Maxim und Galina Schostakowitsch Unser Vater DSch aufgezeichnet und mit Ergänzungen herausgegeben von Erzpriester Michail Ardow Moskau, Verlag Sacharow, 2003 Übersetzung aus dem Russischen von Wolfgang Fulda 2013 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1 Kriegsjahre 2 Arbeit und kleine Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3 Iwanowo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 4 Winter in Iwanowo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 5 Erste Wohnung in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 6 Gymnastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 7 Orchesterproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 8 Verkehrserziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 9 Deutsche Kriegsgefangene 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 10 Komarowo nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 11 Kinderstreiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 12 Umstände des Komponierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 13 Komponierende Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 14 Stücke für Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 15 Zwei Flügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 16 Fuÿball . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 17 Michail Soschtschenko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 18 Alltagsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 19 ZK-Beschluss zu Muradeli 38 20 Schwierige Nachbarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 21 USA-Reise 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 22 Ein türkischer Augenarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 23 Iwan Sollertinski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 24 Haustiere 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 25 Haustiere 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 26 Studien in Ideologie 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 27 Studien in Ideologie 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 28 Der Tod Stalins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 29 Schwänzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 30 Geburtstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 31 Kinobesuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 32 Kindergeburtstage 61 33 Michailowskoje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 34 Nina Wassiljewnas Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 35 Erziehungsfragen 65 36 Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 37 Autofahren, Autorenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 38 Auslandsreisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 39 Briefe, Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 40 Wodka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 41 Uhren 80 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Filmmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 43 Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 44 Drohende Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 45 Datschas, Valuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 46 Nachwuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 47 Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 48 Hilfe für andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 49 Einsatz für Kollegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 50 Leben in Schukowka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 51 Verhältnis zu anderen Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 52 Achtes Streichquartett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 53 Krankenhaus in Kurgan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 54 Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Vorwort Ein gesittetes Frühstück im Hause Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitschs. Am Tisch der Hausherr, sein Sohn Maxim, zwei gemeinsame Freunde von mir und Maxim sowie mein Bruder Boris und ich. Alle schweigen, aber die Stille ist doch ziemlich unangenehm. Maxim wendet sich an mich : Mischka, erzähl uns einen Witz, du weiÿt doch soviele ! . . . Die Antwort bleibt in der Luft hängen. Das Schweigen wird noch peinlicher. Die Sache war so. Maxim machte eine Junggesellen-Fete, die sich bis weit nach Mitternacht hinzog, und wir blieben bei ihm übernacht. Am frühen Morgen aber kam unerwartet Dmitri Dmitriewitsch plötzlich von der Datscha, und wir wurden, gelinde gesagt, verschlafen an die Tafel gesetzt. Damals war ich, was man die Seele der Gemeinschaft nennen könnte. Ich wusste eine Menge Witze und lustige Begebenheiten, die ich gröÿ- 1 tenteils von meinem Vater, dem Schriftsteller Viktor Ardow , gehört hatte, oder von Leuten, die in unser Haus in der Ordynka gekommen waren. Bei diesem Frühstück im Hause Schostakowitsch aber hatte es mir die Sprache verschlagen. Aus zwei Gründen. Zum ersten saÿ ich neben einer weltberühmten Persönlichkeit am Tisch, zum zweiten aber geriet Dmitri Dmitriewitsch in Gegenwart Unbekannter in äuÿerste Anspannung, und das konnte man unmöglich nicht spüren . . . So um das Jahr vierundfünfzig oder fünfundfünfzig tauchte bei meinem jüngeren Bruder und mir ein neuer Freund auf. Er war fein, elegant und sehr hübsch, und das alles in Verbindung mit Humor, Frohsinn und einer erstaunlichen künstlerischen Begabung. Bis heute bin ich der Überzeugung, dass Maxim, hätte er sich nicht mit der Musik beschäftigt, ein ganz wunderbarer Schauspieler geworden wäre. Er war und ist es noch weniger Erzähler, als vielmehr ein Vorführer komischer Geschichten. Unmöglich lässt sich das zu Papier bringen, womit Maxim uns damals ergötzte und erfreute. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie er einen dicken bulgarischen Polizisten darstellte, der sich den Schnürsenkel zubindet : das eine Bein stellte er auf einen Stuhl, beugte sich aber zu dem anderen hinunter das auf dem Boden stand. Oder folgende tragikomische Studie. Maxim spielte einen Menschen, der auf die Straÿe hinaus ging und einen kleinen Kindersarg unter dem Arm trug. Ihm entgegen schiebt eine junge Frau ein Kinderwägelchen mit einem Säugling. Kompetent schaut er im Vorbeigehen in den Kinderwagen und fragt die Mutter munter : Was haben Sie denn da ? Einen Jungen ? Ein Mädchen ? Wir waren damals alle sehr jung und sehr lustig. Zu unserem Kreis gehörten neben 2 3 Boris, Maxim und mir der künftige Schriftsteller Andrei Kutschajew , Alexander Nilin , Sohn eines berühmten Prosaisten, und Jewgeni Tschukowski, später Kameramann für 4 Film und Fernsehen, ein Enkel Kornei Iwanowitschs . Eine Art goldene Jugend. 1 Viktor Jemowitsch Ardow (1900 - 1976), sowjetischer Satiriker, Dramaturg und Karikaturist 2 Andrei Leonidowitsch Kutschajew (1939 - 2009), russischer Schriftsteller und Dramaturg 3 Alexander Pawlowitsch Nilin (* 1940), russischer Schriftsteller und Sportjournalist 4 Kornei Iwanowitsch Tschukowski (1882 - 1969), sowjetrussischer Dichter und Publizist 5 Mit dem Tschukowski-Groÿvater hing bei uns übrigens folgende Geschichte zusammen. Boris und Maxim fuhren einmal zu Genia 1 2 nach Peredelkino . Die Gäste bekamen Hunger, man gab ihnen Käsebrötchen. Die jungen Leute standen neben dem Haus und aÿen mit Appetit. In diesem Augenblick önete sich das Tor, und auf das Datschengrundstück fuhr ein langgestrecktes schwarzes Auto, aus dem Kornei Iwanowitsch ausstieg. Er sah die Gäste und sagte : Guten Tag, Maxim und Boris ! Esst ihr da meine ? Das denkwürdigste Ereignis in der Mitte der fünfziger Jahre war für mich sicher die Reise auf die Krim mit dem Auto. Der Wagen gehörte Dmitri Dmitriewitsch, der keine Bedenken hatte, ihn Maxim und seinem künftigen Schwiegersohn Jewgeni Tschukowski anzuvertrauen. Wir fuhren zu fünft : vorne Genia und seine Braut Galia, auf dem Rücksitz Maxim, Andrei und ich. Unser Aufenthalt auf der Krim begann mit folgendem Abenteuer. In Simferopol kamen wir spät abends an. Im Stadtzentrum fanden wir das beste Restaurant und gingen dorthin zum Abendessen. Man setzte uns an einen Tisch, der Kellner kam. Er sah recht verstimmt aus. Beim Aufnehmen unserer Bestellung teilte er uns mit, dass ihm einige Minuten zuvor ein Besucher, ohne einen einzigen Rubel bezahlt zu haben, davongelaufen sei, nachdem er für eine beträchtliche Summe gegessen und getrunken habe. Wir fühlten mit dem Armen ein wenig mit und versanken dann in Erwartung der bestellten Speisen und Getränke. Zehn Minuten vergingen, zwanzig, dreiÿig, vierzig . . . es dauerte unwahrscheinlich lang. Endlich ging einer von uns zu einem anderen Kellner und fragte : Wo ist denn der hinverschwunden, der unsere Bestellung aufgenommen hat ? Als Antwort kam : Er ist raus, um den Gast zu suchen, der nicht bezahlt hat . . . 3 4 Unsere Reise gelang auf ganzer Linie. Wir waren in Mischor , dann in Koktebel , wir lagen in der Sonne, badeten. Das Zusammensein war sehr innig. Galia und besonders der gesprächige Maxim erzählten immerzu von ihrem Vater. Was ich von ihnen hörte, passte nicht so ganz zu meinen persönlichen Eindrücken. Uns gegenüber, den Freunden seines Sohnes und seiner Tochter, pegte Dmitri Dmitriewitsch eine makellose Höichkeit, dabei ging von ihm aber, wie ich schon anmerkte, immer irgendeine angsteinöÿende Anspannung aus. Seine Kinder dagegen sprachen von auÿergewöhnlichem Sinn für Humor, von Herzlichkeit, von Einfühlungsvermögen . . . Nun und da weckte dann diese lange zurückliegende Reise in mir ein lebhaftes Interesse an Schostakowitschs Persönlichkeit. In meinem jugendlichen Alter betrachtete ich Dmitri Dmitriewitsch sogar als eine Art Wunder. Im Laufe der Jahre, ja sogar Jahrzehnte, verschwand mein Interesse an Schostakowitsch nicht, wie auch der Eindruck nicht verschwand, dass Maxim und Galia über Dmitri Dmitriewitsch etwas wüssten, was niemand sonst über ihn wusste. Schlieÿlich setzte ich mir ein Ziel : all das aufzuschreiben, was meine Freunde über ihren Vater erzählen wollten. 1 Kurzform für Jewgeni 2 Peredelkino, Datschensiedlung ca. 20 km südwestlich des Zentrums von Moskau 3 Kurort an der Krim-Südküste, nahe Jalta 4 Kurort an der Krim-Südküste, nahe Feodossija 6 So entstand dieses Buch. Die Monologe des Sohnes und der Tochter des Komponisten habe ich ich mit Auszügen aus seinen Briefen an den Freund Isaak Glikman 1 ergänzt, sowie mit Fragmenten aus ihn betreenden Memoiren und mit Zitaten aus der grund- 2 legenden Arbeit Soa Chentowas . Während der Arbeit an diesem Buch las ich ein Menge Material, das mehr oder weniger in Verbindung mit der Person des groÿen Komponisten stand, und dachte viel über ihn und sein Schicksal nach. Wenn man mich nun fragte, ob ich irgendwann einem schlechthin genialen Menschen begegnet sei, würde ich antworten : ja, ich war bekannt mit Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitsch, einem wahren russischen Intellektuellen. Michail Ardow, 2003 1 Isaak Davidowitsch Glikman (1911 - 2003), russischer Literatur- und Theaterkritiker, Librettist, Professor am St. Petersburger Konservatorium, enger Freund Dmitri Schostakowitschs. Dessen gesammelte Briefe an Glikman als Story of a friendship bei Cornell University Press, 2001 2 Soa M. Chentowa (* 1922), russische Musikwissenschaftlerin und Pianistin. ¾Øîñòàêîâè÷. Æèçíü è òâîð÷åñòâî¿, 2 Bände, Leningrad 1986 (nur russisch) 7 1 Kriegsjahre Galina An der Einfahrt unserer Datscha steht ein kleines rotes Auto. Vater und Mutter laden Koer ein, mein Bruder Maxim und ich schauen zu. Im Arm halte ich eine riesige Puppe kurz zuvor bekam ich sie geschenkt und ich habe schreckliche Angst, dass die Eltern sie auf der Datscha zurücklassen würden . . . Das ist eine meiner frühesten bewussten Erinnerungen. Der Sommer 1941, gerade 1 hat der Krieg begonnen, und wir fahren aus Komarowo (damals hatte der kleine Ort den nnischen Namen Kellomäki) in die Stadt, in unsere Leningrader Wohnung. Die nächste Erinnerung bezieht sich auf den Herbst desselben Jahres : der Flugplatz in Leningrad, während der deutschen Belagerung. Diesmal steigen wir mit unseren Sachen in ein Flugzeug ein. Es war ganz klein : auÿer den Eltern, meinem Bruder und mir befanden sich nur noch drei oder vier Piloten an Bord. Im Inneren gibt es keine Sitze, nur einen Bretterboden und Holzkisten. Sie sagten uns, dass man sich darauf nicht setzen dürfe, und so lieÿen wir uns auf unseren Koern nieder. Auf dem Dach des Flugzeugs gab es eine durchsichtige Kuppel, darunter stand einer von den Piloten, der Schütze, er schaute sich dauernd um. Er warnte uns : Wenn ich mit der Hand winke, legt ihr euch alle auf den Boden ! Maxim 2 Auf den Flugplatz fuhren wir in einem schwarzen Emka , Vaters eige- nem Auto. Er erinnerte sich, dass ich in der Nähe unseres Leningrader Hauses, in der Groÿen Puschkarskaja Straÿe, als wir uns im Auto zurechtsetzten, zum ersten Mal deutlich den Buchstaben r aussprach; bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn noch nicht herausbringen können. Ich wandte mich da an die Eltern mit der Frage : Aber wird uns der Deutsche nicht auf einmal zerkrrrachen ?! Während des Fluges schaute ich aus dem Fenster und sah unten Blitze. Ich fragte Mutter und Vater : Was ist das dort ? Und sie erklärten mir, dass da die Deutschen auf unser Flugzeug schössen. Galina Wir landeten bei irgendeinem Wald in der Umgebung von Moskau, eine kleine Hütte stand dort. Unsere Piloten ngen an Bäume zu fällen, und deckten ihr Flugzeug mit Zweigen zu. In der Hütte neben dem Wald übernachteten wir. Dann wohnten wir im Hotel Moskwa. Daran erinnere ich mich kaum. Dafür aber an eine Fahrt in ein Geschäft; dort kauften uns die Eltern neues Spielzeug, als Ersatz für das, was in Leningrad geblieben war. Boris Chaikin 3 1941 im Oktober. Ich wohne im Hotel Moskwa . . . Häu- ge Luftangrie zwingen dazu, in den Keller unter dem für diese Zeiten riesigen Hotel zu gehen. Dort treen wir Schostakowitsch mit Nina Wassiljewna und zwei kleinen Kindern. Es ist feucht. Kalt. Wie lange ein Angri dauert, ist völlig unklar. Schostakowitsch geht mit unruhigen Schritten im Keller auf und ab und wiederholt dauernd, ohne 1 Komarowo, kleiner Ort am nnischen Meerbusen, ca. 45 km nordwestlich von Sankt Petersburg 2 sowjetisches Automodell der 30er- und 40er Jahre 3 Boris Emmanuilowitsch Chaikin (1904 - 1978), sowjetischer Dirigent 9 sich dabei an jemanden zu wenden : Brüder Wright, Brüder Wright, was habt ihr da angerichtet, was habt ihr da angerichtet ! Michail Ardow Die Luftangrie auf Moskau sind meine früheste bewusste Erinnerung. Soeben war der Krieg ausgebrochen und man brachte mich von der Datscha nach Moskau, in die Ordynka. Ich weiÿ nicht mehr genau, wer mich hin brachte. Wahrscheinlich war es Mutter und noch jemand. Dafür aber erinnere ich mich ganz deutlich an die Menschenmenge auf dem Jaroslawler Bahnhof, an die Panik, an das Heulen der Sirene. Alle drängen, alle hetzen zur Metro, in den Untergrund. Und dann eine groÿe Menge von Menschen, sie füllen den ganzen Bahnsteig, die Brüstungen und Treppen. Ich erinnere mich an die angespannte Stille, das unnatürliche Schweigen, von dem alle wie gefesselt sind, alle halten die Köpfe gesenkt, warten auf etwas, lauschen . . . Galina Aus Moskau führte der Weg unserer Familie nach Kuibyschew 1 . Wir fuhren mit dem Zug, und unterwegs gingen uns zwei Koer verloren. Maxim Mit uns zusammen wurde Aram Chatschaturjan 2 3 evakuiert. Viele Jahre später erzählte er G. M. Schneerson , dass in einem Waggon für 42 Personen über 100 zusammengedrängt wurden und dass sie lange irgendeinen Kerl, der sich auf einem Drittel der Bank breitgemacht hatte, überzeugen mussten, Nina Wassiljewna Schostakowitsch und den Kindern Platz zu lassen. B. E. Chaikin erinnerte sich, dass Dmitri Dmitriewitsch niedergeschlagen aussah. Oenbar befand sich in einem der Koer, die beim Umsteigen verloren gegangen waren, das Manuskript zur siebten Symphonie. Glücklicherweise wurden die Koer wieder gefunden : im Durcheinander hatte man sie versehentlich in den Nachbarwaggon geladen. Galina Zuerst lieÿen wir uns im Schulhaus nieder, zusammen mit der Familie des 4 Künstlers Pjotr Williams , aber bald gab man uns ein eigenes Zimmer. Nikolai Sokolow 5 Aufzeichnung eines Monologs D. Schostakowitschs : Wissen Sie, Nikolai Alexandrowitsch, als wir in Moskau mit den Kindern in den warmen Waggon hineingeklettert waren, fühlte ich mich wie im Paradies ! Aber nach sieben Tagen Fahrt fühlte ich mich bereits wie in der Hölle. Als man mich in einem Klassenzimmer unterbrachte, noch dazu auf einem Teppich, und die Koer ringsherum aufstellte, fühlte ich mich erneut wie im Paradies, aber schon nach drei Tagen begann diese Umgebung mich zu strapazieren : man konnte sich nicht ausziehen, überall war eine Masse unbekannter Menschen . . . Wieder empfand ich das wie die Hölle. Aber als man mir ein 1 1935 - 1990 Name der Industriestadt Samara an der Wolga, wichtiger Evakuierungsort im Zweiten Weltkrieg 2 Aram Iljitsch Chatschaturjan (19031978), sowjetisch-armenischer Komponist 3 Grigori Michailowitsch Schneerson (1901 - 1982), sowjetischer Musikwissenschaftler 4 Pjotr Wladimirowitsch Williams (1902 - 1947), sowjetischer Maler, Graker und Theaterkünstler 5 Mitglied der Künstler-Gruppe Kukryniksy : Nikolai A. Sokolow (1903 - 2000), Michail W. Kuprijanow (1903 - 1991) und Porri N. Krylow (1902 - 1990) 10 eigenes Zimmer gab . . . ja, was war das ? Nach einiger Zeit spürte ich, dass ich jetzt unbedingt einen Flügel bräuchte. Man gewährte mir einen Flügel. Alles gut wie es sein sollte, und wieder dachte ich : Nun, das ist das Paradies ! Aber ich bemerke allmählich, dass es trotz allem unangenehm ist, in ein und demselben Zimmer zu arbeiten : die Kinder sind im Weg, machen Lärm . . . Galina In Kuibyschew tauchte bei uns der zerzauste Hund Ryschik auf. Ich fand ihn mit Maxim am Treppenaufgang, und oh Freude ! die Eltern erlaubten, dass er bei uns blieb. Er war aufgeweckt und anspruchslos ein richtiger Hofhund. Und noch eine wichtige Erinnerung an das Leben in Kuibyschew : der Bruder und ich wurden zum ersten Mal mit in ein Konzert genommen, das war die Premiere der siebten Symphonie unseres Vaters. Bis dahin waren wir bei den Proben dabei, und unsere Mutter wusste noch, wie Maxim die Spieläche erklommen und zu dirigieren angefangen hatte, so dass man ihn gewaltsam hatte hinter die Bühne ziehen müssen. Ilja Slonim 1 Im Januar des Jahres 1942 begann das Orchester mit den Proben zur siebten Symphonie. Schostakowitsch nahm mich zu einigen Proben mit. Er selbst lieÿ keine einzige aus. Er saÿ gewöhnlich ruhig in irgendeinem dunklen Winkel und äuÿerte seine Meinung nur, nachdem das Orchester zu spielen aufgehört hatte. Auf dem Heimweg lobte er das Orchester immerzu. Während der ganzen Zeit, in der die Proben liefen, schien er in gehobener Stimmung zu sein . . . Im Konzert fühlte er sich unglücklich. Das Publikum nötigte ihn, zu Beginn des Konzerts auf die Bühne zu gehen, und er, nachdem man ihn herausgezogen hatte, verbeugte sich ohne ein Lächeln vor der erbarmungslosen Menge der Anhänger. Und nach dem Konzert, als alle wahnsinnig waren vor Begeisterung, ging der groÿe und strenge junge Mann wieder auf die Bühne, wie auf 's Schafott. Maxim An die Proben erinnere ich mich aus irgendeinem Grund nicht. Aber das Konzert hat sich mir eingeprägt, die Musik der siebten Symphonie ist mir in die Seele gedrungen. Das Invasions-Thema aus dem ersten Satz, das Näherkommen von etwas Unheimlichem, Unausweichlichem . . . Für Galia und mich gab es damals eine fromme Njanja, sie hieÿ Pascha. Und ich hörte diese Musik im Traum. Von weit weg ertönt die Trommel, wird immer lauter und lauter. Vor Schrecken wachte ich auf aus diesem Alptraum und lief zu Pascha, sie bekreuzigte mich und las ein Gebet. Und auch an den Geschmack der Pralinen erinnere ich mich noch, mit denen Galia und ich bei dieser Premiere bewirtet wurden. Es gab da eine Schokoladenglasur; solche Pralinen sind mir seither nie mehr untergekommen. Galina In den katastrophalen Kriegsjahren reichten die Lebensmittel nicht, und das ist natürlich auch der Grund, warum der Geschmack dieser Glasur sich Maxim so eingeprägt hat. Klar, wir hungerten nicht, aber für Vater war es nicht einfach, die ganze zahlreiche Verwandtschaft zu ernähren, die zu uns nach Kuibyschew angefahren kam. 1 Ilja Lwowitsch Slonim (1906 - 1973), sowjetischer Bildhauer 11 Aus einem Brief D. Sch.'s an I. D. Glikman 1. März 1943 . . . Alle Mitglieder meiner Familie sind gesund und sprechen die ganze Zeit laut über Lebensmittel. Ich ng an, von ihren Gesprächen viele Worte zu vergessen, aber gut erinnere ich mich an folgende : Brot, Butter, ein halbes Kilo, Wodka, zweihundert Gramm, Ausweiskarte, Konditorwaren und viele andere . . . Maxim Und noch eine Geschichte im Zusammenhang mit der Stadt Kuibyschew. Zu Sowjetzeiten gab es für privilegierte Personen sogenannte geschlossene Geschäfte und Kantinen. Lebensmittel und Waren hatten dort eine bessere Qualität und waren billiger. So erzählte Vater uns da, dass er an irgendeiner Tür in diesen Tagen folgende bedeutungsvolle Bekanntmachung entdeckt habe : Die hiesige geönete Kantine wird ab dem 1. Februar geschlossen. Hier wird eine geschlossene Kantine erönet. 