrücken,
die in unserer Umwelt wirklich vorkommen.
Auf dieses so genannte klanglandschaftsorientierte Hören soll im Folgenden näher
eingegangen werden. Es weist einige Besonderheiten auf, die für ausübende Musiker und
Musikpädagogen, für Rundfunkleute und
Mediziner ebenso wie für Architekten und
Landschaftsgestalter von Interesse sind.
Klanglandschaftsorientiertes Hören bezieht
sich zum einen auf die Kugelgestalt des Klanglichen, das „sphärische Hören“ oder das „Rundum-Hören“, welches sich von der frontalen
Rezeption in Schule, Konzertsaal oder im Um-
gang mit den Medien unterscheidet. Unser
Gehör wird also völlig neuen und zum Teil
vergessenen Hörstrategien unterworfen. Zum
anderen umfasst es das „atmosphärische Hören“ eines klanglichen Ereignisses. Dies meint
das Aufnehmen der Gestimmtheit eines Raums,
eines Orts oder einer Landschaft, die in einem weiteren Schritt das „Angemutetsein“
des Hörenden in seiner situativen emotionalen und rationalen Betroffenheit bewirkt. Damit
ist klanglandschafts-orientertes Hören ein mehrschichtiges Geschehen, dass auf mehreren Ebenen des Gefühls, des Verstands und von Intentionen abläuft und das somit unser soziales
Verhalten durchströmt ebenso wie es sich auf
unterschiedliche Weise in unserem Bewusstsein – als Hörbild oder in sprachbegrifflicher
Be- oder Umschreibung – widerspiegeln kann.
Das klanglandschaftsorientierte Hören ist
auf vielfältige Weise beschrieben, untersucht
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FOKUS
und wissenschaftlich erörtert worden: Bereits
1937 formulierte John Cage: „Wherever we
are, what we hear is mostly noise. When we
ignore it, it disturbs us. When we listen to it,
we find it fascinating.“ In ihrer Neuübersetzung des oben bereits erwähnten Werks von
Schafer The Tuning of the World („Tuning“
meint hier das Gestimmtsein und das Stimmen unserer Umwelt) verdeutlicht Sabine
Breitsameter unter dem Titel Die Ordnung
der Klänge Schafers zentrale Idee der akustischen Transparenz und der Durchhörbarkeit
der Klanglandschaft. Dass dies nicht allein
eine Aufgabe für Akustikdesigner ist, hat
Schafer im Übrigen in einer von Justin Winkler herausgegebenen und von Klaus Wittig
besorgten Neuübersetzung, Anstiftung zum
Hören, kenntnisreich und anregend ausgeführt.
Dort entwickelt er als musikpädagogisches
Übungsfeld – als „Ear Cleaning“ – „hundert
Übungen zum Hören und Klängemachen“.
Schließlich sei noch auf eine interessante
und aufschlussreiche Studie von Hannes Heyne
hingewiesen. In Klänge aus der Natur stellt
der Autor seine langjährigen und vielseitigen
Erfahrungen im Spiel mit elementaren Klangund Musikinstrumenten dar. Außerdem regt
er in einer Vielzahl von praktischen Beispielen zum „Spielen und Üben“ dazu an, Brücken zu schlagen zwischen einer „wachen
Kultur des Hörens“ und der „Entwicklung
ökologischen Bewusstseins“. „Das Spiel beginnt bereits, wenn man vor die Tür tritt und
der Musik des Winds in den Bäumen lauscht.
In jedem Moment der Gegenwart ist das
möglich: einfach innehalten, still sein, lauschen …“
Genau in dieser schlichten Empfehlung
liegt bereits der Kern dessen, wofür ich hier
plädieren möchte, nämlich eine „Erweckung
des Hörens“ innerhalb unserer Gesellschaft.
Sie entspringt dem Gedanken, der so vieldeutig in Eichendorffs Vierzeiler anklingt:
„Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“
Zwar wird das Hineinlauschen in die Landschaft oftmals erschwert durch die Lärmglocke, die alle Einzelklänge verdeckt: Ein Klangband von Fahrzeuggeräuschen, das Aufheulen
von Maschinenlärm und eine lästige Akustik
in Unterrichtsräumen, Gaststätten oder Sporthallen beeinträchtigen das umweltbezogene
Durchhören. Doch dies sind stets von uns
selbst verursachte, verdichtete und stressauslösende Momente des Akustik-Designs. Aus
diesem Grund sind Initiativen zum „Tag gegen Lärm“, wie er in diesem Jahr am 27. April
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unter dem Motto „Lärm trennt“ gefeiert wurde,
geeignet, unser Empfinden für störende ebenso
wie für wohltuende Geräusche, Klänge, sprachliche und musikalische Äußerungen zu sensibilisieren.
Als besonders eindrucksvolle Belege für
ein erweckendes Hören möchte ich hier zwei
Beispiele erwähnen: Im Rahmen einer Unterrichtssequenz im Fach Musik zum Thema
„Die Landschaft mit den Ohren sehen“ besuchte ich mit meinen Studenten bei einem
Stadtrundgang – einem „Hörspaziergang“ in
Beelitz – auch ein nahe gelegenes Wasserwerk. Die dortigen Diensthabenden erläuterten unterschiedliche Verwendungsarten,
Reinheitsgrade und Aufbereitungsweisen von
Wasser. Diese Informationen verbanden sich
für uns mit differenzierten Wahrnehmungen
von Wassergeräuschen. Für unsere musikalische Arbeit erwuchsen daraus mehrere Varianten der Aufzeichnung von Wasserklängen und eine gesteigerte Sensibilität im Umgang
mit Wasser. Schließlich wurden auch verschiedene Möglichkeiten der akustischen Verbindung von Wasserklängen mit eigenen musikalischen Gestaltungsversuchen erprobt.