12 2 Arbeit und kleine Kinder Galina In der Zimmertür erscheint der Bildhauer Ilja Lwowitsch Slonim. Mit strenger Stimme sagt er : Kinder, gebt mein Plastilin her ! Maxim und ich werden verlegen, schnell sammeln wir die Stückchen ein und geben sie dem Besitzer zurück. Das war in den Tagen, als Slonim an einem Portrait von Vater arbeitete. Bevor er nach einer oziellen Sitzung wegging, verstaute er seine Arbeit in einem Karton unter dem väterlichen Flügel. Ein spezielles Kinderplastilin gab es damals noch nicht, da krochen Maxim und ich heimlich zu Slonims Karton und entwendeten daraus eine gewisse Menge Plastilin. Wir gingen natürlich davon aus, dass der Bildhauer den Handel nicht merkte, aber wir hatten uns verrechnet. Die Sache endete zu unserer Schmach mit einer ziemlich strengen Rüge von unseren Eltern. Maxim Ich erinnere mich gut daran, was wir mit diesem Plastilin anstellten. Wir nahmen vom väterlichen Tisch Bleistifte und modellierten am Ende von jedem so eine Plastilinbeule, so ähnlich wie ein Würstchen oder, genauer, wie ein Hähnchenschenkel. Wir nannten das auch so : Hähnchenschenkel. Und dann warfen wir sie an die Wand, damit sie dort kleben blieben. Ilja Slonim Schostakowitsch lud mich in sein Studio ein. Die Einrichtung bestand aus seinem Flügel, einem Tisch mit Tintenfass und einem Stuhl. Er arbeitete, als ich kam. Ich ng an mich zu entschuldigen. Sie stören mich überhaupt nicht, keiner kann mich stören, wenn ich arbeite, sagte Schostakowitsch. Ich dachte damals, er hätte das einfach aus Höichkeit gesagt, aber dann el mir ein, wie ich Zeuge folgender Szene geworden war : Schostakowitsch arbeitet am Tisch, und seine Kinder (vier und sechs Jahre alt) schlagen Purzelbäume durchs ganze Zimmer (um ihnen gerecht zu werden : das waren Kinder, die man nicht nur sah, sondern auch hörte). Dann folgt dieser Dialog : Papa, Papa ! Na, was ? Papa, was machst du, Papa ? Ich schreibe. Dreiÿig Sekunden Schweigen. Papa ! Und was schreibst du, Papa ? Musik. Während der ganzen Zeit, in der wir uns unterhielten, saÿ er keine Sekunde ruhig, pausenlos ging er aus dem Zimmer hinaus und kam wieder zurück . . . 13 3 Iwanowo Galina Aus dem Fenster lehnt sich ein wütender Mensch und schreit uns Kinder an : Ich reiÿ' euch jetzt die Ohren ab ! Ich beschwere mich bei euren Eltern ! Dass ich euch hier nicht mehr sehe ! Das ist Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Wir spielten häug unter dem Fenster seines Zimmers, machten Lärm und störten ihn beim Komponieren. 1 Das war im Jahr dreiundvierzig, in Iwanowo , genauer, im Haus des Schaens und der Erholung für Komponisten, nicht weit entfernt von dieser Stadt. Es gab da das Dorf Gorino und dort die Geügelsowchose Nr. 69. Darin war ebendieses Haus des Schaffens eingerichtet worden, damit angesehene Musiker keine Not zu leiden bräuchten. Irgendwann hatte es in Gorino einen Gutshof gegeben ein herrschaftliches Haus, einen Park, Pferde- und Viehställe. Aber in den Zeiten, von denen ich erzähle, gab es dort, auÿer Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern, nur Pferde, Kühe, Schweine und eine riesige Menge von Hühnern. Auÿenherum Wald, Wiesen, Felder, das Flüsschen Charinka. Ab 1943 lebte unsere Familie ein ganze Zeit lang an diesem wunderschönen Ort. Bei mir gibt es noch ein Album mit Fotograen, die meine Mutter gemacht hat : Vater und ich auf einem Heuhaufen; Vater mit einem kleinen Ferkel auf den Armen; Maxim und ich auf einer Blumenwiese. Maxim Ich weiÿ noch sehr gut, wie wir Prokofjew ärgerten. Er wohnte im stei- nernen Haupthaus, und sein Zimmerfenster war meistens sperrangelweit aufgerissen. Wir schlichen uns leise an und begannen dann zu schreien : Sergei, Sergejitsch, tra-ta-ta ! Sergei, Sergejitsch, tra-ta-ta ! Da kamen gleich Briefbeschwerer und noch irgendwelche anderen Sachen auf uns geogen. Die Ohren reiÿ' ich euch ab ! diesen Schrei Prokofjews höre ich bis heute. Grigori Schneerson Für Schostakowitsch wurde der winzige Raum eines ehe- maligen Hühnerstalls hergerichtet. Man stellte ein Klavier hinein und an eine von den Wänden nagelte man ein Art Tischchen. Dort wurde die achte Symphonie geschrieben. Aram Chatschaturjan Ich weiÿ noch, dass er an diesem Werk in einer ganz kleinen Scheune arbeitete, in die man ein Klavier hineingequetscht hatte. Aufschlussreich ist, dass niemand vor Fertigstellung der Partitur aus seinem Zimmer auch nur den geringsten Laut hörte. Er schrieb sie an einem kleinen Tischchen, das an der Wand angenagelt war und fast an das Instrument anstieÿ. Maxim Ich habe Vater vor mir, wie er auf einem hohen Schiedsrichterstuhl sitzt. Das ist auf einem Volleyballplatz, die Bewohner des Hauses des Schaens schlagen auf einen Ball und Schostakowitsch pfeift. 1 russische Stadt, ca. 250 km nordöstlich von Moskau 14 Nikolai Peiko 1 Wir junge Komponisten lebten im groÿen Haus im einzigen Gemeinschaftszimmer, das von der Kantine mit Bettlaken abgetrennt war. Punkt fünf, keine Minute später, wurden die Laken auseinandergezogen, im Spalt erschien Dmitri Dmitriewitschs Kopf, und auf englisch sagte er : It is time to play volleyball. Dem hinzu fügte er die Lieblingsphrase eines Sportreporters dieser Jahre, Wadim Sinjawski 2 : Das Spiel ndet bei jedem Wetter statt ! Maxim Die in Gorino lebenden Komponisten waren in drei Kategorien eingeteilt, je nach ihrer Begabung und Stellung innerhalb der sowjetischen Musikerhierarchie. Es gab folgende Ordnung : für jeden, der vom Haus des Schaens wegfuhr, wurden Hühnereier ausgegeben 50, 40 oder 30 Stück. Das hing aber eben von der Kategorie ab, die dem jeweiligen Individuum zuerkannt war. Schostakowitsch, der natürlich zur ersten Rangstufe gehörte, geriet im Verwirrung, wenn zugleich mit ihm irgendein drittrangiger Kollege seine Ration erhielt. Noch so ein Detail. Um ins Dorf Gorino zu gelangen, musste man aus dem Zug an einer Station mit Namen Iwanowo-Rangierbahnhof aussteigen. Na, und da machte doch S. S. Prokofjew auf allen Briefen, die er von dort abschickte, ich weiÿ es die 3 Notiz Iwanowo-Klo . 1 Nikolai Iwanowitsch Peiko (1916 - 1995), russischer Komponist, Dirigent und Pädagoge 2 Wadim S. Sinjawski (1906 - 1972), sowjetischer Journalist, Gründer einer Sportjournalistenschule 3 im Russischen Wortspiel mit sortirowotschnaja (Rangierbahnhof ) und sortir (Klo, Toilette) 15 4 Winter in Iwanowo Galina Wir, einige Mädchen, treten in die Mitte des Zimmers und sprechen gleichzeitig : E ! . . . Als Scharade-Spieler 1 sollen wir den Namen Erasmus von Rot- terdam darstellen. Der erste Teil ist klar : wir sprechen E für Erasmus aus. Aber 2 beim zweiten Teil : jemand sagt Rot tjor dam . Dieser jemand war der junge Mstislaw Rostropowitsch, und die Dame, deren Mund er abwischte, war ich . . . Das ereignete sich in den Schulferien im Winter in eben dieser Geügelsowchose Nr. 69, also in diesem Haus des Schaens und der Erholung für Komponisten. Dort machte unsere Familie auch mit der künftigen Berühmtheit Bekanntschaft. Rostropowitsch sollte uns ein überaus nahestehender Mensch werden, und dann auch unser Nachbar in der Datscha in Schukowka. In diesem Winter fuhren meiner Erinnerung nach Maxim und ich Ski auf einem kleinen Hügel, und das ging unter Rostropowitschs Aufsicht vor sich : den Auftrag dazu hatte er von unseren Eltern. 1 Scharade : Silbenrätsel mit pantomimischer Darstellung 2 im Russischen Wortspiel mit rot-tjor-damski (etwa : wischte der Dame den Mund ab) 16 5 Erste Wohnung in Moskau Galina Maxim und ich stehen im Zimmer bei Vater und er sagt : Kirow-Straÿe, Haus 21, Wohnung 48. Telefon K-5-98-72. Habt ihr verstanden ? Wiederhole ! Und du auch, wiederhole ! Man brachte uns gerade in die Wohnung, die Vater in Moskau bekommen hatte. Und er verlangte, dass wir die neue Adresse und Telefonnummer aus dem Ee beherrschten. Wir könnten uns plötzlich verlieren, und dann würden wir ohne das nicht auskommen. An unsere erste Moskauer Wohnung erinnere ich mich gut das Haus war alt, mit hohen Zimmerdecken, es stand auf einem Hof, direkt gegenüber vom Hauptpostamt. 17 6 Gymnastik Maxim Aus dem Radioapparat dringt eine muntere Stimme : Aufrecht stehen, die Füÿe in Schulterbreite ! Erste Übung . . . Früher Morgen, vor den Fenstern winterliche Dunkelheit, aber wir Papa, Galia und ich machen Beugungen und schwingen die Arme unter der Begleitung eines unsichtbaren Flügels. Da Vater um unsere Gesundheit überaus besorgt war, trieb er uns in alle Frühe aus dem Bett und hielt uns zum Gymnastik Machen an. Daran erinnere ich mich sehr gut. Nicht einmal den Namen des Menschen, der im Radio die Sendung mit der Morgengymnastik moderierte, habe ich vergessen : Durch die Übungsstunde führte Hochschullehrer Gordejew. Galina Noch bis zum Krieg behandelte uns in Leningrad der bekannte Kinderarzt 1 Alexander Fjodorowitsch Tur . Und wenn er nach Moskau fuhr, kam er immer gleich bei uns zu Hause vorbei und untersuchte sowohl mich als auch Maxim auf 's aufmerksamste. Unsere Eltern bemühten sich, alle Empfehlungen, die der Arzt gab, strikt zu befolgen. Auf Alexander Fjodorowitschs Rat hin wurden für uns Fahrräder gekauft. Boris Chaikin mjan 2 Einmal erzählte Dmitri Dmitriewitsch : Wissen Sie, L. T. Atow- hat mir eine sehr nützliche Morgengymnastik empfohlen : eine Schachtel Streich- hölzer ausschütten, und dann sich nach jedem einzelnen Streichholz zu bücken, bis alle wieder aufgesammelt sind. Probieren Sie's, es ist sehr schwierig, mir ist es nicht gelungen. Warum nicht ? Verstehen Sie, am ersten Tag hab ich alles so gemacht, wie Atowmjan mir gesagt hatte. Am zweiten Tag stellte sich heraus, dass mir sehr wenig Zeit blieb, und ich mich hinhocken musste, um alle Streichhölzer gleichzeitig aufzusammeln. Aber am dritten Tag gelang es mir lediglich, die Streichhölzer auszuschütten, als man mir schon am Telefon mitteilte, dass ich in einer dringenden Angelegenheit wegfahren müsse. Ich zog mich schnell an und sagte im Hinausgehen zur Njanja : Ich habe da Streichhölzer ausgeschüttet, bitte, heben Sie sie auf. 1 Alexander Fjodorowitsch Tur (1894 - 1974), sowjetischer Kinderarzt, Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 2 Lewon Tadewosowitsch Atowmjan (1901 - 1973), sowjetischer Komponist 18 7 Orchesterproben Maxim Das Orchester hörte auf zu spielen, und der Dirigent wandte sich zu uns um. Sehr schön, sehr schön, sagt Vater in seiner gewohnten Schnellspreche. Und die Probe der achten Symphonie wird fortgesetzt. Das ereignet sich in Leningrad im Frühling des Jahres 1946. Ich war noch klein, aber Vater nahm mich zu einer von den Proben mit, und daran erinnerte ich mich mein ganzes 1 Leben lang. Am Pult steht Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski , und ich betrachtete ihn voller Begeisterung dafür, wie er mit dem Orchester probte. Und da nun, genau da, traf ich die klare Entscheidung : wenn ich groÿ bin, werde ich Dirigent ! Ich war häug bei Proben dabei, zu denen man meinen Vater einlud. Er machte sehr wenige Anmerkungen. Normalerweise waren das nur vier Worte : lauter, leiser, langsamer, schneller . . . Manchmal konnte er auch etwas mehr sagen, aber dann nur zu den Musikern, denen er vertraute, an deren Können und Begabung er keinen Zweifel hegte. Wenn ein Ausführender ihm nicht so lag, wurde er ihn mit den Worten los : Gehn wir weiter, gehn wir weiter . . . Alexander Gauk 2 Bei den Proben saÿ Dmitri Dmitriewitsch immer ruhig im Saal (natürlich war das nur eine äuÿerliche Ruhe). Er gestattete sich keinerlei Ausrufe oder Aufgeregtheiten, da er nur zu gut verstand, dass Proben dem Einstudieren eines neuen Werkes dienten und in keinem Fall eine Vorführung waren. All seine Anmerkungen machte er immer in einer Pause und in höchst rücksichtsvollem Tonfall. Nur wenn er einen Schreibfehler in den Noten entdeckte, erlaubte er sich, ans Pult heranzutreten, und wies dann, nachdem er geduldig die nächste Unterbrechung abgewartet hatte, ganz leise auf den Fehler hin. Immer war er höchst unaufdringlich. Viel könnten von dieser seiner Haltung andere Komponisten lernen, die die Forderung erheben, Orchester und Dirigent hätten gleich sofort in der ersten Probe das Werk konzertreif auszuführen. Klawdi Ptiza 3 In Erinnerung bleibt, wie begeistert Alexander Wassiljewitsch Gauk von Schostakowitschs erstaunlichem musikalischen Gehör erzählte. Bei der Probe zu einer von Schostakowitschs Symphonien im groÿen Saal des Konservatoriums, als gerade das erste Allegro gespielt wurde, blickte sich Alexander Wassiljewitsch, der am Pult stand, um und sah, dass der Komponist, schmerzlich das Gesicht verziehend, zu ihm eilte : Alexander Wassiljewitsch, sagte Dmitri Dmitriewitsch, der zweite Geiger am dritten Pult der ersten Violinen hat s statt f gespielt. So war es dann auch. Maxim Im September des Jahres 1962 waren wir mit Vater in Edinburgh auf einem Festival. An eine von den Proben erinnere ich mich : ein polnisches Orchester 1 Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski (1903 - 1988), russischer Dirigent, setzte sich in besonderem Maÿ für das Werk Schostakowitschs ein 2 Alexander Wassiljewitsch Gauk (auch Gauck 1893 - 1963), ukrainischer Dirigent und Komponist, viele Urauührungen von Werken Schostakowitschs, Prokofjews, Chatschaturjans u. a. 3 Klawdi Borisowitsch Ptiza (1911 - 1983), sowjet-russischer Chorleiter und Pädagoge 19 spielte die achte Symphonie. Dort gibt es ein Trompetensolo, ein ziemlich langes. Der Musiker spielte das überaus frivol, ganz und gar nicht in dem Charakter, den der Autor sich gewünscht hätte. Schostakowitsch saÿ in der ersten Reihe und verzog das Gesicht. Dem Dirigenten dagegen geel das sehr, er wendete sich zu meinem Vater um und fragte selbstgefällig : Gut, nicht ? Da rief ihm Schostakowitsch zur Antwort zu, auch auf polnisch : Keine Spur von gut ! 20 8 Verkehrserziehung Galina Im Komarowo der Nachkriegszeit, das heiÿt, damals noch in Kellomäki, gab es breite, schnurgerade Straÿen, die die Finnen gebaut hatten, aber auÿerdem noch eine groÿe Menge ganz enger Pfade, die sich unter den Bäumen dahinschlängelten. Auf Fahrradausügen impfte uns Vater Verkehrskultur ein. Zum Beispiel lehrte er uns, bei jeder Biegung mit der Hand in die Richtung zu zeigen, in die man abbiegen wollte, auch wenn uns das auf den menschenleeren, gewundenen kleinen Waldwegen als eine übertriebene Vorsichtsmaÿnahme erschien. 21 9 Deutsche Kriegsgefangene Maxim Neben unserer Datscha sitzt auf einer Bank ein Mensch in einer abge- tragenen, ausgewaschenen Kriegsuniform. Er sieht bedauernswert aus, blickt sich um und beiÿt gierig in eine Scheibe Brot, die er mit beiden Händen hält. Ich schaue ihn an mit Neugier und heimlicher Furcht, immerhin ist er ein Faschist, ein Deutscher, ein gefangener Soldat der deutschen Armee. Das ist eine meiner ersten Erinnerungen an Komarowo, das übrigens damals, im Jahr 1946, noch den nnischen Namen Kellomäki trug. Die Küstenstraÿe war gerade im Bau und für diese Arbeiten setzte man gefangene Deutsche ein. Einer von ihnen kam manchmal zu unserer Datscha und bat schrecklich schüchtern um Almosen. Und da trat einmal, als ich ihn wieder anschaute, wie er auf unserer Bank saÿ, Vater zu mir heran. Er sah mir auf den Kopf und begann mit leiser Stimme zu reden : Keine Angst, du brauchst vor ihm keine Angst zu haben . . . Er ist ein Opfer des Krieges. Der Krieg macht Millionen von Menschen unglücklich. Er kann ja doch nichts dafür, dass man ihn in die Armee gesteckt und dazu gezwungen hat, an der russischen Front zu kämpfen, im Gemetzel. Er hat noch Glück gehabt, er ist am Leben geblieben. Dort in Deutschland wartet seine Frau. Und wahrscheinlich haben sie Kinder, solche wie du und Galia . . . Unser Vater hasste jede Art von Gewalt, um so mehr den Krieg. In meinem Beisein erzählte er einige Male einen alten, vorrevolutionären Witz. Ein Jude aus einem Städtchen wurde in die Armee gesteckt und an die Front geschickt. Sobald nun die ersten Schüsse des Gegners krachten, sprang dieser Mensch aus dem Schützengraben und schrie zur Seite der schieÿenden Deutschen hin : Was macht ihr da ? Hier sind doch lebendige Menschen ! Schostakowitsch erzählte diesen Witz ohne Lächeln oder gar Lachen, vielmehr mit einem tragischen Gesichtsausdruck. Michail Ardow Ich verstehe Maxim sehr gut. Hier eine von meinen klarsten Erinnerungen im Zusammenhang mit der Zeit des Kriegsendes. Mein kleiner Bruder Boris und ich stehen vor einem hohen dreigeschossigen Haus mit Portikus und Säulen. Aber 1 das Gebäude ist nicht verputzt, überall wird gebaut. Das ist die Siedlung Bakowka , in der Nähe von Moskau, hier wird eine Villa für die Sängerin Lidia Ruslanowa 3 2 und ihren Mann, General W. W. Krjukow , errichtet. Borja und ich schauen auf zwei Arbeiter, die Paletten mit Ziegeln tragen. Sie sehen friedlich und unterwürg aus, ihre Kleidung ist schäbig . . . Aber wir schauen sie mit Schrecken an : immerhin sind das Deutsche, Faschisten ! 1 westlicher Vorort Moskaus, ca. 20 km vom Zentrum entfernt 2 Lidia Andrejewna Ruslanowa (1900 - 1973), populäre Sängerin von Volksliedern in der UdSSR 3 Wladimir Wiktorowitsch Krjukow (1897 - 1959), sowjetischer Feldherr 22 10 Komarowo nach dem Krieg Galina Im Jahr 1946 wurde der Mietvertrag für die Datscha in Komarowo erneuert, und seit dieser Zeit wohnten wir jeden Sommer an der karelischen Landenge. Es war dasselbe geräumige Haus am Groÿen Prospekt, das unsere Familie noch vor dem Krieg genutzt hatte. Es steht auch heute noch. In diesen Jahren war die Siedlung allerdings bei weitem gemütlicher als jetzt. Aus einem Brief D. Sch.'s an L. Arnstam 1 Ich lebe wunderbar. Ich genieÿe die Natur. Es ist gut hier, auch wenn es regnet. Ziemlich oft bin ich in der Stadt. Mir stellt sich das Problem, wie ich leicht zu einem Verdienst kommen kann, weil meine Mittel für den Lebensunterhalt versiegt sind. Daran gewöhnt, auf groÿem Fuÿ zu leben, erfahre ich die unleugbare Unbequemlichkeit, auf kleinen Fuÿ überwechseln zu müssen. Es drückt im Schritt, wie die Nadelarbeiter sagen . . . Boris Chaikin Das Jahr 1946. Wir trafen uns auf der Datscha, an der Kareli- schen Landenge. Am Abend sollte ich die Gäste nach Hause fahren. Auf der Karelischen Landenge waren die Straÿen noch nicht wieder in Stand gesetzt worden. Steil abfallende Passagen wechselten sich mit ebenso steil aufsteigenden ab. Mein Auto war alt, 2 ein Vorkriegsmodell, wenig wendig. Neben mir saÿ Galina Sergejewna Ulanowa , hinten 3 D. D. Schostakowitsch und A. B. Marienhof . Bei einer besonders steil abfallenden Bodenwelle beugte sich Marienhof zu mir vor und üsterte : Spüren Sie eigentlich, wen Sie da fahren ? Verstehen Sie, dass Sie jetzt zwei Biograen beenden können ? (Wir waren zu viert. Und Marienhof sprach nur von zwei Biograen ! Das bedeutete, meine und seine hatte er völlig zu Recht ausgeklammert.) 1 Leo Oskarowitsch Arnstam (1905 - 1979), sowjetischer Filmregisseur und Autor 2 Galina Sergejewna Ulanowa (1909 - 1998), Ballerina, wichtige Volkskünstlerin der UdSSR 3 Anatoli Borissowitsch Marienhof (1897 - 1962), russischer Schriftsteller kurländischer Abstammung 23 11 Kinderstreiche Galina Ich habe mich im Gebüsch versteckt, aber Maxim liegt auf der Straÿe, neben seinem auf die Erde geschleuderten Fahrrad . . . Bis heute ist mir das peinlich, obwohl seit damals mehr als fünfzig Jahre vergangen sind. Passiert ist das in Komarowo, in der Nähe unserer Datscha. Die Eltern besuchten irgendjemanden, und mein Bruder und ich waren uns selbst überlassen. Wir waren noch klein und dumm, und da kam es Maxim plötzlich in den Sinn, Mama und Papa einen Streich zu spielen. Er wollte so tun, als sei er beim Fahrradfahren von einem Auto angefahren worden. Als wir von ferne die Eltern zurückkommen sahen, legte sich der Bruder auf die Straÿe und nahm eine höchst unnatürliche Haltung ein. Die Reaktion von Vater und Mutter kann man sich leicht vorstellen. Sie lachten ganz und gar nicht über unseren Witz, beide wurden wir streng gemaÿregelt. Sonst erinnere ich mich an keinerlei besondere Strafen. Wenn mein Bruder und ich uns etwas hatten zu Schulden kommen lassen, schaute Mama uns vorwurfsvoll an, Vater aber wurde nervös und rauchte. In gewissem Sinn wirkte das stärker als Geschrei und Moralpredigten. Maxim Wenn ich irgendetwas ausgefressen hatte, geriet Vater schrecklich in Verwirrung. Wenn sich aber etwas derartiges wiederholt hatte, benutzte er eine Wendung, die mir sehr Angst machte : Komm bitte zu mir ins Zimmer, ich muss ein ernstes Wort mit dir reden. Ich ging hin. Er sagte mir dann : Du hast mir einige Male versprochen, so etwas nicht zu tun, aber jetzt doch wieder . . . An dem Punkt holte er ein sauberes Blatt Papier her und sagte : Schreib auf : ich werde nie mehr das und das tun . . . so . . . jetzt unterschreibe . . . setze das heutige Datum dazu. Daraufhin wurde dieses Blatt in den Schreibtisch gepackt. Sollte ich nun dieses Vergehen ein weiteres Mal begangen haben, so rief er mich wieder in sein Zimmer, holte meinen Schein her und sagte : Hier ist deine Unterschrift, du hast wieder dein Versprechen gebrochen . . . Das allerdings war dann eine unbeschreibliche Schande . . . Vater konnte meine schulischen und häuslichen Angewohnheiten nicht ertragen. Meine Freunde und ich tauschten damals untereinander dauernd irgendetwas Taschenmesser, Schleudern und derartiges mehr. Und ich erinnere mich, die folgende schriftliche Erklärung abgegeben zu haben : Keine Sachen mit nach Hause zu bringen, die anderen Personen gehören. Noch sowas. Ich suche zu Hause Unterstützung : Papa, für nur 30 Rubel gibt's ein Luftgewehr zu kaufen ! Er sagt : Aber ich brauche nicht einmal für zwei Kopeken eins ! Er stellte sich realistisch vor, was bei uns zu Hause los sein würde, wenn ich annge, mit einem Luftgewehr herumzuschieÿen. 24 12 Umstände des Komponierens Galina Vater taucht in der Tür auf : Wer hat meinen roten Bleistift genommen ? Oder : Wo ist mein Lineal ? Maxim und ich schauen uns betroen um, und beginnen das Verlorene zu suchen. Ähnliche Szenen wiederholten sich sowohl in Moskau wie auf der Datscha. Bekanntlich schrieb Schostakowitsch seine Musik nicht am Flügel er saÿ zum Notenschreiben am Tisch. Dabei musste es nicht einmal besonderes still sein : der Hund konnte bellen, oder ein Auto vorbeifahren. Das einzige, was ihn aufbrachte, war eine Unterbrechung der Ordnung. Auf seinem Schreibtisch lagen Bleistifte, Füllfederhalter, ein Lineal. Aber Maxim und ich schleppten ihm ab und zu diese Sachen weg. Maxim Schostakowitsch komponierte nicht im eigentlichen Wortsinn seine Musik. Vielmehr hörte er sie mit einer Art innerem Ohr und hielt sie auf dem Papier fest. Herbert Rappoport 1 Am Abend ging ich zu ihm ins Europäische Hotel. Gäste waren da. Schostakowitsch schrieb irgendetwas am Tisch, nahm an den Witzeleien teil. Alle waren froh, ich aber traurig, weil mir die Honung, Musik für den Film zu bekommen, dahinschwand. Schostakowitsch schrieb immer weiter und unterhielt sich dabei. Ich stand auf, um wieder zu gehen. Wo wollen Sie denn hin ? fragte Schostakowitsch und reichte mir die eben geschriebenen Notenblätter neue Teile für Tscheremuschki. So wurde ich Zeuge, wie ein Genie Musik auf wundersame Weise zur Welt brachte. Das waren die besten Teile. 1 Herbert Rappoport (1908 - 1938), österreichisch-sowjetischer Regisseur, u. a. Film-Operette Moskau-Tscheremuschki (1963) mit Musik von Schostakowitsch 25 13 Komponierende Kinder Maxim Als ich klein war, beobachtete ich oft, wie Vater komponierte. Er sitzt und schreibt. Ich nahm mir Notenpapier von ihm und begann, ihn nachahmend, Punkte mit Fähnchen zu malen. Dann ging ich zu Vater hin und sagte : Und jetzt spiel das, was ich geschrieben habe. Widerspruchslos setzte Vater sich an den Flügel und versuchte das Abrakadabra zu realisieren, das meiner Kinderfeder entsprungen war. Mir geel diese Musik nicht, denn er spielte genau eben das, was da stand. Da erklärte mir Vater : Um richtige, gute Musik zu komponieren, muss man lang und zäh studieren. Auf meine Frage : Und wie studieren ? sagte er in unverändertem Tonfall : Für den Anfang kannst du Variationen schreiben. 26 14 Stücke für Kinder Galina Ein heller Frühlingstag. In Vaters Zimmer ist das Klappfenster geönet, und ich höre die Stimmen der Kinder, die auf dem Hof herumtollen. Ich aber sitze am Flügel, spiele eine ausgelassene Polka, und über mein Gesicht laufen bittere Tränen. In diesem Augenblick kam Vater ins Zimmer. Meine Tränen in Verbindung mit der sorglosen Melodie machten Eindruck auf ihn, und seit eben diesem Tag hörten meine qualvollen Musikstunden auf. Nur den Bruder Maxim traf dieses Los. Zweifel an meiner Eignung für eine musikalische Karriere kamen Vater schon etwas früher. Gleich als wir den ersten Klavierunterricht bekamen, ng er mit dem Komponieren von Stücken für Kinder an. Das erste war einfach, das zweite etwas schwerer. Vater wollte sie herausgeben, dazu aber musste das Opus von einer speziellen Kommission innerhalb des Komponistenverbandes angenommen werden. Da beschloss er, dass ich sie dort spielen sollte. Das erste Stück spielte ich ohne Noten, beim zweiten aber kam ich raus. Ich ng nochmal an und kam wieder raus. Hier hielt Vater es nicht mehr aus und erklärte : Sie hat alles vergessen . . . ich werde es selber zu Ende spielen. Und er nahm meinen Platz am Flügel ein. Bis heute kann ich diese Blamage nicht vergessen. 27 14 Zwei Flügel Maxim Im breiten Treppenhaus schwingt ein riesiger Konzertügel hin und her. Es sieht so aus, als würde er gleich herabstürzen und gegen die Brüstung geschlagen werden. Schostakowitsch schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und verlässt den Hauseingang, geht auf die Straÿe hinaus. So gestaltete sich unser Umzug von der Kirowstraÿe in die Moschaiskoje-Chaussee. Im Jahr 1947 erlieÿ die Regierung eine Anordnung, auf Grund derer man Schostakowitsch eine Wohnung im neuen Haus an der Moschaiskoje-Chaussee und eine Datscha im nahe Moskau gelegenen Bolschewo zur Verfügung stellte. Es handelte sich gar nicht um eine Einzelwohnung, sondern eigentlich um zwei, aus denen man durch Einreiÿen einer Wand eine gemacht hatte. Nun, und da wurden dann schlieÿlich die Möbel nach Moskau geschat, die in der Leningrader Wohnung gestanden hatten, darunter ein Konzert- und ein Kammermusikügel. Sie in den dritten Stock zu schleppen, kostete groÿe Mühe, und die Arbeiter mussten Seile und Winden zu Hilfe nehmen . . . Bei der Gelegenheit ist zu erwähnen, dass Vaters Konzertügel ans Newa-Ufer zurückgekehrt ist. Auf meine Bitte hin wurde er restauriert und steht jetzt in meiner Petersburger Wohnung. Michail Ardow Im Zusammenhang mit den beiden Flügeln Schostakowitschs habe ich auch eine tragikomische Geschichte. Diesen Morgen werde ich nie vergessen. Ich schlug die Augen auf und sah vor mir zwei schwarze Flügel. Besonders der Umstand, dass es zwei waren, versetzte mich in beunruhigendes Erstaunen. Die Sache erklärte sich aber ganz einfach. Wie es gelegentlich vorkam, war ich bei Maxim über Nacht geblieben, und hatte mich auf 's Sofa im Zimmer des Vaters gelegt. Dmitri Dmitriewitsch war auf der Datscha. Beim Aufwachen erinnerte ich mich nicht sofort wieder an die Geschehnisse des vorausgegangenen Abends, und schaute lange auf diese zwei Flügel im Bemühen, zu verstehen, ob sie Traum oder Wirklichkeit seien. 28 16 Fuÿball Galina Ich sitze neben Vater auf einer Bank und langweile mich entsetzlich, im Kopf habe ich nur einen Gedanken : Wann hört das endlich auf ? Aber mein Erzeuger ist aufgeregt, hingerissen, leidenschaftlich . . . Diese Erinnerung bezieht sich auf den weit zurückliegenden Tag, an dem Vater mich zu einem Fuÿballspiel mitnahm. Für mich war das dort vollkommen uninteressant, ich verstand nichts von diesem Spiel, ja, und ich wollte auch gar nichts davon verstehen. Aber plötzlich ereignete sich auf dem Spielfeld etwas, was mich amüsierte und zum Lachen brachte infolge eines ziemlich starken Schusses ging der Torbalken kaputt. Auf dem Spielfeld herrschte Verwirrung, auf den Tribünen unglaubliche Aufregung und Schreie. Das ist der Grund, warum ich mich noch immer an meinen einzigen Besuch in einem Stadion erinnere. Vater war sein ganzes Leben lang ein glühender Fuÿballfan. Nicht nur wusste er aus mehreren Generationen die Namen von Spielern, sondern er führte auch irgendwelche Aufzeichnungen, stellte einen Statistik von Spielen zusammen. Und ich bin mir sicher, wenn er noch lebte, würde es ihm keine besondere Mühe bereiten, die Frage zu beantworten : in welchem Jahr, an welchem Tag und natürlich in welchem Stadion hat das Spiel stattgefunden, an das ich mich erinnere. Sofia Chentowa Als Fuÿballbegeisterter träumte Schostakowitsch davon, eine Hymne für diese Sportart zu schreiben, aber als der Fuÿballmarsch von Blanter 1 herauskam, erklärte er stolz : Hier haben wir das, was unser Motja komponiert hat ! Wegen des Fuÿballs kam es manchmal zu lustigen Sachen. 2 Der Fuÿball brachte ihn mit Konstantin Jessenin zusammen, einem Stiefsohn Meyer- 3 holds , der sich an Schostakowitsch seit der Zeit erinnert, als der Komponist die Musik 4 zum Schauspiel Klop schrieb. Aufmerksam geworden auf einen aktuellen Artikel Konstantin Jessenins, der die Fuÿballstatistik in poetische Höhen trieb, setzte Schostakowitsch ihm in einem Brief seine faktischen Verbesserungsvorschläge auseinander. Die Handschrift war wie gewöhnlich wenig leserlich, die Unterschrift unklar, und Jessenin rief ärgerlich die im Brief angegebene Telefonnummer an : Gibt's bei euch einen Alten, der sich für Fuÿball interessiert ? Gibt es, antwortete eine Frauenstimme. Ich werde ihn gleich herrufen. Jessenin begann eine hitzige Kontroverse mit dem pedantischen Alten. Am Ende des Gesprächs fragte er : Und wie ist Ihr Name ? Als er dann ein schüchternes Schostakowitsch hörte, erstarrte er. 1 Matwei Isaakowitsch Blanter (1903 - 1990), sowjetischer Komponist, bekannt u. a. für das Lied Katjuscha, der Fuÿballmarsch erschien 1938 2 Konstantin Sergejewitsch Jessenin (1920 - 1986), sowjetischer Sportjournalist 3 Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold (1874 - 1940), russischer Regisseur und Schauspieler, gilt aufgrund der Entwicklung einer radikal neuen Bühnenkunst als einer der bedeutendsten Theaterregisseure des 20. Jahrhunderts 4 deutsch die Wanze, satirische Komödie von Wladimir Majakowski zur NEP (Neue Ökonomische Politik Lenins und Trotzkis) aus den Jahren 1928/29 29 Michail Ardow Matwei Isaakowitsch (Motja) Blanter war ein enger Freund meines Vaters, und mir sind die Umstände bekannt, unter denen sein berühmter Fuÿballmarsch, der Schostakowitsch so begeisterte, das Licht der Welt erblickte. Blanter dachte sich die Melodie aus, spielte sie, hatte aber keine Lust mehr, sie aufzuschreiben das verschob er auf den nächsten Tag. Anderntags setzte er sich an den Flügel, konnte sich aber auf keine Weise an das erinnern, was er tags zuvor komponiert hatte. Da beschloss er, sich hilfesuchend an seinen Sohn zu wenden, der zu Hause gewesen war, als die Melodie erklang. Wolodja, sagte Blanter zu ihm, du erinnerst dich, ich habe gestern einen neuen Marsch gespielt . . . Ich erinnere mich, gab der Sohn zurück. Kannst du mir die Melodie nicht wieder ins Gedächtnis zurückrufen ? Kann ich, sagte der, Gib mir hundert Rubel. Ja, schämst du dich nicht ?! , empörte sich sein Erzeuger. Was hast du, kannst du nicht uneigennützig deinem leiblichen Vater helfen ? Gib mir hundert Rubel und ich helfe dir . . . Blanter zuckte mit den Schultern und wollte sich selber an seine Komposition erinnern. Aber so sehr er sich auch plagte, die veruchte Melodie el ihm nicht mehr ein. Da spuckte er aus, holte einen Hunderter und ging wieder ins Zimmer seines Sohnes. Der nahm den Schein und sang den Marsch vor, den dann alle Fuÿballfans so gut kannten . . . Aber auch das konnte mein Vater bezeugen : erklang diese Musik, so freute das Blanter selbst ganz und gar nicht. Einem damaligen Gesetz zufolge gab es nämlich für Werke, die im Radio gesendet wurden, keine Autorenhonorare. Und das ärgerte Blanter da hört man den Marsch fast jeden Tag, aber Gewinn bringt er keinen. Maxim Vater war nicht nur ein groÿer Fuÿballexperte, er war auch diplomierter Schiedsrichter für Fuÿball. Dieser Titel war ihm schon vor dem Krieg in Leningrad verliehen worden. Er wusste die Regeln der verschiedensten Spiele auswendig und liebte es, Wettkämpfe zu pfeifen. Ich erwähnte bereits, dass in Iwanowo im Haus des Schaens natürlich er der ständige Schiedsrichter bei den Volleyballwettkämpfen war. Galina In den fünfziger Jahren erholte sich Vater in einem regierungseigenen Sanatorium auf der Krim, und dort hatte er das Schiedsrichteramt bei Tenniswettkämpfen zu übernehmen. Zu denen, die täglich auf dem Platz auftraten, gehörte auch der 1 Armeegeneral Iwan Alexandrowitsch Serow , der damals das Amt des Vorsitzenden des KGB innehatte. So, und da, wenn der Obertschekist irgendeinen Fehler gemacht hatte, dann aber reklamierte, zügelte Schostakowitsch ihn unabänderlich mit dem Satz : Mit dem Schiedsrichter streitet man nicht ! Vater räumte ein, es habe ihm wahre Wonne bereitet, diesen Satz dem KGB-Vorsitzenden ins Gesicht zu sagen. 1 Iwan Alexandrowitsch Serow, (1905 - 1990), General des KGB, Gefolgsmann Chruschtschows, beteiligt an der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes 1956 30 17 Michail Soschtschenko Maxim Mit einem weiÿen Tuch und groÿer Eleganz ist der Tisch gedeckt. Bei Groÿmutter Vaters Mutter Soa Wassiljewna gibt es ein Gala-Essen. Zu den Geladenen gehören unsere Eltern, die Schwester und ich, und der Hauptgast Michail Michailowitsch Soschtschenko. 1 In Erinnerung geblieben ist mir, dass ich während dieses Essens mit besonderer Neugierde auf ihn schaute. Vater hatte oft über ihn gesprochen, seine Erzählungen zitiert. Dabei el mir ein, dass Soschtschenko so lustig schrieb, selbst aber nie lachte. Michail Michailowitsch war mit der Groÿmutter Soa Wassiljewna befreundet, schätzte Schostakowitsch hoch und verehrte ihn. Unser Vater erwiderte ihm seine Liebe, eine besondere Seelenverwandtschaft allerdings stellte sich zwischen ihnen nicht ein, dafür waren ihre Charaktere zu verschieden. Noch ein Gedanke dazu. Soschtschenko stand der Welt der Musik ziemlich fern, und aus dem Grund konnte er das kompositorische Talent Schostakowitschs nicht in vollem Maÿe würdigen. Im Gegensatz dazu kannte unser Vater die russische Literatur ausgezeichnet, er liebte Gogol, Dostojewski, Leskow, Saltykow-Schtschedrin, Tschechow, und natürlich verstand er die ganze Gröÿe Soschtschenkos. Michail Soschtschenko in einem Brief an Marietta Schaginjan 2 vom 4. August 1941 D. Dm. habe ich sehr gern. Er hat Ihnen ganz richtig gesagt, meine Beziehungen zu ihm sind gut. Ich kenne ihn seit langem, wahrscheinlich 15 oder 16 Jahre. Wobei ich diese Freundschaft nicht suchte, da ich ihre Unmöglichkeit erkannt hatte. Jedes Mal, wenn wir zu zweit waren, hatten wir es ziemlich schwer miteinander. Unsere Ströme vereinten sich nicht. Sie strebten auseinander. Beide wurden wir äuÿerst nervös (im Inneren natürlich). Und trotz häuger Begegnungen gelang uns nie ein wirklich herzliches Gespräch. Michail Ardow Die gegenseitige Sympathie und Wertschätzung, die Schostakowitsch und Soschtschenko füreinander empfanden, ist bezeichnend : im Schicksal dieser genialisch begabten Menschen gab es viel Gemeinsames. Jeder von beiden war der Erste auf seinem Gebiet Dmitri Dmitriewitsch zweifelsohne der beste unter seinen komponierenden Zeitgenossen, und Michail Michailowitsch der talentierteste Schriftsteller. Beide hatten sich groÿen und weitreichenden Ruhm zu Lebzeiten erworben. Beide waren sie am Rand des Untergangs gestanden, jeder hatte zweimal Entehrung erlitten durch ein gnadenloses Regime : Schostakowitsch 1936 und 1948, Soschtschenko 1946 und 1954. Aber auch einen gewaltigen Unterschied gab es zwischen ihnen. Schostakowitsch durchschaute die verbrecherische bolschewistische Macht und schätzte sie realistisch ein, wohingegen Soschtschenko, wie viele Intellektuelle seiner Generation, an eine blutrote 1 Michail Michailowitsch Soschtschenko (1894 - 1958), Schriftsteller, anerkannter Klassiker der russischen Literatur 2 Marietta Sergejewna Schaginjan (1888 - 1982), Schriftstellerin armenischer Abstammung, Textilweberin, Dozentin für Ästhetik 31 kommunistische Utopie glaubte, oder besser, sich zum Glauben an eine solche zwang. Mit gutem Grund lässt sich behaupten, dass gerade dieser Glaube ihn letzten Endes in den zu frühen und qualvollen Tod getrieben hat. Im Jahr 1936, als der Skandal um die Auührung seiner Oper Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk ausbrach, gab Dmitri Dmitriewitsch der Einschüchterung und dem Druck durch die Behörden nicht nach, er erniedrigte sich nicht bis zur öentlichen Selbstbeschuldigung. Im Jahr 1948, als der ZK-Beschluss Über die Oper `die 1 groÿe Freundschaft' von Muradeli herauskam, gelang es ihm nicht, dem zu entrinnen, aber, nochmal, Schostakowitsch war sich über das Wesen des verbrecherischen Systems durch und durch im Klaren und gab sich keinerlei Illusionen hin. Zwei Jahre davor war Soschtschenko in genau dieselbe Situation geraten er wurde zur Zielscheibe eines vernichtenden Beschlusses des ZK, aber er verhielt sich äuÿerst naiv. Michail Michailowitsch beschloss, dem absoluten Oberhenker zu schreiben Stalin, und diesen Brief kann man nur mit Bitterkeit und Scham lesen : Lieber Josef Wissarionowitsch ! Ich war nie ein antisowjetischer Mensch. 