Zueinander von Naturklang
und Musik
Eine anderer Beleg für „erweckendes
Hören“ ergibt sich bei der Kombination zweier
unterschiedlicher Musikstücke, beispielsweise
eines klassischen Stücks mit einer Aufnahme von Landschaftsklängen oder einer Soundscape-Komposition. So entdeckt man etwa
beim Spiel von Robert Schumanns Fürchtenmachen in Verbindung mit Hildegard Westerkamps Beneath the Forest Floor auffällige
Gemeinsamkeiten in der Abfolge einzelner
klanglicher Episoden, im Zueinander von
Naturklang und Musik. Auch die erstaunlichen Klänge von Wassertropfen in Dripping
von Andreas Bick oder die transformierten
Erdstöße von Vulkanen in der „seismosonischen Sinfonie“ von Wolfgang Loos und Frank
Scherbaums Inner Earth lassen sich auf beeindruckende Weise mit live-musikalischem
Spiel verbinden. Dadurch wird für Spieler
ebenso wie für Zuhörer ein ständig entdeckendes und erweckendes Hören angeregt.
Es erscheint beachtenswert, dass gerade
bei der Begegnung unterschiedlicher Klangsphären und Klangorte ihre Beziehungen
zueinander und die Schichtung dieser Beziehungen sowie die Unterschiedlichkeiten der
dabei entstehenden subjektiven Hörbilder
wesentliche Ausgangs- und Bezugspunkte für
unser soziales und kulturelles Miteinander
sowie unser aktuelles und geschichtliches
Lerngeschehen und Verstehen von klang-
lichen Phänomenen sind. „Wenn wir uns auf
die Suche nach KlangKultur-Orten machen,
so ist es irreführend, nach dem Einzigartigen
zu suchen, das einer Kultur anhaftet. Gerade
für Klänge ist der Fluss der Gegenstände,
Menschen und Informationen das Feld der
Entdeckung.“ Dies formulierte einst der Kasseler Stadtsoziologe Detlef Ipsen in seinem
Beitrag „Städte brauchen Orte – Orte brauchen Klang“.
Die Unterschiede in der subjektiven Resonanz auf Klangereignisse, die Vielfalt individueller Nuancierungen beim entdeckenden
Hören oder bei hörenden Entdeckungen lassen
Besonderheiten des „mentalen Mapping“, hier
die mentale Repräsentation des Raums, erkennbar werden. Diese klingen an, wenn bei
einzelnen Stationen eines Hörspaziergangs
gemeinsame Verständigungen zwischen den
Hörern über ihre unterschiedlichen Klangwahrnehmungen erfolgen oder nachfolgend
Eintragungen entsprechender Beobachtungen
zu einer Übersicht in einem Hörtagebuch
zusammengefügt werden. Hierbei lassen sich
zudem Überlagerungen von momentanen
Feststellungen, assoziativen Beschreibungen,
Erinnerungsbildern und Fantasievorstellungen
festhalten, die allesamt legitim, wichtig und
förderlich für und im sozialen Kontakt sind.
„Das Ziel ist Veränderung, Verbesserung,
Humanisierung“, schreibt Sabine Breitsameter zum Abschluss ihres einführenden Essays
zu Schafers Ordnung der Klänge, wobei sich
die „ästhetische Zuträglichkeit nicht von der
gesellschaftlichen abspalten lässt“. Hören sei
demnach als ein „Akt der Freiheit“ zu begreifen – „der Freiheit zu einer befreiten Kommunikation des Zuhörens und Antwortens
sowie zu einem schöpferischen In-der-WeltSein, das zu Kontemplation und Kritik, Gegenentwurf und Selbstkritik befähigt“.
Quellen:
Schafer, R. Murray: Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens, übersetzt und neu herausgegeben von Sabine Breitsameter, Mainz 2010
Schafer, R. Murray: Anstiftung zum Hören. Hundert
Übungen zum Hören und Klänge Machen, hg. von Justin
Winkler, Basel 2002
Heyne, Hannes: Klänge aus der Natur. Akustische Ökologie und das Spiel mit elementaren Musikinstrumenten,
Klein Jasedow 2009
Ipsen, Detlev: „Städte brauchen Orte – Orte brauchen
Klang“, in: KlangOrte, hg. von Detlev Ipsen, Uli Reichardt und Hans U. Werner, Kassel 2004
Der Autor:
Günter Olias war als Musikpädagoge in der Lehre tätig
an der Humboldt-Universität zu Berlin (bis 1978) und an
der Universität Potsdam (bis 1998). Er forschte und publizierte zu musikalischen Lehr-Lern-Prozessen, zu soundscape-orientiertem Musiklernen und zu Neuer Musik im
Unterricht. Olias ist Gründungsvorsitzender des klangforum brandenburg und Vorstandsmitglied im Forum
Klanglandschaft (bis 2007).