1918 trat ich als Freiwilliger in die Rote Armee ein und war ein halbes Jahr an der Front, wo ich gegen die Truppen der Weiÿgardisten kämpfte. Ich stamme aus einer adligen Familie, aber nie gab es einen Zweifel, zu wem ich halten müsse zum Volk oder zu den Grundbesitzern. Ich hielt immer zum Volk. Und das nimmt mir keiner weg . . . Doch meine Position als Satiriker in der Literatur hat mich selbst nie befriedigt. Und ich habe mich immer um die Darstellung der positiven Seiten des Lebens bemüht. Aber das war nicht so einfach zu bewerkstelligen so wie es einem Komiker schwerfällt, eine heroische Rolle zu spielen. Man kann an Gogol denken, der sich zu bejahenden Formen auch nicht durchringen konnte . . . Ich bitte darum, mir zu glauben ich suche nichts und bitte um keine Verbesserungen in meinem Schicksal. Aber wenn ich Ihnen schreibe, dann mit dem einzigen Ziel, ein wenig meinen Schmerz zu lindern. Ich war nie ein literarischer Lump oder ein gemeiner Mensch, oder ein Mensch, der seine Arbeit zum Wohle von Grundbesitzern oder Bankiers getan hat. Das ist falsch. Ich versichere es Ihnen. Mich. Soschtschenko Im Jahr 1954 entlud sich über dem Haupt des armen Michail Michailowitsch ein weiteres Gewitter. Er hatte sich erlaubt, öentlich, in Gegenwart von Ausländern, an der Rechtmäÿigkeit dieses nach wie vor entehrenden Beschlusses des ZK des Jahres sechsundvierzig zu zweifeln. Und dafür bekam er noch eine öentliche Abreibung. Eine Versammlung der Leningrader Schriftstellerorganisation fand statt, zu der, dem gröÿeren 1 Wano Iljitsch Muradeli (1908 - 1970), sowjetischer Komponist und Dirigent mit georgisch-armenischen Wurzeln, sah sich durch diesen ZK-Beschluss ebenso wie Prokofjew, Schostakowitsch u. a. dem Vorwurf des Formalismus ausgesetzt 32 Gewicht wegen, die Vorsitzenden aus Moskau anreisten K. Simonow 2 wenzew. 1 und A. Per- Soschtschenko trat dort mit einer überraschenden Rede auf. Sie war sozusagen sein letztes Wort. Und zwar nicht nur in seiner Situation als Angeklagter, sondern überhaupt sein allerletztes, nach dem er sich, so scheint es, nie mehr in der Öentlichkeit zeigte. Aber o weh sogar diese seine verzweifelte Abschiedsrede beginnt der arme Teufel damit, seine Zugehörigkeit zur korrupten sowjetischen Literatur zu bekunden, zum widerwärtigen Klan der Sowjetschriftsteller. In meinem Antrag mit der Bitte um Aufnahme in den Schriftstellerverband schrieb ich, dass ich mich in vielem geirrt und Fehler gemacht hätte, dass ich aber der Behauptung nicht zustimmen könne, kein sowjetischer Schriftsteller zu sein und auch nie einer gewesen wäre. Das war der Hauptvorwurf in dem Bericht damit, dass ich kein sowjetischer Schriftsteller sein soll damit kann ich mich nicht abnden ! Das Ende seiner Rede wühlt einem die Seele auf. Es ist eines der tragischsten Dokumente der ganzen russischen Literaturgeschichte. Ich war meinem Land gegenüber niemals unpatriotisch. Damit kann ich mich nicht abnden. Ich kann es nicht ! Hier nun, meine Genossen, in euren Augen ist mein Schriftstellerleben vorbei. Ihr alle kennt mich doch, kennt mich seit vielen Jahren, wisst, wie ich lebte, wie ich arbeitete, was wollt ihr von mir ? Dass ich zugebe, ein Feigling zu sein ? Verlangt ihr das ? Soll ich mich euretwegen als Spieÿer und als Schwein bekennen, als gemeines Seelchen ? Als gewissenloser Randalierer ? Verlangt ihr das ? Ihr ! . . . Ich kann sagen mein literarisches Leben und Schicksal ist unter diesen Umständen beendet. Es gibt für mich keinen Ausweg. Ein Satiriker muss moralisch integer sein, ich aber wurde gedemütigt wie der letzte Hundesohn . . . Ich dachte, dass das vergessen würde. Es wurde nicht vergessen. Und seit einigen Jahren konfrontiert man mich damit. Nicht nur meine Feinde. Auch die Leser. Das heiÿt, und so wird es auch sein, es wurde nicht vergessen. Für mich gibt es keine Zukunft. Nichts. Ich werde um nichts bitten. Ich brauche nicht eure Nachsicht, eure Schmähungen und euer Geschrei. Ich habe es mehr als satt. Ich werde irgendein ganz anderes Los auf mich nehmen, als das, das ich habe. In einer Tagebuchnotiz vom Sommer 1958 hielt ich über Soschtschenko fest : Zum zweitem Mal in meinem Leben sah ich Michail Michailowitsch vier Monate vor seinem Tod. Ich wusste, dass er in die Ordynka kommen würde, und wartete auf ihn. Schon früher hatte ich Vater gebeten, mir eins von den Soschtschenko-Büchern zu geben, damit dieser es mir persönlich signieren könne. Es machte mich damals betroen, wie schlecht Michail Michailowitschs Sprechen geworden war. Seine Worte kamen mühevoll, wie wenn es ihm Schmerz verursachte, sie aus sich herauszustossen. Ein allgemeines Gespräch war deswegen sehr schwierig. Als das Abendessen begann, ging ich, nachdem ich bis dahin in einer Zimmerecke gesessen hatte, zum Tisch hin und setzte mich neben Soschtschenko. Meine Mutter sagte zu ihm, ich gehöre zu seinen groÿen Anhängern und sei, wie sie sich ausdrückte, ein Kenner. Zum erstenmal schaute er mich mit Interesse an und meinte, wenn er das gewusst hätte, wäre sein Eintrag für mein Exemplar wärmer ausgefallen. 1 Konstantin Michailowitsch Simonow (1915 - 1979), sowjetischer Schriftsteller, Lyriker und Kriegsberichterstatter, Opfer des Tauwetters 2 Arkadi Alexejewitsch Perwenzew (1905 - 1981), sowjetischer Schriftsteller, Dramaturg und Publizist 33 Hier unterbreche ich meine alte Notiz für eine bestimmte Ergänzung. Mutter erinnerte sich später, dass sich zwischen ihr und Soschtschenko folgender kurzer Dialog entsponnen habe : Mischa, warum essen Sie nichts ? Schaun Sie, Ninotschka, was ist das für eine merkwürdige Geschichte : immerzu scheint mir, ich würde vergiftet. Ich kehre zu meiner Notiz zurück : Als Michail Michailowitsch sich verabschiedete, erbot ich mich, ihn bis zur Metro zu begleiten. Er lehnte zuerst ab, als Mutter aber die Bitte unterstützte, stimmte er zu. Wir traten in eine feuchte und kalte Frühlingsnacht hinaus. Er fragte mich, ob es wahr sei, dass ich mich so für ihn interessiere. Ich antwortete, er sei mein Lieblingsschriftsteller, und wenn es die Zeit erlaubte, würde ich über sein Werk schreiben. Er fragte mich, ob ich seine Erzählungen kenne, worauf ich antwortete, dass ich sie kenne und liebe. Beim Abschied versprach er, mir das Buch zu signieren, das jeden Augenblick erscheinen müsse, und sagte, wenn ich es nicht besorgen könne, würde er es mir selber schicken. Und jetzt, einige Tage später, als ich dieses Buch bekam, ist er gestorben . . . Auch an diese Szene erinnere ich mich noch, es war im Jahr 1959. Mein Vater sitzt in seinem Sessel in unserem Esszimmer in der Ordynka und schaut die Zeitung durch, während er Tee in kleinen Schlucken trinkt. Hör mal, sage ich zu ihm, heute ist der zweiundzwanzigste Juli, genau ein Jahr nach Soschtschenkos Tod. In einem anständigen Land hätte bereits die Herausgabe seiner gesammelten Werke begonnen. In einem anständigen Land, erwiderte Vater, wäre er noch am Leben. Maxim Isaak Davidowitsch Glikman bezeugt, dass er am zehnten Todestag Soschtschenkos gemeinsam mit Schostakowitsch zu seinem Grab nach Sestrorezk 1 gefahren sei. Glikman erinnerte sich an diese Worte unseres Vaters : Er ist zu früh gestorben, 2 aber wie gut, dass er seine Henker überlebt hat Stalin und Schdanow. Ich weiÿ aber auch noch, wie Vater von Zeit zu Zeit den Satz äuÿerte : Alles geb ich her für die sechsbändige Soschtschenko-Ausgabe. Galina Unsere Groÿmutter Sofja Wassiljewna war ein sehr genauer Mensch. Im Jahr 1946 nahm sie Hilfe für Soschtschenko auf sich, sie sammelte Geld für ihn hatte man doch vollständig damit aufgehört, ihn zu publizieren, und ihn so jeglicher Mittel zum Lebensunterhalt beraubt. Groÿmutter war kontaktfreudig, fröhlich, war oft in Konzerten, und nicht nur, wenn Schostakowitsch gespielt wurde. Ausgezeichnet bewandert war sie in der Literatur, hatte sehr vielfältige Interessen. Bei ihr zu Hause waren viele Menschen, ein ständiges Kommen und Gehen. Immer übernachtete irgendjemand. Sie war eine Menschensammlerin. In dieser Hinsicht war sie das genaue Gegenteil ihres Sohnes. Schostakowitsch war von Natur aus weder kontaktfreudig noch redselig. Fremde, soweit sie im Haus zugegen waren, verursachten ihm ein gewisses Ungemach. Von Kind auf lehrte er uns Regeln für den Umgang mit Freunden und Bekannten : Niemand darf nach zehn Uhr abends oder vor zehn Uhr morgens anrufen. Ohne vorherigen Anruf 1 Stadt am Finnischen Meerbusen, ca. 35 Kilometer nordwestlich von Sankt Petersburg. 2 Andrei Alexandrowitsch Schdanow (1896 - 1948), sowjetischer Politiker, enger Mitarbeiter Stalins, verantwortlich für die repressive Kulturpolitik, unter der Achmatowa, Pasternak, Soschtschenko, Eisenstein, Prokofjew, Schostakowitsch u. a. zu leiden hatten (Speichellecker des Westens) 34 oder Einladung darf man niemanden besuchen. Wenn man euch sagt : Kommt einfach vorbei, heiÿt das noch lange nicht, dass man euch eingeladen hat. Eingeladen wird man zu einem bestimmten Datum und zu einer bestimmten Uhrzeit. Nun, er selbst lädt alle mölgichen Freunde zum Mittagessen ein. Zum Beispiel Chatschaturjan mit Gattin. Am Tisch ist die Atmosphäre höchst ungezwungen, es gibt Witze, Gelächter. Aber eine Tafelrunde darf sich nicht endlos hinziehen wenn das Mittagessen, angenommen, um 15.00 Uhr beginnt, dann hat es um 17.00 Uhr zu enden. Und das wussten alle Freunde sehr gut. Für diejenigen, die sich auÿerhalb jeden Maÿes niederlieÿen, gab es in unserer Familie einen Spezialbegri : Steinerner Gast. Manchmal sagte Vater auch noch : Fürchte den Gast nicht, wenn er sitzt, sondern wenn er hinausgeht ! Er mochte es überhaupt nicht, wenn irgendjemand schon im Vorraum stand und immer noch weiterredete. Dabei war unsere Mutter ein geselliger Mensch. Die Datscha in Komarowo fällt mir da ein. Im Erdgeschoss sitzt Mama mit Gästen, Vater komponiert oben. Nun kommt er herunter, setzt sich an den Tisch, hört dem Gespräch zu . . . und nach drei Minuten geht er wieder zu sich nach oben in den ersten Stock. 35 18 Alltagsorganisation Maxim In früheren Jahren existierte in Komarowo eine sogenannte Abteilung für Kindergesundheit. Da hatte ich nun einmal Zahnweh, Vater nahm mich an der Hand und führte mich in eben diese Abteilung. Dort gab es einen Zahnarzt, man platzierte mich in einem Sessel, Vater setzte sich im Zimmer dieses Arztes neben die Tür. Es war ein heiÿer Tag, erinnere ich mich, und das Fenster stand oen. Das Bohren an meinem Zahn ging los, ich spürte einen ungeheuren Schmerz. Es war nicht auszuhalten, ich wand mich aus dem Sessel heraus, stürzte zum Fenster, sprang nach drauÿen und raste heim. Vater aber, vom Vorgefallenen überaus entmutigt, kam wenig später zurück. Er gestand dann ein, dass ihm, als er schon erwachsen war, genau dasselbe widerfahren sei. Auch ihm hatte ein gewisser Zahnarzt starken Schmerz zugefügt, woraufhin er diesen mit den Füssen weggestoÿen habe und aus der Klinik weggelaufen sei, so ähnlich wie ich. Das war aber ein vollkommen untypischer Vorfall. Da er von Natur aus ein äuÿerst genauer Mensch war, ging unser Vater ob es nun nötig war oder nicht alle zwei Monate zum Zahnarzt. Mit der gleichen Regelmäÿigkeit besuchte er auch den Friseursalon. Auf seinem Schreibtisch gab es einen Umlegekalender mit schon vorausmarkierten Tagen, an denen der Zustand der Zähne zu überprüfen war oder die Haare geschnitten werden mussten. Michail Ardow Maxims Worte erinnerten mich an folgende Geschichte : die ganze Familie Schostakowitsch nahm lange Jahre hindurch die Dienste einer privaten Zahnärztin in Anspruch, einer Dame mit irgendeinem bizarren Doppelnamen. Sie praktizierte in ihrer winzigen Wohnung, wo der Vorraum auch Wartezimmer für die Patienten war und das einzige Zimmer sowohl zum Wohnen wie zur Behandlung diente. Mit der Zahnärztin zusammen lebte dort eine alte Dienerin, die Krankenpege-Tätigkeiten wahrnahm. Einmal wachte Maxim am Morgen mit heftigem Zahnweh auf. Er beschloss, alles aufzuschieben, setzte sich ins Auto und fuhr zu der Ärztin. Beim Betreten des Vorzimmers traf er auf das übliche Bild. Auf dem Sofa saÿen zwei ältere Frauen und unterhielten sich leise. Oenbar warteten sie, bis sie an der Reihe waren. Maxim setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. Nach einiger Zeit kam die Dienerin aus dem Zimmer und wandte sich direkt an ihn : Na, was sitzen Sie denn da ?! Kommen Sie, bitte . . . Maxim folgte ihr, auf der Schwelle aber erstarrte er. Inmitten des Zimmers sah er einen Tisch, und darauf einen Sarg, in dem die alte Zahnärztin lag. Nachdem er einige Minuten so gestanden hatte, wandte mein Freund sich ab und fuhr mit seinem Zahnschmerz heim . . . Galina In Schostakowitschs Schreibtischkalender waren Geburtstage von Ver- wandten eingetragen, von Freunden und Kollegen, und Vater vergaÿ nie, ihnen Glückwunsch-Telegramme und -Karten zu schicken. Aufmerksam überwachte er die Genauigkeit der Postzustellung. Als die Datscha in der Umgebung Moskaus aktuell wurde, schickte er eine Postkarte dorthin an die eigene Adresse, um zu überprüfen, ob sie auch ankam, und wie schnell. 36 Maxim Schostakowitsch inszenierte nicht, wie man sagt, die eigene Genialität, das war ihm zuwider. Weder seine eigenen, noch fremde Briefe bewahrte er auf, um so mehr warf er auch die abgerissenen Blätter seines Kalenders in den Papierkorb. Das kann man aus heutiger Sicht nur bedauern. Waren dort doch nicht nur Geburtstage von Freunden und Routineangelegenheiten verzeichnet, sondern auch das, was sich auf sein Schaen bezog. Zum Beispiel in dem und dem Stück die und die Stelle zu verbessern, die Viola-Partie durchzusehen und so weiter und so fort. 37 19 ZK-Beschluss zu Muradeli Galina Vater geht in der Wohnung von Zimmer zu Zimmer und raucht dabei unaufhörlich. Mutter und er sprechen kaum miteinander. Maxim und ich sind auch ganz still, in solchen Momenten ist es nicht angemessen, Fragen zu stellen . . . Das ist der Winter des Jahres achtundvierzig. Ich bin fast zwölf, Maxim zehn. Wir konnten lesen und wussten, dass man in allen Zeitungen den historischen Beschluss des Zentralkomitees der Partei `Über die Oper `die groÿe Freundschaft' von W. Muradeli' gepriesen, und damit die Musik Schostakowitschs und anderer Formalisten auf jede denkbare Art beschimpft hatte. Maxim ging in eine Musikschule, wo der historische Beschluss durchgearbeitet wurde. Als sie davon erfuhren, entschieden die Eltern, dass es für ihn besser wäre, eine Zeit lang nicht in die Klasse zu gehen. Dafür beneidete ich ihn. Ich nämlich war in einer ganz gewöhnlichen Sowjetschule, und im Unterricht unserer sechsten Klasse wurde der Beschluss des ZK nicht einmal erwähnt. Die Folgen dieses historischen Dokuments lieÿen nicht lange auf sich warten : die Symphonieorchester hörten auf, Schostakowitschs Werke aufzuführen, und um die Familie zu ernähren war Vater gezwungen, Musik für Kinolme zu schreiben das aber, muss man sagen, machte er nicht gern. Auÿerdem vertrieb man ihn aus dem DozentenGremium des Konservatoriums, und damit verlor unsere Familie die Möglichkeit, die regierungseigene Polyklinik in Anspruch nehmen zu können. Die Atmosphäre in diesen Tagen war sehr beunruhigend . . . Michail Ardow Viele Male habe ich die folgende Geschichte gehört. In diesen Tagen, als besagter ZK-Beschluss herauskam, zitierte der Stalin'sche Hauptaufseher für Literatur und Kunst, Schdanow, alle führenden sowjetischen Komponisten zu sich (darunter auch Schostakowitsch und Prokofjew). Und dann setzte sich dieser Parteifunktionär selbst an den Flügel und demonstrierte ihnen, was man unter formalistischer Musik zu verstehen habe, und was unter realistischer. Es gab damals sogar solche Lakaien, die sie sich bei dieser Szene nicht nur nicht empörten, sondern darüber sogar in Begeisterung gerieten : Stellt euch vor, sagten sie, er ist Mitglied des ZK-Politbüros und kann auf dem Flügel spielen ! Mein Vater, als er das hörte, entrüstete sich : Idioten, wofür begeistern sie sich ?! Was soll das Herumgeklimpere auf einem Klavier . . . Ich könnte verstehen, dass jemand sagt : Unser Hausmeister kann auf einem Flügel spielen ! Na ja, das wäre erstaunlich. Aber hier als Politbüromitglied ist er zu Kultiviertheit verpichtet. Und was für eine Unverschämtheit Schdanow schämte sich nicht, vor Schostakowitsch und Prokofjew zu spielen ! Am 19. April 1948 wurde die erste Allunions-Sitzung sowjetischer Komponisten erönet. Mit einem Vortrag zum Thema 30 Jahre sowjetische Musik und die Aufgaben sowjetischer Komponisten trat Tichon Chrennikow 1 auf. Hier einige Auszüge : 1 Tichon Nikolajewitsch Chrennikow (1913 - 2007), sowjetischer Komponist, agitierte als Generalsekretär des Komponistenverbandes seit 1948 gegen fortschrittliche Tendenzen in der Musik 38 Auf das Auskosten des Banalen, Flachen, Nichtigen verwendete der junge Schostakowitsch, dem Beispiel westlicher `Meister' der Groteske folgend, viele Kräfte, insbesondere in seinen Balletten über sowjetische Themen . . . Gröbster physiologischer Naturalismus und expressionistisch-krankhafte Übertreibung verbunden mit einer besonderen Grellheit traten in den beiden Opern Schostakowitschs `Die Nase' und `Lady Macbeth' hervor . . . Schostakowitschs siebte Symphonie zeigte, dass sein musikalisches Denken aktiver auf den Ausdruck der verhängnisvollen Erscheinungen des Faschismus und der Welt der subjektiven Reexion gerichtet war, als auf die Verwirklichung der positiven Formen unserer Gegenwart. Die intonatorische Abstraktheit, der Kosmopolitismus seiner musikalischen Sprache, als er sich während des Krieges nicht der Aufgabe stellte, einer national-musikalische Diktion näher zu kommen, wurden zum Hindernis für die dauerhafte Popularität der siebten Symphonie im sowjetischen Volk . . . Maxim Als wir klein waren, wandten wir uns manchmal mit der Frage an Vater, wohin der oder jener von unseren Bekannten verschwunden sei. Er hatte eine sehr kurze Antwort für uns : Er wollte den Kapitalismus in Russland einführen. Aber bald, etwas älter geworden, lernten wir die Lage kennen. Verhaftet wurde der Mann von Vaters 1 älterer Schwester, Wsewolod Fredericks , und starb an den Folgen; seine Gattin, Maria Dmitriewna wurde aus Leningrad verbannt. Auch unsere Groÿmutter mütterlicherseits, Soa Michailowna Warsar, kam damals ins Gefängnis. Seit Beginn der dreiÿiger Jahre bis zum Tod Stalins lebte Vater mit der ständigen Bedrohung durch Gefängnis und Tod. Weder Regimetreue noch genialische Begabung konnte davor bewahren die Schicksale des Dichters Osip Mandelstam oder des Regisseurs Wsewolod Meyerhold geben dafür anschauliche Beispiele. Wie man weiÿ, gehörte zu Schostakowitschs Anhängern der auf Stalins Befehl er- 2 schossene Marschall Michail Tuchatschewski , er tauschte sich manchmal mit Vater aus. Der Komponist Wenjamin Basner 3 erzählte mir, Vaters Worte wiedergebend, fol- gende Geschichte. Schostakowitsch wurde einmal nach einem Besuch bei Tuchatschew- 4 ski ins groÿe Haus gerufen, d. h. in die Leningrader NKWD-Zentrale . Beim Verhör fragte ihn der Untersuchungsrichter : Sie waren bei Tuchatschewski. Sie haben gehört, wie Tuchatschewski mit seinen Gästen einen Plan zur Ermordung des Genossen Stalin erörterte ? Vater begann mit einer Verneinung. Aber Sie werden nachdenken, Sie werden sich erinnern, sagte der Untersuchungsrichter. Einige von denen, die mit Ihnen bei Tuchatschewski zu Besuch waren, haben uns bereits Angaben gemacht. Vater versicherte weiter, dass es nichts derartiges gegeben habe, dass er sich an nichts erinnere. Ich würde Ihnen aber dringend raten, sich an dieses Gespräch zu erinnern, sagte der Untersuchungsrichter drohend. Ich gebe Ihnen eine Frist bis morgen früh 1 Wsewolod Konstantinowitsch Fredericks (1885 - 1944), russischer Physiker, arbeitete auf dem Gebiet der Flüssigkristalle 2 Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski (1893 - 1937), Marschall der Roten Armee, der rote Napoleon, eines der ersten Opfer Stalins aus den Reihen der Militärs 3 Wenjamin Jemowitsch Basner (1925 - 1996), sowjetischer Komponist 4 Volkskommissariat für innere Angelegenheiten 1934 - 1946 39 um elf Uhr. Morgen werden Sie nochmals zu mir kommen, und wir setzen das Gespräch fort . . . Vater kam nach Hause, nicht lebend und nicht tot. Er beschloss, nicht gegen Tuchatschewski auszusagen und bereitete sich auf seine Verhaftung vor. Am nächsten Morgen erschien er wieder im groÿen Haus, bekam einen Passierschein und setzte sich neben dem Arbeitszimmer desselben Untersuchungsrichters hin. Eine Stunde vergeht, eine weitere, aber man ruft ihn nicht auf. Schlieÿlich wendet sich irgendein Tschekist, der durch den Korridor geht, an ihn : Was sitzen Sie da ? Ich sehe, Sie sind schon sehr lang hier. Ich warte, antwortete Vater. Mich müsste der Untersuchungsrichter N. aufrufen. N. ? fragte der Tschekist zurück. Na, auf den brauchen Sie nicht zu warten. Der wurde gestern Nacht verhaftet. Gehen Sie mal heim. So kann man ohne Übertreibung behaupten : Schostakowitsch entkam damals durch ein Wunder der Verhaftung. Rodion Schtschedrin 1 Schostakowitsch lebte in einem Staat, der durchtränkt war von Angst. Seine Angehörigen saÿen irgendwie alle ein. Er war mit Tuchatschewski befreundet, und der schrieb Stalin einen Brief zur Verteidigung nach dem Artikel Chaos 2 statt Musik . Schon allein das hätte genügt, um Dmitri Dmitriewitsch einzusperren. Auch fuhr Schostakowitsch nach Moskau und hielt sich bei Meyerhold auf, in derselben Wohnung, wo dann Sinaida Reich 3 erschossen wurde. Und das hätte genügt, ihn nicht nur einzusperren, sondern umzubringen . . . 1 Rodion Konstantinowitsch Schtschedrin (* 1932), russischer Komponist und Pianist 2 berüchtigter Prawda-Artikel von 1936, infolgedessen weitere Auührungen von Schostakowitschs Oper Lady Macbeth unterblieben 3 Sinaida Nikolajewna Reich (1894 - 1939), russische Schauspielerin, in zweiter Ehe verheiratet mit Wsewolod Meyerhold, nach dessen Verhaftung in seiner Wohnung erschossen 40 20 Schwierige Nachbarn Galina Ein Schild Erholungsheim für Gericht und Staatsanwaltschaft zierte das alte nnische Haus, das an unsere Datscha in Komarowo grenzte. Später wurde diese Einrichtung umbenannt in Erholungsheim für staatliche Anstalten. Aber diese Veränderung beeinusste in keiner Weise das intellektuelle und moralische Niveau derer, die sich dort aufhielten kleine Bedienstete der sogenannten Straforgane. D. h. die Nachbarschaft bestand nicht aus Freunden, und das zeigte sich besonders im Jahr 1948, als Schostakowitsch in allen Zeitungen verleumdet und als Formalist, ja fast als Volksfeind beschimpft wurde. Die Arbeiter der staatlichen Anstalten zeigten keinerlei Scheu, ihre wahrhaft staatstragenden Gefühle zum Ausdruck zu bringen : vom Zaun her wurden Beleidigungen geschrien und jede Art von Müll landete auf unserem Grundstück. Hier muss man Maxim gerecht werden er setzte sich für die väterliche Ehre ein. Maxim In diesen Jahren war die Erinnerung an den nnischen Krieg noch frisch, der genau an den Orten stattgefunden hatte, wo sich unsere Datscha befand an der Karelischen Landenge. Wir wussten, dass die gröÿte Gefahr für die sowjetischen Soldaten während des damaligen Krieges von den nnischen Heckenschützen ausging. Man nannte sie Kuckucke, weil sie sich in den Baumkronen versteckten und auÿerordentlich schwer zu entdecken waren. Auf unserem Grundstück in Komarowo stand eine hohe Kiefer, deren Stamm sich am Wipfel teilte. Genau dort hatte ich ein kleines Brett zum Sitzen angebracht und mir eine Schleuder gebaut, mit der ich Steine auf unsere Beleidiger schoss. Aber die boshaften Nachbarn setzten Schostakowitsch nicht nur mit geschrienen Beschimpfungen zu. Auf ihrem Grundstück hatten sie einen Lautsprecher, der die Umgebung von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts beschallte, von dort erklangen die prahlerisch-pompösen sowjetischen Radioprogramme. Das störte meinen Vater beim Komponieren, mir aber geel es, mit der Schleuder nicht nur auf die Nachbarn zu schieÿen, sondern auch auf den Lautsprecher. Manchmal gelang es mir, ihn auÿer Kraft zu setzen, und irgendwann war er dann ganz still. 41 21 USA-Reise 1949 Galina Im Flüsterton spreche ich die Namen der Buchstaben aus : Scha . . . Be . . . Em . . . En . . . Ka . . . Vater drückt mir einen Finger auf die Lippen und sagt leise : Still ! Wir benden uns im Halbdunkel eines ärztlichen Behandlungszimmers. Vaters Sehkraft wird geprüft mit Hilfe von speziellen Tabellen, ich aber stehe ihm nach schulischer Gewohnheit bei und sage ihm die Buchstaben ein. Diese lustige kleine Szene ereignete sich im Jahr 1949 in der sogenannten Kremljowka, der staatlichen Polyklinik. Unserem dortigen Erscheinen ging eine ganze Geschichte voraus. Im März dieses Jahres sollte eine groÿe Gruppe von Persönlichkeiten der sowjetischen Wissenschaft und Kunst in die USA reisen, und man entschied, Schostakowitsch in diese Delegation mit aufzunehmen. Er liebte solche Reisen überhaupt nicht, und wollte dem auch noch mit der Begründung ausweichen, ein weiteres Mal geächtet worden zu sein : ein ganzes Jahr lang hatte man ihn in der Presse und in allen oziellen Versammlungen heftig beschimpft (im Februar 1948 kam der ZK-Beschluss heraus, in dem die Formalisten verurteilt wurden, zu denen man auch Schostakowitsch rechnete). Und da geschah etwas Beispielloses. Am 16. März rief Stalin persönlich Vater am Telefon an. Schostakowitsch wolle auf die Reise verzichten : angeblich sei es ihm unangenehm zu fahren, weil für seine Musik ein Auührungsverbot bestünde. Das Verbot hob Stalin kurzerhand auf. Aber das Gespräch war damit noch nicht beendet. Immer noch versuchte Vater, der Reise nach Amerika zu entkommen und sagte : Ich fühle mich nicht wohl . . . ich bin krank . . . Stalin fragte daraufhin : Wo werden Sie behandelt ? Die Antwort war : In der Bezirks-Polyklinik . . . Das Gespräch ging noch weiter, aber dieser kurze Dialog blieb nicht folgenlos. Ich habe schon darauf hingewiesen : eine der Wirkungen des ZK-Beschlusses des Jahres 48 bestand darin, dass man unserer Familie die Berechtigung zur Inanspruchnahme der Kremljowka entzog, der Polyklinik für die Regierung. So, und da, an diesem selben Tag, als Schostakowitsch sich mit Stalin unterhalten hatte, ngen die Telefonanrufe von dort an : wir wurden aufgefordert, Fragebögen auszufüllen, Fotos von uns einzureichen, und vor allem unverzüglich mit der ganzen Familie bei ihnen zu erscheinen, damit eine vollständige Untersuchung vorgenommen werden könne. Und unser Besuch beim Augenarzt, während dem ich Vater mit Einsagen zu helfen versuchte, fand statt anlässlich unserer Rückkehr in die Reihen der Kremljowka-Patienten. Inzwischen ist mir klar, unsere Ausweisung aus der staatlichen Polyklinik erfolgte auf Initiative übereifriger kleiner Beamter, die eilige Wiederaufnahme jedoch auf direkte Anweisung des groÿen Führers. Maxim Als Stalin Vater anrief, waren zu Hause Papa, Mama und ich. Vater sprach in seinem Arbeitszimmer, Mama aber hörte das Gespräch am anderen Apparat mit, der in der Diele stand. Und ich ehte sie an, mir den Hörer zu geben, ganz unbedingt wollte ich die Stimme des lebendigen Stalin hören. Meine Bitten konnten sie erweichen, es gelang mir, einige Phrasen aus dessen Gespräch mit Vater mitzuhören. 42 Wie man weiÿ, fand die Reise Schostakowitschs nach Amerika im Jahr 1949 statt. Oziell war er Mitglied der sowjetischen Delegation, die beim Allamerikanischen Kongress von Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst zur Bewahrung des Friedens zugegen war. Neben unserem Vater hielten sich Schriftsteller, Filmregisseure, Gelehrte in den Vereinigten Staaten auf. Aufgrund seiner Schüchternheit und Diskretion sprach Schostakowitsch nie über gewisse Einzelheiten seiner Reise über den Ozean. Aber der 1 Schriftsteller Alexander Alexandrowitsch Fadejew , der der Delegation ebenfalls angehörte, erzählte Freunden zu gegebener Zeit davon, wie man den berühmten Komponisten in Amerika aufgenommen hatte. Es ging schon damit los, dass einige tausend Musiker Schostakowitsch am New Yorker Flughafen begrüÿten. Die ganze Gruppe von Persönlichkeiten, die aus der Sowjetunion angekommen waren, bezeichnete die Presse als Schostakowitsch und Begleitpersonen. Amerikanern fällt das Aussprechen unseres Familiennamens ziemlich schwer, und so übertrugen sie ihn auf ihre Art und nannten Vater Schosti. Von Zeit zu Zeit rief ihm jemand zu : Schosti, spring, wie die Kasjankina ! Nicht lange bevor unser Vater in die Staaten fuhr, war dort ein Skandal losgebrochen. Eine russische Lehrerin mit Namen Kasjankina, die in einer Schule bei der sowjetischen Vertretung arbeitete, bat um politisches Asyl. Die Diplomaten versuchten, sie daran zu hindern, sie schlossen diese Frau in einem der Botschaftszimmer ein. Aber Kasjankina gelang es, ein Fenster zu önen und auf die Straÿe hinauszuspringen, wo eine Menge von Amerikanern sie erwartete. O weh, für Schostakowitsch war nicht einmal im Traum daran zu denken, dem Beispiel der Kasjankina zu folgen. Er rechnete sich genau aus, welches Schicksal uns erwarten würde seine Frau und Kinder, ja auch unsere ganze übrige zahlreiche Verwandtschaft , wenn er im Westen bliebe. Diesen Schritt konnte ich im Jahr 1981 tun. Aber meine Umstände waren andere meine erste Frau hatte eine andere Familie, und ich hatte damals erst einen Sohn. Ja, und was die Blutrünstigkeit angeht, war das BreschnewRegime mit dem Stalin'schen nicht zu vergleichen. Aber nicht um mich geht es hier . . . Einem seiner Freunde erzählte Fadejew auch noch diese Episode. Schostakowitsch kam an irgendeiner New Yorker Apotheke vorbei und kaufte Aspirin. Keinesfalls länger als zehn Minuten hatte er sich in dem kleinen Laden aufgehalten, als er beim Hinausgehen auf die Straÿe folgendes Bild erblickte : einer der Verkäufer hatte eine Reklametafel in die Vitrine gestellt mit der Aufschrift Bei uns kauft Schostakowitsch. Michail Ardow Es ist März, das Jahr 1982. An jenem Morgen ging ich in ein zweistöckiges steinernes Gebäude, in dem sich das Kriegskommissariat befand. Das war in der Stadt Danilow, nicht weit von Jaroslawl. Ich war soeben von der hiesigen Kirche weg in eine andere Gemeinde versetzt worden und musste mich beim Militärregister abmelden. Ich betrat das entsprechende Zimmer, es war das Arbeitszimmer eines Majors mit Namen Guck, wie mir jetzt einfällt. Der Hausherr war aber nicht da, daher begann ich durch den Korridor zu gehen und mir die sogenannte Bildagitation anzuschauen. 1 Alexander Alexandrowitsch Fadejew (1901 - 1956), sowjetischer Schriftsteller und Publizist, heftig attackiert während des Tauwetters 43 Einer der Ständer war dem Aufblühen der sowjetischen Kultur und Kunst gewidmet. Und da gab es an der sichtbarsten Stelle das Foto eines Dirigenten, im Frack und mit erhobenem Taktstock. Beim Betrachten dieses Fotos hörte ich Schritte im Korridor der Ozier kam, den ich brauchte. Genosse Major, wandte ich mich an ihn, Gestatten Sie mir, Ihnen einen Rat zu geben. Ja, bitte. Guck war kein typischer Ozier, er war höich und zuvorkommend. Sehen Sie diesen Dirigenten auf dem Foto ? Ja, gab er zur Antwort. Nun, hier ist mein alter Freund Maxim Schostakowitsch abgebildet. Er ist nicht mehr bei uns, er hat in Amerika um politisches Asyl gebeten. Zwar glaube ich nicht, dass irgendjemand auÿer mir ihn auf diesem Foto erkennt. Aber wenn es doch geschehen sollte, könnten Sie Schwierigkeiten bekommen . . . Ich habe alles verstanden, erwiderte der Major. Innerhalb von zehn Minuten waren wir gute Freunde geworden. 44 22 Ein türkischer Augenarzt Maxim Noch etwas zu Augenärzten. Es gehört zur Familien-Überlieferung. Vor dem Krieg fuhr Vater zu Konzerten in die Türkei und lieÿ sich dort eine Brille machen. Nach zwei Tagen kam er wieder, bezahlte. Der Meister sagte zu ihm : Ich habe Ihnen da eine ganz wunderbare Brille gemacht ! Danke ! Dieser darauf : Schaun Sie nur, was für eine Brille ! Da, ich werfe sie runter und sie geht nicht kaputt ! Er warf die Brille auf den Boden, und sie blieben heil. Vater sagt : Vielen Dank, aber dafür brauche ich sie eigentlich nicht. Aber der Meister rückt die Brille nicht heraus und erklärt aufs neue : Jetzt werde ich sie nochmal runterwerfen, und wieder wird ihr nichts passieren ! Ein weiterer Wurf und wiederum ging sie nicht kaputt. Auch ein drittes Mal werde ich sie auf den Boden werfen ! schrie der Meister und da endlich zerbarsten die Gläser in kleine Splitter. 45 23 Iwan Sollertinski Galina Ich erinnere mich, wie auf unserer Datscha in Komarowo Mitja Soller- tinski zu Besuch war. Er war etwas älter als Maxim und ich, hatte in der Schule nur 1 Einsen, und unsere Eltern stellten uns Mitja als Vorbild hin. Sein verstorbener Vater , ein weithin bekannter Musikwissenschaftsprofessor, war ein sehr enger Freund unseres Vaters. Für Schostakowitsch bedeutete der allzu frühe Tod Sollertinskis groÿen Schmerz. Aus einem Brief D. Sch.'s an I. Glikman vom 13. Februar 1944 Iwan Iwanowitsch ist am 11. Februar 1944 gestorben. Wir werden ihn nie mehr sehen. Es gibt keine Worte, den ganzen Schmerz auszudrücken, der mich im Innersten quält. Möge der Verewigung seines Andenkens unsere Liebe zu ihm dienen und unser Glaube an seine genialische Begabung und seine phänomenale Hingabe an diejenige Kunst, der er sein wunderbares Leben widmete die Musik. Iwan Iwanowitsch ist nicht mehr. Das ist sehr schwer zu ertragen . . . Maxim Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich nicht an Mitjas Besuche bei uns in Komarowo. Aber ich bin mit ihm seit vielen Jahre befreundet, er war lange Zeit Direktor des Groÿen Saals der Leningrader Philharmonie. Und seine Fähigkeiten hatte er natürlich von Iwan Iwanowitsch geerbt. Unser Vater erzählte unglaubliche Dinge von seinem Freund. So habe Sollertinski etwa, nicht wie die meisten Menschen zeilenweise gelesen, sondern sich beim Blick in ein Buch eine ganze Seite auf einmal gemerkt. Zudem muss er über ein phänomenales Gedächtnis verfügt haben, nicht nur auf seinem Gebiet der Musik kannte er sich aus, sondern auch in Literatur, Philosophie, allgemeiner Geschichte. D. Sch. (aus dem Buch Erfahrungen2 ) Eine groÿe Zahl von Studenten der Leningrader Universität wollte die Examina in Marxismus-Leninismus ablegen, um damit im Fall des Erfolgs die Berechtigung für eine Aspirantenstelle zu erhalten. Unter denen, die auf eine Vorladung bei der Prüfungskommission hoten, war auch Sollertinski. Ich war vor dem Examen sehr aufgeregt. Geprüft wurde nach dem Alphabet. Nach einiger Zeit rief man Sollertinski vor die Kommission. Und sehr bald kam er von dort wieder heraus. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte ihn : Sagen Sie bitte, war das Examen sehr schwer ? Er antwortete : Nein, überhaupt nicht schwer. Und was wurden Sie gefragt ? Die Fragen waren ganz einfach : das Aufkommen des Materialismus im antiken Griechenland; die Poesie des Sophokles als eines Vertreters materialistischer Tendenzen; englische Philosophen des 17. Jahrhunderts und noch irgendwas . . . Muss ich noch betonen, dass Iwan Iwanowitsch mir mit seinem Examensbericht ziemliche Angst einjagte ? . . . 1 Iwan Iwanowitsch Sollertinski (1902 - 1944), sowjetischer Musikwissenschaftler und Theaterkritiker, 2 Universalgelehrter, Apologet der Musik Gustav Mahlers, verfolgt als Troubadour des Formalismus ¾Ä. Øîñòàêîâè÷ î âðåìåíè è î ñåáå. 1926-1975¿ Ìèõàèë ßêîâëåâ, Mîñêâà 1980 deutsch : Dmitri Schostakowitsch: Erfahrungen, Red. Ch. Hellmundt und K. Meyer, Leipzig 1982 46 Maxim Wie an einen Witz erinnerte Vater sich an folgende Geschichte. Sollertinski musste vor einem Auditorium irgendwelcher Rototten-Matrosen antreten. Einer von diesen Seeleuten stellte ihm die Frage : Stimmt es, dass Puschkins Frau ein Verhältnis mit Nikolai dem Zweiten hatte ? Iwan Iwanowitsch beantwortete die gestellte Frage mit erschöpfender Genauigkeit : Sogar angenommen, Natalia Nikolajewna Gontscharowa (in erster Ehe Puschkina) hätte sich weibliche Anziehungskraft bis ans Ende ihrer Tage bewahrt, und der künftige Herrscher, Groÿfürst Nikolai Alexandrowitsch, wäre auÿerordentlich frühreif gewesen, konnte es dazu nicht kommen, da Natalia Nikolajewna im Jahr 1863 starb, Nikolai der Zweite aber erst 1868 geboren wurde. 47 24 Haustiere 1 Galina Maxim und ich jagen auf unseren Fahrrädern die Straÿen von Komarowo entlang, schauen hinter alle Zäune und rufen laut : Tom ! Tomka ! Tomka ! . . . Unser geliebter Hund war verloren gegangen, davongelaufen. Das war auch früher schon passiert und hatte uns immer ziemliche Aufregung beschert. Meistens fanden wir unseren Ausbrecher bei irgendeiner Datscha. Zum Beispiel bei der bekannten Künstlerin 1 Jekaterina Pawlowna Kortschagina-Alexandrowska , sie hatte einen Hund namens Kara. Oenbar beachtete die alte Schauspielerin unseren Hund gar nicht, als Maxim und ich ihn bei ihr anbrachten, und folgerte daraus, dass man Tiere in unserer Familie gern habe. Anders lassen sich die weiteren Geschehnisse nicht erklären. Im Jahr 1951 starb die Kortschagina-Alexandrowska. Und da stellte sich heraus, dass sie bezüglich ihres Inventars folgendes verfügt hatte : die Datscha in Komarowo vermachte sie der Theatergesellschaft, die antiken Leuchten ihrer alten Freundin, den Hund aber Schostakowitsch. Vater reagierte darauf philosophisch, ja geradezu stoisch. Ich weiÿ noch, wie er sagte : Ist ja gut, dass es ein Hund ist, und kein Esel oder ein Krokodil . . . So geriet Kara in unsere Familie. Im Sommer war er mit auf der Datscha in Komarowo, im Winter aber in der Wohnung von Mamas Eltern Wassili Wassiljewitsch und Soa Michailowna Warsar. Vater hatte eine gute Beziehung zu den Hunden, Vorbehalte gab es nur in hygienischer Hinsicht. Er verzog sein Gesicht, wenn er sah, dass der Hund mit schmutzigen Pfoten auf 's Bett sprang. Maxim und ich hörten dauernd die Auorderung : Hör auf, den Hund zu verhätscheln ! Geh wasch dir die Hände ! Und mit ihrem Bellen störten sie ihn auch noch beim Komponieren. Deshalb mochte er Kater lieber, weil sie stiller waren als Hunde, ja und auch sauberer. Maxim Wie ich mich erinnere, hatten wir in Schukowka eine Zeit lang einen kaukasischen Schäferhund, der anng, über Menschen herzufallen. Sobald sich das bei ihm zeigte, brachte ihn Vater sofort in irgendeiner militärischen Einheit unter. Boris Tischtschenko 2 erinnerte sich an folgende Bemerkung D. Sch.'s Unter den Hunden gibt es auch Halunken. Unser Hund zereischte ein Kätzchen. Wenn er wenigstens hungrig gewesen wäre aber nein, einfach nur aus Mutwillen. Ich habe ihn für 24 Stunden verbannt. Galina An einen Fall in jenem Schukowka erinnere ich mich. Irgendjemand brachte ein kleines Kätzchen, das bei uns blieb. Es geel Vater und durfte sogar in sein Arbeitszimmer. Dort stand ein Tisch mit aufgezogenen Schubladen, in eine davon sprang das Kätzchen einmal und schlief ein, und da wurde die Schublade zugeschoben. Wenig später 1 Jekaterina Pawlowna Kortschagina-Alexandrowska (1874 - 1951), russische Theater- und Filmschauspielerin 2 Boris Iwanowitsch Tischtschenko (1939 - 2010), russischer Komponist und Musikwissenschaftler, Aspirant bei Schostakowitsch 48 wachte es auf und begann zu schreien. Wir hörten das und suchten nach der Quelle des Miauens. Schlieÿlich fanden wir das arme Kerlchen und lieÿen es raus . . . Zum Abschluss der Katzensache noch das. Ein Freund Vaters, der Regisseur Friedrich Ermler 1 baute sich in Komarowo eine neue Datscha und lud Schostakowitsch mit Familie ein, es sich dort gutgehen zu lassen. Der Hausherr führte uns überall herum : hier wird es den Kamin geben, hier das, dort jenes. Dann gab es zur Bewirtung noch ein schönes Essen. Damals kamen allmählich Siamkatzen in Mode, und Ermler hatte, sobald einer für ihn aufzutreiben war, augenscheinlich für viel Geld einen solchen Kater gekauft. Bei uns in der Familie wusste man von solchen Katzen noch gar nichts. Und da, als wir gingen, sagte Vater dem gastfreundlichen Hausherrn zum Abschied : Alles bei dir ist wunderbar. Nur was den Kater da angeht, da könntest du dir ein bisschen was besseres anschaen . . . 1 Friedrich Markowitsch Ermler (1898 - 1967), sowjetischer Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor 49 25 Haustiere 2 Galina In jenem Sommer wohnten wir wie gewohnt in Komarowo. An irgendeinem Morgen ging Vater zum Brunnen, um Wasser zu holen, als ihn völlig unerwartet ein wild gewordener Hahn anel. Vater lieÿ den Eimer fallen und zog sich zurück. Dieser dramatischen Episode war folgende Geschichte vorausgegangen. Ein Jahr zuvor hatten Maxim und ich zwei winzige Küken geschenkt bekommen. Wir brachten sie auf der Veranda unter und ernährten sie mit Schinken- und Käsestückchen. Sogar unser Hund Tomka liebte diese beiden, er gestattete ihnen, etwas aus seiner Schüssel zu picken. Gegen Ende des Sommers wurden die Küken gröÿer und verwandelten sich in Hähnchen und Hühnchen. Und als wir nach Moskau wegfuhren, brachten wir sie bei einem der Nachbarn unter. Während des Winters verschwand das Huhn irgendwohin, der mit Schinken gefütterte Hahn aber wurde groÿ, stark und furchtbar aggressiv. Als wir dann nach Komarowo zurückkehrten, bekamen wir ihn wieder, und eben da passierte der Überfall auf Vater. Der kam mit einem leichten Schrecken davon, der bösartige Vogel aber bezahlte mit seinem Leben dafür er wurde geköpft und gegessen. Damals begann jeder Morgen in Komarowo damit, dass Vater mit einem kleinen Eimer zum Brunnen ging. Er wohnte im ersten Stock, und neben seinem Zimmer gab es eine Art Kämmerchen mit Waschbecken etwas ihm ganz Unerlässliches. Um das Wasser dort kümmerte er sich immer selbst. Maxim Das Urteil traf den Hahn, weil er, nicht genug damit, Vater anzugreifen, sich auch noch auf den örtlichen Postboten gestürzt hatte, und damit drohten ernsthafte Schwierigkeiten. Solang die Küken klein waren, rührte Tomka sie nicht an. Ich erinnere mich an diese Szene : der Hund frisst aus seiner Schüssel, das Hähnchen aber pickt daraus von der gegenüberliegenden Seite. Tomka knurrt es dabei an, ungefähr so wie Vergiss nicht, wer hier der Hausherr ist. 1 Vater hatte einen Freund, den Filmregisseur Leonid Sacharowitsch Trauberg , und der wiederum hatte einen Hund, einen Scotchterrier. Nun teilte Trauberg einmal mit, dass er uns auf der Datscha mit seinem Hund besuchen wolle. Vater sagt zu ihm : Denken Sie daran, dass wir einen Airedale Terrier haben. Aber Trauberg gab zur Antwort : Ist nicht schlimm, meiner wird deswegen nicht beleidigt sein ! Der Besuch endete skandalös Tomka jagte diesen Scotchterrier unter das Haus, dort gab es Spalten im Fundament. Nur mit groÿer Mühe konnten wir den unglücklichen, verschreckten Hund von dort wieder herauslocken. 1 Leonid Sacharowitsch Trauberg (1902 - 1990), bedeutender russisch-jüdischer Regisseur und Drehbuchautor, Avantgardist, wirkte Ende der 1920er Jahre bei mehreren Meisterwerken des sowjetischen Kinos mit 50 26 Studien in Ideologie 1 Galina Es klingelt in unserer Wohnung. Vater, leicht aufgeregt, geht selbst die Tür önen. Nachdem er den Eintretenden höich begrüÿt hat, hilft er ihm aus dem Mantel, und beide ziehen sich ins Arbeitszimmer zurück. Seit einiger Zeit erschien dieser kleine, ziemlich nster dreinblickende Gast regelmäÿig bei uns. Das war im Jahr 1952, als allen Sowjetbürgern vorgeschrieben wurde, eifrig die soeben erschienenen Elaborate Stalins Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft sowie Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR zu studieren. Für Schostakowitsch machte man eine Ausnahme. Nicht, dass man ihn von dieser erniedrigenden Verpichtung freigestellt hätte man entschied lediglich, dass er die gemeinschaftlichen Studiensitzungen im Komponistenverband nicht zu besuchen brauche, und teilte ihm stattdessen einen persönlichen Dozenten zu den Genossen Troschin, als welcher dieser bei uns zu Hause auftrat. Die Studiensitzungen verliefen so : Genosse Troschin stellte seinem berühmten Schüler Fragen zu einem durchgenommenen Thema, überprüfte die ihm vorgelegten Zusammenfassungen, und stellte dann eine neue Aufgabe. In dieser tragikomischen Situation grien Vater zwei seiner Freunde ein wenig unter die Arme Isaak Davidowitsch Glikman und Lewon Tadewosowitsch Atowmjan : ausgerechnet sie fassten die vorgeschriebenen Werke Stalins zusammen. Die Sinnlosigkeit dieses Unternehmens und eine gewisse, sagen wir, Ritualhaftigkeit verstärkte noch der Umstand, dass der Dozent so tat, als bemerke er die anderen Handschriften Glikmans und Awtomjans nicht, die der Handschrift Schostakowitschs absolut nicht ähnlich waren. Übrigens war Glikman in unserem Haus zugegen, als Genosse Troschin das erste Mal bei uns auftauchte, und es existiert eine Beschreibung dieses Besuchs. Isaak Glikman Der Besucher betrachtete das Arbeitszimmer aufmerksam, lobte die Einrichtung und verlieh in sanfter Form, sogar mit schuldbewusstem Lächeln, der Verwunderung bezüglich des Umstands Ausdruck, dass er an den Wänden hier kein Portrait des Genossen Stalin sehe. Die Zeit war schwer. Die Verwunderung klang vorwurfsvoll. Dmitri Dmitriewitsch geriet in Verwirrung, begann nervös durchs Zimmer zu gehen und platzte schlieÿlich damit heraus, dass er unbedingt ein Portrait des Genossen Stalin anschaen werde. Wahr ist, dass das Versprechen unerfüllt blieb, weil StalinPortraits bald aus der Mode kamen. Michail Ardow Damals waren absolut alle verpichtet, marxistische Theorie zu studieren, und die Musiker, wie wir gesehen haben, waren keine Ausnahme. Folgende Begebenheit fällt mir wieder ein. Der berühmte Dirigent Wassili Wassiljewitsch Nebolsin 1 legt sein Examen in dieser Disziplin ab. Der Dozent stellt ihm die Frage : Welche Bedingungen gibt es für die Machtergreifung durch das Proletariat ? Nebolsin schaut ihn an und fragt höich zurück : Pardon, durch wen ? 1 Wassili Wassiljewitsch Nebolsin (1898 - 1958), sowjetischer Dirigent 51 Zur der Zeit, als Swjatoslaw Richter 1 das Moskauer Konservatorium abschloss, war schon klar, dass er ein groÿartiger Musiker sei und dass sein Name unbedingt die sogenannte Goldene Tafel zieren müsse, auf der alle herausragenden Absolventen verzeichnet sind. Doch da trat ein Hindernis auf : Swjatoslaw Teolowitsch war unter keinen Umständen dazu in der Lage, sich diese ganze marxistische Theorie anzueignen. Nun konnte aber jemand, der in besagtem Fach keine ausgezeichnete Note erhalten hatte, keinen Anspruch auf die Goldene Tafel erheben. Die Vorgesetzten führten Verhandlungen mit dem Dozenten für Marxismus : sie erklärten ihm, wer dieser Richter sei, und wie wichtig es wäre, ihn unter den besten Absolventen aufzuführen. Im Ergebnis sagte der Marxist zu, Nachsicht üben und Swjatoslaw Teolowitsch eine sehr einfache Frage stellen zu wollen. Beim Examen fragte der Dozent also : Wer waren Karl Marx und Friedrich Engels ? Richter dachte nach und sagte : Die ersten Sozial-Utopisten ! Der Marxist gri sich verzweifelt an den Kopf. Den in dieser Theorie nicht Bewanderten zur Erklärung : als Sozial-Utopisten bezeichnet man bei ihnen Thomas Morus, Tommaso Campanella und andere Phantasten, Marx und Engels aber werden als Gründerväter des wissenschaftlichen Kommunismus verehrt . . . Und noch eine kurze Geschichte zum Thema Musiker und Marxismus. Sie ereignete 2 sich im Gnessin-Institut . Das Examen in dialektischem Materialismus fand statt. (Hier ist anzumerken, dass in künstlerischen Studieneinrichtungen fast alle Dozenten solcher Disziplinen an einem Minderwertigkeitskomplex litten.) Einer von den Jungs legte eine derartige Ignoranz an den Tag, dass der Prüfer ihn mit einiger Herausforderung fragte : 3 Gestatten Sie, was sind Sie selbst Materialist oder Idealist ? Ich bin Bajanist , antwortete der junge Musiker demütig. Geben Sie mir eine Drei . . . 1 Swjatoslaw Teolowitsch Richter (1915 - 1997), russlanddeutscher Pianist 2 Gnessin-Institut Moskau, gegründet 1895, Elite-Musikhochschule 3 Bajan-Spieler, das Bajan ist die osteuropäische Form des Chromatischen Knopfakkordeons 52 27 Studien in Ideologie 2 Galina Antworten Sie mir auf folgende Frage, sagt unser Vater zu einer Stu- dentin. Was ist Revisionismus ? Das war an dem Tag, als Schostakowitsch selbst in die Haut eines Dozenten der bolschewistischen Ideologie schlüpfen, genauer gesagt, bei der Prüfung von Studenten mithelfen musste, die dieses Fach ablegen wollten. Im Konservatorium gab es eine Regel : niemand durfte ein Examen allein abnehmen, jedem Prüfer wurde verbindlich ein weiterer Kollege zur Seite gestellt, üblicherweise ein Mitarbeiter eines anderen Instituts. Das Examen in marxistischer Philosophie fand statt. Ein Spezialist besagten Faches hielt es ab, als Assistent aber wurde Schostakowitsch benannt. In der Prüfung schwieg er und stellte keine Fragen. Nun verlieÿ da der Marxist das Auditorium wegen eines bestimmten Bedürfnisses, und Vater blieb ganz einsam zurück. Sogleich nahm vor ihm eine junge Frau Platz, deren Grad an Vorbereitung schon beim ersten Blick zu erahnen war : sie war furchtbar aufgeregt und hantierte nervös mit ihren Spickzetteln herum. Gut, sagte Schostakowitsch, legen wir nun Ihre Aufzeichnungen beiseite . . . Und da stellte er ihr seine Frage über den Revisionismus. Das Fräulein dachte ein bisschen nach und formulierte es so : Revisionismus ist das höchste Stadium in der Entwicklung des Marxismus-Leninismus. Nachdem er diese Antwort gehört hatte, erbarmte sich Vater der Studentin : er gab ihr eine ganz und gar nicht verdiente Eins, und sie entfernte sich, von ihrem Erfolg beügelt. Der Hauptprüfer kam zurück ins Auditorium, worauf Schostakowitsch ihm mitteilte : Bei mir hier war die Iwanowna, ich habe ihr ein hervorragend gegeben. Der Iwanowna ? fragte der Marxist zurück. Die war bei Ihnen hervorragend ? Ja, sagt Vater, sie hat alles beantwortet. Sonderbar, sagte der Marxist, die Iwanowna war bei mir das ganze Jahr grottenschlecht . . . Michail Ardow Schostakowitsch nahm es, Gott sei Dank, bei dieser abgelegten Prüfung mit dem professionellen Marxismus nicht so ganz genau. Die Antwort hätte ihn sonst schockieren müssen : Revisionismus ist für Marxisten ungefähr dasselbe wie für Christen Ketzerei. Maxim Mir fällt ein ähnlicher Fall ein. Im selben Examen, auch über Marxismus, sagte der Hauptprüfer zu Schostakowitsch : Warum schweigen Sie dauernd ? Stellen Sie den Studenten irgendwelche Fragen. Im Auditorium, wo das Examen stattfand, hing ein Plakat an der Wand, auf dem die Worte geschrieben standen : Die Kunst gehört dem Volk. W. I. Lenin. Und dieses Plakat befand sich direkt über den Häuptern der am Tisch sitzenden Prüfer. Nun also, Schostakowitsch entschloss sich, sein Schweigen zu brechen und damit zugleich dem nächsten Studenten zu helfen, und stellte folgende Frage : Wem gehört die Kunst ? Welche Meinung äuÿerte Lenin in dieser Hinsicht ? Der Student verstand überhaupt nichts und konnte keinerlei Antwort geben. Vater versuchte ihm unter die Arme zu greifen und wies mit einer Kopfbewegung auf das hinter ihnen hängende Plakat. Aber all seine Bemühungen erwiesen sich als nutzlos der Prüing verstand gar nicht, womit Schostakowitsch ihm da zu Hilfe kommen wollte. 53 28 Der Tod Stalins Galina Aus dem Telefonhörer erklingt Vaters aufgeregte Stimme : Geh nirgends hin, gleich wird ein Auto zu dir kommen. Das ist am 6. oder 7. März 1953. Moskau nimmt Abschied vom verstorbenen groÿen Führer. Die Eltern verstanden sehr gut, dass es in diesen Tagen gefährlich war, auf die Straÿe zu gehen, aber ich war nicht zu Hause geblieben. Zu Fuÿ war ich zum Roten Tor gegangen (auÿerhalb des Gartenrings gab es überhaupt keine Absperrungen), zu Mutters Verwandten, den Warsars, von dort rief ich Vater an. Er schickte sofort ein Auto zu mir, das mich glücklich heim brachte. In diesen Tagen gab es bei uns in der Familie keine Trauer. Allerdings auch kein Frohlocken. Wie wir uns erinnern, starb am selben Tag wie der allmächtige Tyrann auch Sergei Sergejewitsch Prokofjew. Aus diesem Grund stand bei uns zu Hause das Telefon nicht still die Musikerkollegen riefen Vater an. Einer von ihnen sagte : Ach, schade, dass Sergei Sergejewitsch nicht erfahren konnte, dass Stalin gestorben ist. Maxim An diesen Tag erinnere ich mich sehr gut. Papa geht aufgeregt durchs Zimmer und wiederholt : Jetzt kommt die Chodynka, jetzt kommt die Chodynka . . . gebe Gott, dass Galia nicht zerquetscht wird . . . man hätte sie nicht gehen lassen dürfen, man hätte sie nicht gehen lassen dürfen . . . Galina Die Begräbniszeremonie für Stalin wurde im Radio übertragen. Ich erinnere mich, wie aus dem Apparat Worte in starkem georgischen Dialekt drangen : Wer 1 nicht blind ist, der sieht . . . Das war die Rede Berijas . Bei uns zu Hause gab es ein Tonbandgerät, und unsere Mutter zeichnete damit all das auf. Leider ging das Band dann verloren. Aber Vater machte manchmal in Alltagssituationen Berijas Stimme nach : Wer nicht blind ist, der sieht . . . Michail Ardow Auch ich erinnere mich sehr gut an diesen Tag, den 5. März 1953. In unserer Schule fand im Grunde überhaupt kein Unterricht statt, alle schluchzten, Lehrer wie Schüler . . . Mein jüngerer Bruder Boris kam nach Hause aus seiner Schule, wo auch alle weinten. Beim Betreten des Esszimmers aber sah er plötzlich Vater vor dem Spiegel stehen, wie er tänzelte und leise sang : Endlich ist er doch verreckt, endlich ist er doch verreckt . . . Boria sagte uns daraufhin, in seiner Seele seien irgendwann die 2 Gefühle des Pawlik Morosow erwacht . . . Und schon am 7. März kletterte ich über ein glattes, vereistes Dach, wobei ich die Möglichkeit in Kauf nahm, abzustürzen und unten auf dem Asphalt aufzuschlagen. Vor und hinter mir waren noch zwanzig weitere von solchen Verrückten. Jetzt ein Sprung nach unten, in einen aufgetauten Schneehaufen, und wir waren fast am Ziel . . . das Dach und der Hof zwischen der Stoleschnikow- und der Kamergerski-Gasse. 1 Lawrenti Pawlowitsch Berija (1899 - 1953) sowjetischer Politiker, ab 1938 Chef des Geheimdienstes 2 Pawel Tromowitsch Morosow (1918 - 1932), sowjetischer Bauernjunge und Pionier, sozialistische Heldengestalt bei der Durchsetzung der Kollektivierung 54 Wir alle, darunter auch ich mit zwei Freunden, gaben damals das letzte, um unter Umgehung der endlosen Schlange in den Säulensaal 1 zu gelangen und den toten Stalin anzuschauen. Mir war da eine Idee gekommen. Mit meinen fünfzehn Jahren hatte ich erfasst, dass man ja ganz einfach von der Seite hineingehen könne, auf der die Leute herauskamen, die schon drinnen gewesen waren. Gesagt getan. Vom Majakowski- bis zum Puschkinplatz waren die Absperrungen undicht, und ich konnte mich mit den Freunden ohne besondere Mühe durchdrängen. Vom Puschkinplatz ab musste man durch die anliegenden Höfe gehen, so kamen wir zur Stoleschnikow-Gasse. Wir reihten uns in die Schlange fast ganz vorne ein und nach zwanzig Minuten waren wir dort, wo die vom Schmerz aufgewühlten unübersehbaren Massen vergeblich hinstrebten. Im Gedächtnis geblieben ist mir nur das üppige Grün, das den Sarg umgab, ja, und die Klänge der Trauermusik. Die Menschen meiner Generation wissen es noch : einige Tage in Folge ertönte aus allen Lautsprechern klassische Musik ein ununterbrochenes 2 Virtuosenkonzert. Ein Fest für Melomanen ! . . . David Fjodorowitsch Oistrach erzählte einer unserer gemeinsamen Bekannten davon : Als der Sarg Stalins im Säulensaal stand, spielten sie, die besten Musiker, der Reihe nach am Stück. Auch erholen und stärken durften sie sich dort. Hinter den Kulissen (wie sonst sollte man den angrenzenden Raum nennen ?) standen Stühle und ein Tisch mit belegten Brötchen und Tee. Irgendwann schaute Chruschtschow hinter diesem Vorhang vorbei mit unrasiertem, müdem aber zufriedenem Gesicht. Als er die dort sitzenden berühmten Musiker sah, sagte er halbleise : Freut euch, Kinder ! Und das kahle Haupt verschwand wieder. Noch etwas zu den Musikern. Jemand sah J. G. Gilels 3 weinen und wollte sie trösten : Nun, was grämen Sie sich denn so . . . wir werden wieder Führer haben ! Na ja, vielleicht keine solchen wie Stalin . . . Ja, ich pfeife auf euren Stalin ! antwortete sie. Ich weine deswegen, weil Sergei Sergejewitsch Prokofjew gestorben ist . . . Der Komponist Andrei Wolkonski 4 erzählte mir, dass ihm und anderen Schülern Sergei Sergejewitschs wegen der Ausrichtung seines Begräbnisses eine Menge Ärger entstanden sei. Prokofjew lebte in der Gorki-Straÿe, aber einen Bestattungswagen dorthin zu bringen, war wegen der Absperrungen unmöglich. Seine Schüler trugen den Sarg einige Häuserblöcke weit auf ihren Schultern, ihr Schmerz aber verband sich in keiner Weise mit dem Schmerz derer, die zum Säulensaal drängten. 1 Säulensaal des Gewerkschaftshauses in Moskau 2 David Fjodorowitsch Oistrach (1908 - 1974), bedeutender sowjetisch-jüdischer Geiger 3 Jelisaweta Grigorjewna Gilels (1919 - 2008), russische Geigerin, Schwester des Pianisten Emil Gilels 4 Fürst Andrei Michailowitsch Wolkonski (1933 - 2008), russischer Komponist, Dirigent, Cembalist 55 29 Schwänzen Galina Ein Winterabend fällt mir ein. Vater sitzt am Tisch und legt Patiencen. Ich aber trete wie unabsichtlich zu ihm heran und beginne zu husten. Er schaut mich besorgt an und sagt : Hast du Husten ? Hast du dich erkältet ? Nein, sage ich, das ist nichts ernstes . . . Ich war auch wirklich nicht erkältet, nur stand mir morgen in der Literaturstunde das Schreiben eines Aufsatzes bevor, und dem wollte ich unbedingt entkommen. Vater steht vom Tisch auf, legt seine Handäche an meine Stirn und sagt : Meinem Eindruck nach hast du erhöhte Temperatur. Jedenfalls gehst du morgen nicht zur Schule. Um unsere Gesundheit war er immer sehr besorgt, und Maxim und ich aber das war früher haben ihn dabei ausgenutzt. 56 30 Geburtstage Galina Vater feiert seinen Geburtstag. Wie immer brennt eine Menge Kerzen, am Tisch sitzen elegante Gäste. Unter ihnen ist auch unser Nachbar in der MoschaiskojeChaussee, der Diplomat Wladimir Iwanowitsch Bazykin mit seiner Frau Lidija Alexandrowna, einer überaus eindrucksvollen Dame. Nach Moskau war das Paar soeben aus Amerika zurückgekehrt, was in diesen Zeiten soviel bedeutete wie von einem anderen Planeten. An der Wand direkt über Madame Bazykina befand sich ein Leuchter mit zwei brennenden Kerzen. Eine von ihnen wurde plötzlich weich und das Wachs ng an, auf die bloÿe Schulter des eleganten Gastes zu tropfen. Es gab ein Durcheinander, man leistete ihr Hilfe, setzte sie auf einen sicheren Platz. Das war in seinem fünfzigsten Jahr, Mama lebte noch. Vater hielt sich an folgende Regel : zu seinem Geburtstag zündete er soviele Kerzen an, wie er Jahre alt war. Diese Gewohnheit geel seinen Freunden sehr, löste sie doch ein für allemal das Problem der Geschenkauswahl. Alle wussten, Schostakowitsch müsse man Kerzenständer schenken, mit jedem Jahr brauche es mehr. Ich erinnere mich, Vater ging einmal am Tag vor seinem Geburtstag irgendwo hin und kehrte dann mit einem riesigen Paket zurück, das er mit groÿer Vorsicht trug. Er stellte seine Last auf den Tisch, nahm das Papier weg, und wir erblickten einen riesigen Kristalllüster, der für zwölf Kerzen ausgelegt war. Seit der Zeit stand dieser Leuchter immer genau in der Mitte des Geburtstagstisches. Jedesmal vor Ankunft der Gäste beschäftigte sich Vater mit den zahlreichen Kerzenständern : er stellte die Kerzen akkurat auf, kürzte die Dochte, damit alles bereit war und es keine Hindernisse beim Abbrennen geben konnte. Und überall waren Streichholzschachteln hingelegt . . . Und noch eine Erinnerung, die mit der Ankunft der Gäste verbunden ist : In unserer Wohnung am Kutusow-Prospekt war einer der Heizkörper nicht unter dem Fenster, sondern direkt an der Wand befestigt. Als sich die Gäste in der Wohnung verteilten, wollte sich einer der Angekommenen auf eben diesen Heizkörper setzen. Aber da wurde Vater nervös und sagte zu irgendeiner gewichtigen Besucherin : Ich bitte Sie sehr, setzen Sie sich nicht auf den Heizkörper. Er kann abreiÿen, und dann ieÿt rostiges, kochendes Wasser heraus . . . Maxim Ich möchte einige Worte über Lidija Alexandrowna Bazykina hinzufügen. Sie war auÿerordentlich schön. Es genügt zu sagen, dass sie während ihrer Zeit in Amerika als Modell gearbeitet hatte, ihre Fotos wurden in Modezeitschriften abgedruckt. Zudem verfügte sie über eine wunderbare Stimme. Ihr Mann bat Vater einmal, ihr beim Singen zuzuhören. Papa hörte zu und sagte : Sie haben eine wunderbare Stimme, Sie müssen studieren ! Und nachdem sie Unterricht genommen hatte, begann sie im Stanislawskiund Nemirowitsch-Dantschenko-Theater zu singen . . . Noch etwas zu den Kerzenständern : Zwei überaus kostbare Leuchter bronzene, mit kristallnen Anhängern bekam Vater von Chatschaturjan geschenkt. 57 Galina Ja, und wo wir jetzt schon über Tischsitten sprechen überhaupt nicht ertragen konnte Vater schmeichlerische Tischreden. Um dem vorzubeugen, rief er, kaum dass die Wein- und Wodkagläser gefüllt waren, gleich selber aus : Nun, lasst uns auf meine Gesundheit trinken ! Aram Chatschaturjan Es war schwierig, Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitsch direkt persönlich Lob auszusprechen. Ich hatte ein paarmal die Gelegenheit, mit ihm am selben Tisch zu sitzen, besonders in Georgien und Armenien : Als man auf seine Gesundheit trank, erhob man die Gläser und begann mit den berühmten kaukasischen Trinksprüchen. Schostakowitsch sprang in solchen Fällen eilig auf, unterbrach den Redner und sagte : Nun, lasst uns trinken ! , um die überüssigen Lobreden und honigsüÿen Schmeicheleien abzubrechen . . . Isaak Glikman In Moskau bereitete man das fünfzigjährige Jubiläum Schostakowitschs vor, dem er mit groÿer Gereiztheit, Langeweile und Schwermut entgegensah. Schon im Voraus ängstigte ihn die Menge der Jubiläums-Reden, die viel Falschheit und Schmeichelei enthalten würden. Diejenigen, die ihn zuvor immer verfolgt hatten, würden sich nun mühsam die Maske der glühenden Anhänger überstülpen und ihn herzen. Die Abendveranstaltung fand statt am 24. September im überfüllten groÿen Saal des Konservatoriums. Dmitri Dmitriewitsch befand sich auf der Estrade, von Blumenkörben umgeben. Er sah ganz und gar nicht glücklich aus. Es kostete ihn Mühe, Reden mit Interesse zu folgen, die für ihn ganz uninteressant und unnötig waren. Jeder Redner versuchte, ihn am Ende seiner Ausführungen zu küssen, aber ich bemerkte, wie er geschickt und wie zufällig mit dem Ellenbogen diejenigen von sich wegstieÿ, die ihm unangenehm und unsympathisch waren. An der Abendveranstaltung nahmen natürlich auch die teil, die Schostakowitsch liebten und wirklich hochschätzten als Menschen und als Komponisten. Am nächsten Morgen warf Dmitri Dmitriewitsch zerstreute und irgendwie befremdete Blicke auf den Haufen von Geschenken, die man ihm zum Jubiläum überreicht hatte. Diese Geschenke erschienen ihm ebenfalls uninteressant und überüssig. Wir hatten vereinbart, beim Morgentee nicht über das Jubiläum zu sprechen, auch wenn dabei nichts Schlimmes passiert war. 58 31 Kinobesuche Galina Von der Leinwand trieft Musik und eine Frauenstimme singt : Tanze Tango, ich fühle mich so leicht . . . Ich aber fühle mich gar nicht leicht, denn neben mir im halbdunklen Saal sitzt Vater, und in seinem Gesicht drückt sich völliger Widerwille sowohl der Musik als auch dem Gesang gegenüber aus, überhaupt gegenüber allem, was wir auf der Leinwand sehen. Der Ort des Geschehens war das Prizyw, ein Kino neben unserem Haus in der Moschaiski-Chaussee. Ins Kino zu kommen, war in diesen Jahren nicht leicht, aber da half Maxim und mir der Umstand, dass Vater Abgeordneter im Oberen Sowjet der RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) war. Bei Bedarf tippte er auf seiner Schreibmaschine einen Brief und der Administrator verkaufte uns Sonderbilletts. Einmal hatte ich beschlossen, zehn Mädchen aus meiner Klasse in eine Vorstellung zu bringen. Vater schrieb auf meine Bitte hin einen Brief an das Kino, aber diesmal bekamen wir einen Korb. Die Administratorin erklärte : Der Genosse Schostakowitsch hat als Abgeordneter des Oberen Sowjet Anspruch auf den Erhalt zweier Sonderbilletts. Er kann zu einer Vorstellung mit seiner Frau oder mit einem seiner Kinder kommen. Möge er persönlich erscheinen und die ihm zustehenden Billetts kaufen. Nun, und damals hatte ich Vater überredet, mit mir in Peter zu gehen, eine ziemlich dümmliche Komödie, in der die Schauspielerin Franziska Gaal 1 die Hauptrolle spielte. Sie zog sich da ein Männerkostüm an, machte Faxen, sang und tanzte. Vater blieb tapfer bis zum Ende des Films sitzen, obwohl sein Gesicht, ich wiederhole mich, gequält aussah. Und als wir nach Hause gingen, sagte er : Führe mich bitte nicht mehr ins Kino . . . Maxim Als Kind ging ich sehr gern ins Kino. Und dafür das ist aber vorbei verlegte ich mich auf 's Fälschen. Ich nahm ein Abgeordneten-Formular von Vater, tippte mit einem Finger auf seiner Schreibmaschine einen Brief an eben dieses Kino Prizyw und machte dann seine Unterschrift nach. Bis jetzt erinnere ich mich an den Text dieser gefälschten Briefe : Ich bitte um den Verkauf eines Billetts für die laufende Vorstellung. 2 Auf diese Weise sah ich einige Male Tarzan . Michail Ardow Damals liebte ich das Kino nicht weniger als Maxim. Nicht weit von unserem Haus war eines der besten Kinos Moskaus das Udarnik. Mein Vater, der Schriftsteller Viktor Ardow, war bei weitem nicht so berühmt wie der Komponist Schostakowitsch, aber die Administratoren des Udarnik kannten ihn und mochten ihn sogar, weil er ihnen seine lustigen kleinen Bücher schenkte. Mit dem Heranwachsen wurde meine Stimme der väterlichen ziemlich ähnlich und ich nutzte diesen Umstand ungefähr so, wie Maxim das Abgeordneten-Formular seines Vaters. Ich rief den Administrator des Udarnik an, gab mich als Viktor Ardow aus und bat darum, seinem Sohn Michail Billetts für irgendeinen populären Film zu verkaufen . . . Aber Kino zu Beginn der fünfziger Jahre steht in meiner Erinnerung vor allem in 1 Franziska Gaal (1903 - 1972), ungarische Schauspielerin 2 Dschungelheld, Romangur von Edgar Rice Burroughs, seit 1914 in unzähligen Fortsetzungen 59 Verbindung mit Schwänzen, ich ging in die damaligen Filme, anstatt in die Schule zu gehen. Es gab allerdings auch ein Übel in diesen Jahren : in der Sowjetunion kamen nicht mehr als zehn Streifen pro Jahr heraus, und jeder davon lief mehrere Wochen in allen Moskauer Kinos. Irgend so einen idiotischen Film wie Kosaken aus dem Kuban musste ich zwanzig mal anschauen. Meistens gingen wir alle, die Schwänzer aus der Schule Nr. 12, in dieses nächstliegende Kino Udarnik. Die erste Vorstellung begann dort um zehn Uhr vormittags, unser Unterricht dagegen um halb neun. Aber seit einiger Zeit ngen wir an, weiter von unserer Schule entfernte Orte aufzusuchen. Die Sache war nämlich die, dass unser Direktor (mit Spitzname Kolos) manchmal selbst ins Udarnik ging und sich neben die Kasse stellte. Wenn er dann in der Schlange irgendeinen seiner Schüler erblickte, sagte er mit einem gewissen Hohn : Du solltest besser zur Schule gehen. Und der auf frischer Tat ertappte Schwänzer schleppte sich traurig in die zweite Stunde. 60 32 Kindergeburtstag Galina Schostakowitsch spielt am Flügel den zu seiner Zeit bekannten Foxtrott Tea for two und an der Wand seines Zimmers entlang stehen meine verzagten Klassenkameradinnen. Na los, tanzt, tanzt ! fordert Vater sie auf, aber die Mädchen stehen wie angewurzelt da. Ich hatte sie zu meinem Geburtstag geholt. Zuerst gab es ein Essen, am Tisch saÿen die Eltern, der Bruder Maxim und meine Gäste. Aber sie fühlten sich angespannt, keine von ihnen machte den Mund auf. Diese Mädchen lebten in gruseligen sowjetischen Gemeinschaftswohnungen, und unsere Einzelwohnung, in der es zwei Flügel und alte, bequeme Möbel gab, erschien ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach wie ein Märchenpalast. Als man vom Tisch aufstand, beschloss Vater, die Stimmung zu entspannen. Er lud uns in sein Zimmer ein, setzte sich an den Flügel, spielte Foxtrotts und Tangos, aber damit konnte er meine Klassenkameradinnen nicht begeistern. Wie heute höre ich seine Stimme : Na los, los, tanzt ! Eine mit der anderen . . . Zwei oder drei bewegten sich etwas unschlüssig, aber das Eis wollte so nicht schmelzen. 61 33 Michailowskoje Galina Ein Polizist hält unseren Wagen an. Sie wollen nach Michailowskoje1 ? fragt er. Da gibt es keine Durchfahrt mehr, Sie müssen zu Fuÿ gehen. Vater zeigt sein Abgeordneten-Buch, und unser Auto kann passieren. Das war im Jahre 1952, Anfang Juni. Wir mussten von Moskau nach Komarowo umziehen, und Vater beschloss, unterwegs die Puschkin-Orte zu besuchen. Je näher das Naturschutzgebiet kam, umso mehr belebte sich die Straÿe : Lastwägen voller Menschen, PKWs. Und das alles bewegte sich in derselben Richtung wie wir. In Michailowskoje fanden wir ein Meer von Menschen vor. Vater war gerührt : Schaut nur, wie man den groÿen Dichter ehrt ! Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass er soviele Anhänger hat ! Im Museumsgebäude trafen wir einen Führer. Vater stellte sich ihm vor und sagte : Wie gut, dass wir gekommen sind ! Soviele Leser hat der Dichter ! Ja, was hat denn das hier mit dem Dichter zu tun ?! Der Führer schlug die Hände zusammen. Pfeifen tun sie auf Puschkin ! Zum Saufen sind sie hergekommen ! Heute ist doch der neunte Freitag, früher war da das Patronatsfest im Swjatogorski-Kloster. An diesem Tag gab es hier seit alters her eine Zecherei. Aber für das Museum ist das einfach schlimm : Sie saufen hier herum, kotzen den ganzen Park voll, vermüllen alles, zerschlagen Gläser. Drei Wochen dauert es, das Anwesen wieder in Ordnung zu bringen. Und das jeden Sommer . . . Aus dem Tagebuch des Kleinbürgers I. I. Lapin aus Opotschka 1825. Am 29. Mai war ich auf den heiligen Bergen zum `neunten Freitag'. . . und da hatte ich das Glück, den Herrn Alexander Sergejewitsch Puschkin zu sehen, der in gewisser Weise mit seiner sonderbaren Kleidung überraschte. Auf dem Kopf trug er einen Strohhut, bekleidet war er mit einem roten Kattunhemd und gegürtet mit einem blauen Band, in der Hand hielt er einen eisernen Spazierstock. Er hatte lange schwarze Koteletten, die eher in Richtung eines Bartes gingen, ebenfalls lange Fingernägel. Damit schälte er Orangen und aÿ sie mit groÿem Appetit, ich glaube ungefähr ein halbes Dutzend . . . 1 früheres Landgut, heute Naturschutzgebiet und Puschkin-Gedenkstätte in der Oblast Pskow, auf dem Gelände des dortigen Swjatogorski-Klosters bendet sich das Dichtergrab 62 34 Nina Wassiljewnas Tod Galina Ich schaue aus dem Fenster und sehe eine grenzenlose weiÿe Ebene. Das sind die Wolken, über denen unser Flugzeug iegt. Und ich denke, dass es sehr langsam iegt. Wenn es sich doch so schnell wie möglich bewegen würde ! Neben mir sitzt Vater, wir iegen nach Jerewan : dort ist Mama ins Krankenhaus gekommen. Sie war Physikerin und beschäftigte sich mit kosmischer Strahlung. In Armenien gab es ein Hochgebirgsobservatorium auf dem Aragaz, Mama fuhr in regelmäÿigen Abständen zur Arbeit dorthin. So auch im Herbst 1954, im Dezember erwarteten wir sie zurück. Plötzlich ein Anruf aus Jerewan. Vater war im Konzert, nur so als Zuhörer. Man machte ihn im Publikum ausndig und teilte ihm mit, dass Mama ins Krankenhaus gekommen sei und eine schwere Operation gehabt habe. Und so ogen wir nach Jerewan. Vom Flughafen eilten wir ins Krankenhaus. Es gab Gespräche mit den Ärzten. Man sagte uns, Mama sei bewusstlos. Wir begannen, die wichtigsten Fragen zu klären : Wie wir einen Rund-um-die-Uhr-Dienst einrichten könnten, wer in der ersten Nacht bei ihr bleiben würde. Eben da kam irgendein Mensch im weiÿen Kittel herein und erklärte, dass sie gestorben sei. Alles Weitere geschah wie im Traum . . . was in Jerewan zu erledigen war . . . wir fahren im Zug nach Moskau . . . der Sarg in unserer Wohnung . . . Verwandte, Freunde, Nachbarn alle kamen, um Abschied zu nehmen . . . der Nowodewitschi-Friedhof . . . wieder nach Hause zurück Leichenschmaus . . . In diesen Tagen sah ich Vater das erstemal weinen. Maxim Als sie nach Jerewan ogen, hatte Vater so eine Vorahnung. Mich wollte er nicht dorthin mitnehmen. Und ich erinnere mich, wie ich dasaÿ und auf den Telefonanruf wartete. Ich hatte Hausschuhe, die aufgerissen waren, und versuchte, sie selbst zu icken. Genau in dem Augenblick kam der Anruf aus Jerewan. Vater sagte : Mutter ist gestorben. Ich hatte das Gefühl, ihm irgendwie helfen zu müssen und ng an, etwas in der Art zu sagen, versuchte, ihn zu beruhigen . . . Er und Galina kamen mit dem Zug, 1 der Zinksarg aber im Flugzeug. Ihn begleitete der armenische Komponist Chudojan . Auf dem Friedhof zeigte man, wo Mutters Grab sein würde, Vater sagte : Na, auch für mich ist hier ein Plätzchen, auch für mich ein Plätzchen . . . Der Dezember war sehr kalt, aber ich hatte damals keine warme Kleidung. So bat Papa am Tag vor der Beerdigung Mutters Freundin Anna Semjonowna Williams, mit mir in einen Laden zu gehen und mir einen Mantel zu kaufen. Auf dem Friedhof erlaubte Papa nicht, dass Reden gehalten würden. Das Schweigen wurde gebrochen von seinen Worten : Es ist sehr kalt. Sehr kalt. Gehen wir auseinander . . . Isaak Glikman In den qualvollen Stunden, die der Beerdigung vorausgingen, setzte Dmitri Dmitriewitsch einige Male dazu an, mir von den letzten Minuten Nina Wassiljewnas zu erzählen, und jedesmal begann sein abgemagertes Gesicht krampfhaft 1 Adam Geganowitsch Chudojan (* 1920), armenischer Komponist, Mitglied des von Chatschaturjan und Schostakowitsch ins Leben gerufenen mächtigen armenischen Häueins 63 zu zucken und aus seinen Augen ossen Tränen, aber mit groÿer Willensanstrengung nahm er sich zusammen und wir gingen in abgerissenen Phrasen zu anderen, weniger bedeutsamen Themen über. Durch das Zimmer zog eine lange Reihe von Menschen, die von der Verstorbenen gerne Abschied nehmen wollten. Es erklang die Musik der Quartette und der zweiten Symphonie. L. T. Atowmjan hatte zu diesem Zweck ein Tonbandgerät aufgebaut. Ich saÿ auf dem Diwan mit Dmitri Dmitriewitsch, der von Zeit zu Zeit lautlos weinte. Nach der Beerdigung, die am Nachmittag auf dem verschneiten NowodewitschiFriedhof stattfand, richtete die Haushälterin Fenja den Leichenschmaus her, bei dem auÿer den Verwandten L. T. Atowmjan, G. W. Swiridow 1 und ich anwesend waren. Mein Abschied von Dmitri Dmitriewitsch war voll von Trauer und Gram. Nachts am 10. Dezember fuhr ich zusammen mit Swiridow nach Leningrad. Fast ganz bis zum Morgen sprachen wir mit glühender Liebe von Schostakowitsch, von seiner genialen Begabung, von seinem phänomenalen schöpferischen Willen, der durch nichts zu brechen sei. Böse Kräfte könnten ihn beugen, aber er richte sich wieder auf wie eine Stahlfeder. Maxim Mit Mamas Tod verlor unser Vater nicht nur eine Freundin, die Mutter seiner Kinder. Sie war vielmehr auch sein Schutzengel gewesen, sie hatte ihm die täglichen Scherereien und Unannehmlichkeiten nach Kräften vom Leibe gehalten, ihn geschützt vor der Gemeinheit der Parteibeamten und den Demütigungen des unfreien Sowjetlebens. 1 Georgi Wassiljewitsch Swiridow (1915 - 1998), russischer Komponist. 64 35 Erziehungsfragen Galina Ich spreche am Telefon mit einem jungen Mann. Das Gespräch dauert lange, wir vereinbaren ein Rendezvous unter einer bestimmten Uhren-Laterne. Während des ganzen Gesprächs sehe ich, wie Vater nervös im Zimmer hin und her geht oensichtlich ist mein Gespräch nicht nach seinem Geschmack. Ich lege den Hörer auf, da sagt er zu mir : Was sind das für Manieren ein Rendezvous vereinbaren unter irgendeinem Torbogen ? Wohlerzogene Menschen machen so etwas nicht. Dein Kavalier soll zu uns nach Hause kommen, sich mit Deinem Vater bekannt machen. Man muss ihm Tee anbieten . . . Unsere Mutter starb, als ich 18 Jahre alt war, und Maxim 16. Und für Vater stellte sich nun das Problem unserer Erziehung. Bis heute erinnere ich mich, wie er mich Verhaltensregeln lehrte, wie er beispielsweise erklärte, dass beim Hinabsteigen einer Treppe die Frau vorausgehen müsse, beim Hinaufsteigen jedoch hinterher . . . Vater wurde immer sehr unruhig, wenn ich oder Maxim abends nicht zu Hause war. Wir waren verpichtet, zu Hause anzurufen und ihm mitzuteilen, wo wir uns befänden und wann wir zurückkämen. Zu Erziehungszielen fällt mir manchmal diese Geschichte ein : Noch vor dem Krieg 1 gingen die Eltern zu Besuch zu dem Dichter Iossif Utkin . Es gab ein reichliches Essen, das die Mutter des Dichters vorbereitet hatte. Irgendwann verlieÿ sie das Zimmer, und da stieÿ meine Mama Nina Wassiljewna ein Glas mit Rotwein um. Als die Hausherrin zurückkam, entschloss sich Utkin, die Schuld auf sich zu nehmen, er gab diese Fahrlässigkeit, sozusagen, geradezu zu. Dafür el Mütterchen auch über ihn her : Was bist Du ungeschickt ! Was hast Du da angerichtet ?! Das ist mein bestes Tischtuch ! Ich werde es jetzt doch nicht auswaschen ! Was hast nur Du für Hände ?! Warum lässt Du mit ihnen immer alles fallen ?! Wenn Vater diese Episode erzählte, sagte er zu meinem Bruder und mir : Gute Erziehung besteht nicht darin, dass man kein Weinglas auf dem Tischtuch umwirft, sondern darin, dass man, wenn so etwas passiert ist, den Eindruck vermittelt, als ob nichts geschehen wäre. 1 Iossif Pawlowitsch Utkin (1903 - 1944), russisch-sowjetischer Dichter und Journalist 65 36 Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk Maxim Bis jetzt höre ich deutlich die heuchlerische Stimme des Komponisten 1 Dmitri Kabalewski . Er wendet sich an meinen Vater und sagt, Wohlwollen vortäuschend : Mitja, nun, was beeilst Du Dich ? Noch ist die Zeit für Deine Oper nicht gekommen . . . Schostakowitsch aber sitzt auf dem Diwan, in der zitternden Hand eine Zigarette, und tut so, als ob er Kabalewski nicht hört. Das geschah im März des Jahres 1956. Bei uns zu Hause fand sich eine Kommission des Ministeriums für Kultur ein, sie sollte über das weitere Schicksal der Oper Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk benden, die für eine Dauer von zwanzig Jahren Auührungsverbot hatte seit 1936. Eben damals kam Stalin selbst zu einer der Vorstellungen, und die Oper erregte seinen Zorn. In der Prawda erschien ein vernichtender Artikel unter der Überschrift Chaos statt Musik, und dann folgten Konsequenzen : eine Versammlung der Kulturschaenden, auf der man einstimmig Resolutionen verabschiedete, die Schostakowitsch und sein Opus zornig verurteilten. Im Jahre 1953 starb Stalin, im Land begann das Chruschtschow'sche Tauwetter, und bei unserem Vater keimte die Honung auf, dass Lady Macbeth eines seiner Lieblingswerke rehabilitiert werden könne. Das erschien völlig im Bereich des Möglichen, dafür überarbeitete Schostakowitsch die Oper sogar. Sie bekam einen neuen Titel : Katerina Ismailowa. Eine Aufhebung des Verbots strebte nicht nur unser Vater an, sondern auch die Leitung des Kleinen Operntheaters in Leningrad : man wollte dieses Stück dort unbedingt ins Repertoire aufnehmen. Zu Beginn des Jahres 1956 wurde im Ministerium für Kultur eine Kommission gebildet, die über das weitere Schicksal der leidgeprüften Oper benden sollte. Vorsitzender der Kommission war Kabalewski, dazu kamen noch, wie ich mich erinnere, der Komponist Michail Tschulaki und ein Musikwissenschaftler namens Chubow. Anwesend war aber auch noch Isaak Davidowitsch Glikman, er half Vater bei der Neufassung des Librettos. Der Umstand, dass das Durchhören der Oper und die Kommissions-Sitzung bei uns zu Hause stattfanden, konnte auf zweierlei Weise gedeutet werden : einerseits als Ausdruck des Respekts vor Schostakowitsch, andererseits als subtiler Hohn. Die Mitglieder der Kommission und die von ihnen eingeladenen Personen befanden sich in Vaters Zimmer. Er saÿ am Flügel und sang die ganze Oper zur eigenen Begleitung vor. Ich war damals an seiner Seite : er hatte mich gebeten, die Noten umzublättern. Dann begann die Beratung. Kabalewski, Chubow und Tschulaki stürzten sich buchstäblich auf Schostakowitsch. Glikman versuchte, ihnen zu widersprechen, aber sie wollten von ihm nichts hören. Ich schaute auf diese widerlichen Menschen und bedauerte, dass ich meine Schleuder nicht mehr hatte, mit der ich damals in Komarowo auf die Beleidiger meines Vaters geschossen hatte . . . Isaak Glikman Die Kommission erschien in Dmitri Dmitriewitschs Zimmer am Nachmittag zu der vereinbarten Stunde. Alle begrüÿten den Hausherrn freudig. Mir schien nichts auf ein Scheitern des ganzen Unternehmens hinzudeuten. Schostakowitsch 1 Dmitri Borissowitsch Kabalewski (1904 - 1987), russischer Komponist 66 war ziemlich aufgeregt und verteilte die beizeiten mit der Schreibmaschine abgetippten Exemplare des Librettos in der Neufassung. < . . . > Dann setzte er sich an den Flügel und trug die Oper wunderbar vor. Nach einer kurzen Pause, in der sich die KommissionsMitglieder unnahbar streng gaben, begann die Beratung. Man unterzog die Oper einer äuÿerst erbitterten Kritik, ganz im Sinne des traurigberühmten Artikels Chaos statt Musik. < . . . > Schostakowitsch hörte den Rednern zu, während er allein auf dem groÿen Diwan saÿ. Er drückte sich an dessen breite Rückenlehne, wie um dort Halt zu suchen. Seine Augen waren geschlossen. Wahrscheinlich war es ihm unerträglich, seine Kollegen anzublicken, die so gut geübt waren im Übelreden. Auf seinem Gesicht erschien von Zeit zu Zeit eine schmerzliche Grimasse. Zum gröÿten Missfallen der Kommission sprach ich zweimal, und zwar aufgeregt und feurig, von der Notwendigkeit, die groÿe Oper unverzüglich aufzuführen, deren Musik vor zwanzig Jahren zum Chaos erklärt worden war. G. N. Chubow unterbrach mich immer wieder mit scharfen, kreischenden Zwischenrufen und versuchte, mich zu verwirren. Das gelang ihm zwar nicht, aber letzten Endes blieb meine Rede die Stimme eines Rufers in der Wüste. Die Kommission beschloss einmütig, Lady Macbeth aufgrund ihrer schweren ideologisch-künstlerischen Mängel nicht zur Auührung zu empfehlen. Am 14. März 1956 kehrte ich aus Moskau nach Hause zurück, besinnungslos und auÿer mir wegen der nochmaligen Hinrichtung der Lady Macbeth, diesmal vollstreckt von gebildeten Musikern. Noch ganz unter diesem Eindruck verfasste ich eine kurze Aufzeichnung dieser denkwürdigen Sitzung, von der aller Wahrscheinlichkeit nach die SchostakowitschBiografen nichts wissen. Ich erlaube mir, daraus mit einigen Kürzungen zu zitieren : Die Beratung über `Lady Macbeth' kann man nur als schändlich bezeichnen. Chubow, Kabalewski und Tschulaki bezogen sich die ganze Zeit auf den Artikel `Chaos statt Musik'. Besonders eifrig taten das Chubow und Kabalewski. Sie brachten bestimmte Ausschnitte der Musik mit verschiedenen Abschnitten dieses Artikels in Verbindung, die voll waren von Beschimpfungen. Dabei wiederholten sie, dass sich bezüglich des Artikels bis heute nichts geändert, er vielmehr seine Aussagekraft und Bedeutung bewahrt habe. Klar ! Heiÿt es doch darin, in der Oper bricht die Musik zusammen, grunzt, keucht und erstickt. Einige Stellen der Oper lobte Kabalewski, aber das war doppelt unangenehm zu hören. Zum Abschluss sagte er (in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Kommission), dass man die Oper nicht auühren könne, weil sie die Apologie eines mörderischen und liederlichen Frauenzimmers darstelle, und das beeinträchtige ihre moralische Qualität in hohem Maÿe . . . Ich widersprach ziemlich eindringlich, aber alle meine Argumente zerbrachen an diesem Artikel, den Kabalewski und Chubow wie einen Knüppel schwangen. Am Ende der Debatte bat Kabalewski Dmitri Dmitriewitsch um seinen Kommentar, wobei er ihn in freundschaftlicher Vertraulichkeit mit Mitja anredete, aber der lehnte weitere Äuÿerungen ab, nachdem er sich mit erstaunlicher Selbstbeherrschung für die Kritik bedankt hatte. Im Inneren war er aufgebracht. Wir fuhren zusammen in ein Restaurant und tranken ziemlich viel, nicht aus Gram, sondern aus Abscheu. Das war im `Aragwi', in einem eigenen Zimmer. Dmitri Dmitriewitsch stand vom Tisch auf, kam zu mir und sagte : Du bist mein erster, treuster und liebster Freund. Danke. Er hatte dabei auch mein Verhalten während der heutigen Sitzung im Blick . . . 67 Michail Ardow Das Aragwi war das bekannteste Restaurant in Moskau, wir alle liebten es sehr. Sobald jemand aus unseren Kreisen etwas Geld hatte, begaben wir uns unverzüglich in eben dieses Aragwi. Dort empng und bediente uns ein Kellner namens Ljoscha. Seine Gesichtszüge hatten einen dunkelhäutigen Einschlag, weswegen Maxim Schostakowitsch sich den Spitznamen Paul Robson für ihn ausdachte. Zu besonders festlichen Anlässen (zu irgendjemandes Geburtstag) wies man uns ein eigenes Zimmer zu. Und da erinnere ich mich an den Vorabend von Maxims Geburtstag. Wir waren zusammen im Restaurant, und Paul Robson nahm unsere Bestellung für das morgige Festessen entgegen. Maxim sagt : Acht Flaschen guten Trockenen und fünf Flaschen Wodka . . . Paul Robson fällt ihm ins Wort : Maxim, was ist, bist Du verrückt geworden ?! Du willst den Wodka hier bestellen, und ihn nicht selber mitbringen ?! Das erlauben nicht einmal wir uns ! . . . Komisch waren die Zeiten. Der Kellner aus dem Aragwi dachte im Ernst, er stünde in der sozialen Hierarchie höher als der Sohn des gröÿten Komponisten. Maxim Schostakowitsch schrieb nicht nur die Musik, sondern auch das Libretto zu Lady Macbeth aus dem Mzensker Bezirk, weswegen diese Oper ihm als sein geistiges Kind doppelt lieb war. Überhaupt verhielt er sich zu seinen Werken wie zu Kindern. Und diejenigen unter ihnen, die am meisten unter Verboten und ungerechter Kritik zu leiden hatten, waren ihm wertvoller als die übrigen. Aber in Lady Macbeth geht es nicht um ein dramatisches, sondern um ein wahrhaft tragisches Schicksal. Schostakowitsch entwickelte als Librettist eine klare Vorstellung davon, wie gerade das nicht nur klingen, sondern auch auf der Bühne aussehen sollte. Theaterregisseure erlaubten, ja erlauben sich da völlig absurde Sachen. Beispielsweise sah ich selbst in einer der jüngsten Auührungen einen solchen Einfall. Wie man weiÿ, heiÿt es in der Partie des verkommenen Bauern : Bei den Ismailows liegt eine Leiche im Keller ! Nun also, in besagter Auührung lag die Leiche nicht im Keller, sondern 1 im Koerraum eines Lada , den man dazu eigens aus Moskau hatte heranschaen lassen. So eine Wahnidee. Ich äuÿerte diesem Regisseur gegenüber mein Befremden : im Allgemeinen müsse man der Absicht des Autors folgen. Aber er sagte mir : Nun, Maxim Dmitriewitsch, so arbeitet jetzt keiner mehr . . . In derselben Auührung gab es eine weitere Widersinnigkeit. Katerina singt : Die Knechte schütten das Weizenmehl auf. Das Mehl heiÿt das. Aber er hat da Leute mit Plastikhelmen und einem Zementsack . . . In einer anderen Auührung tauchen auf der Bühne zwischen den Polizisten Mitarbeiter des KGB auf . . . Schostakowitsch konnte solche Sachen nicht ertragen, daher bemühte er sich, bei den Vorbereitungen zu allen Lady Macbeths anwesend zu sein. Für die beste Auührung hielt er die im Kiewer Opern- und Ballett-Theater (Dirigent : K. A. Simeonow, Regisseur : I. A. Molostow, die Premiere fand im März 1965 statt). Aus einem Brief D. Sch.'s an I. A. Molostow Ich habe schon einige Auf- führungen meiner Oper gesehen. In der Londoner Auührung und besonders in der 1 sowjetische Automarke 68 Zagreber gab es eine sehr starke Tendenz zur erotischen Seite hin, was vollkommen unzulässig ist. Es gelang mir, einiges davon zu korrigieren. In London mehr als in Zagreb. Ich hätte sehr gerne, dass im 5. Bild Katerina Lwowna den Tags zuvor verprügelten Sergei so pegt, wie das eine liebende Frau tun würde. Erotik ist hier unzulässig. Die wichtigsten Gefühle Katerina Lwownas sind Liebe und Mitgefühl für Sergei, Angst um sich selbst und Sergei, Gewissensbisse nach dem Mord an Boris Timofejewitsch. Sergei muss ein Schurke sein. Aber zu der Zeit muss er so sein, dass man versteht, warum Katerina sich in ihn verliebt hat. Er muss äuÿerlich etwas hermachen. Im StanislawskiTheater war er schon sehr unscheinbar, und es war unverständlich, wie Katerina sich in so jemanden verlieben konnte . . . Aus Notizen D. Sch.'s zu den Proben im Kiewer Opern- und BallettTheater Zweites Bild. Katerina und Sergei kämpfen miteinander, während sie sich umarmt halten. Sie sollen mit den Unterarmen kämpfen und ihre Kräfte messen : Wer gibt nach ? Wenn nach dem Kampf Boris Timofejewitsch auftaucht, sollte Katerina schnell aufspringen oder sich hinsetzen. Nicht in der alten Position verharren . . . Drittes Bild. Wenn Sergei das Schlafzimmer betritt, helles Licht in den Türen. Woher kommt es ? Die Sache geschieht doch nachts ! Am Ende des Bildes nach Meine Katja ! plötzlich das Licht löschen und Vorhang . . . Fünftes Bild. Nach den Worten Drück' mich fester ans Herz ! Licht wegnehmen. Die Musik soll zu hören sein und sonst nichts. Vor der Ankunft von Sinowi Borissowitsch sprechen Katerina und Sergei sehr laut. Besser Flüstern oder Halbüstern. Sechstes Bild. Der verkommene Bauer kann nicht ohne weiteres in den Keller eindringen, er muss ein Schloss abreiÿen oder eine Tür aufbrechen. Vierter Akt. Sonjetkas Spott über Katerina. Sonjetka muss boshafter sein. In Sergei ist sie nicht verliebt. Der Kuss mit Sergei scheint mir überüssig. Der alte Zwangsarbeiter muss älter sein. Soll er doch aussehen wie Lew Tolstoi. Am Ende eines jeden Aktes muss das Licht im Zuschauerraum schneller angehen, damit das Publikum weiÿ, jetzt ist Pause und man kann zum Buet gehen . . . Alles Übrige ist wunderbar organisiert !!! 69 37 Autofahren, Autorenrechte Galina Unser Auto fährt auf der Primorski-Chaussee, ich sitze am Steuer, Vater neben mir. Ich bin schrecklich aufgeregt : eben fahren wir nach Leningrad hinein, wo tausende von Autos hin und her schieÿen. Und meine Fahrpraxis kann man vergessen. 1 Das war im Sommer 1956. Anfang Sommer wurde unser Pobeda nach Komarowo überführt, wo er dann in aller Ruhe stand. Und da erklärt mir Vater plötzlich : Morgen fährst Du mich nach Leningrad. Die Aufregung war umsonst, alles ging gut. Vor allem, weil er mich anleitete : er warnte vor Kurven, zeigte die Spur an, in der man fahren musste. Die Fahrtheorie kannte Vater aus dem Ee. Nur mit der Praxis gab es Probleme, hinter dem Steuer wollte er nicht sitzen. Beim Kauf unseres ersten Pobeda kam es zur folgenden Geschichte. Ein Auto zu bekommen war damals eine langwierige Angelegenheit, und erforderlich war natürlich die unbedingte Anwesenheit des künftigen Besitzers. So fuhr Vater also selbst in den Laden und überführte das Auto nach Hause. Es fuhr ziemlich schlecht. Vater parkte das Auto neben unserem Haus, schloss die Tür ab und wollte gehen. In dem Augenblick rief ihm irgendein anderer Fahrer zu : He, Du mit der Brille ! Schau, was mit Deinem Auto los ist ! Vater schaute und sah, dass es aus den Rädern heraus rauchte. Es stellte sich heraus, dass er die ganze Strecke vom Laden nach Hause mit angezogener Handbremse gefahren war. Maxim Ich erinnere mich an eine weitere derartige Geschichte, Mama hat sie erzählt. Sie sagte einmal zu Vater : Du hast doch einen Führerschein, komm, lass uns 2 mit dem Auto irgendwohin in die Stadt fahren . . . Sie fuhren zum Hunde-Platz , dort hatten wir eine Garage. Vater setzte sich ans Steuer, lieÿ den Motor an und begann loszufahren. Doch dabei hatte er vergessen, die Türe zu schlieÿen, er streifte mit ihr ein Tor und sie wäre beinahe abgerissen. Als Ergebnis wurde die Reise abgebrochen, die Eltern schlossen die Garage ab und gingen heim. Bei alledem parodierte Vater manchmal den Fahrer-Jargon, indem er sagte : Kolben, Gänge davon verstehe ich nichts ! Auch erzählte er noch die Sache mit der hervor- 3 ragenden Harfenistin Vera Dulowa . Nach einem Konzert kam irgendeine Tante zu ihr, zeigte auf das Harfenpedal und fragte : Und das ist also Ihre Gangschaltung ? Galina Es kommt mir so vor, als ob Autofahren für Schostakowitsch aus psychologischen Gründen nicht in Frage kommen konnte. Er war zu gefühlsbetont, zu verletzbar, und das in Verbindung mit einem gesteigerten Verantwortungsbewusstsein . . . Isaak Glikman Einem von ihm festgesetzten Brauch gemäÿ empng mich Dmitri Dmitriewitsch immer am Bahnhof. Diesmal aber hatte er wegen Krankheit des Chauf- 1 sowjetischer PKW der oberen Mittelklasse in den Jahren 1946 - 1958 2 seit 1962 Arbat 3 Vera Georgiewna Dulowa (1909 - 2000), sowjetische Harfenistin 70 feurs beschlossen, das Auto selbst zu fahren, und auf dem Heimweg machte er einen kleinen Fehler : er hupte an unerlaubtem Ort. Im Handumdrehen tauchte ein furchteinöÿender Ordnungshüter auf, der Schostakowitsch in höchste Aufregung versetzte. Es el ihm natürlich nicht ein, dem Milizbeamten sein Abgeordnetenmandat des Oberen Sowjets vorzuzeigen (das widersprach seinen Lebensprinzipien) : gehorsam zog er seinen Führerschein heraus. Der Milizbeamte kanzelte den Gesetzesübertreter grob ab, solange er seinen Namen noch nicht gelesen hatte, fragte aber dann, ob er etwa der Komponist sei. Trübe befriedigte Dmitri Dmitriewitsch die Neugier des Milizbeamten und wurde in alle vier Winde entlassen . . . Es ist seltsam, aber dieser unbedeutende Zwischenfall brachte den überaus nervösen Schostakowitsch aus dem Gleichgewicht. Galina Schostakowitsch geht zum Auto, fasst den Türgri an. Und da etwas Unglaubliches ein elektrischer Stromschlag ! Vor Schreck springt Vater vom Wagen zurück, seine Brille fällt herunter. Das war die Wirkung des selbstgebastelten Systems einer Wegfahrsperre, das unser damaliger Chaueur Alexander Lwowitsch Limonadow eingerichtet hatte. Verständlicherweise wurde seine scharfsinnig erdachte Vorrichtung entfernt, nachdem der Besitzer selbst zum ersten Opfer geworden war. Limonadow arbeitete einige Jahre bei Vater, aber dann löste ihn ein anderer Fahrer ab, er hieÿ Viktor Gogonow. Auch über ihn gibt es viele komische Geschichten. In der Lawruschinski-Gasse, direkt gegenüber der Tretjakow-Galerie, steht ein hohes Haus, in dem viele Moskauer Schriftsteller Wohnungen hatten. Im Erdgeschoss dieses Gebäudes befand sich lange Jahre das Amt zum Schutz von Autorenrechten, wo Schriftsteller und Komponisten, deren Werke öentlich aufgeführt wurden, Geld erhielten. Dort gab es auch eine Sparkasse, wohin diese Honorare überwiesen wurden. Bei seinen Reisen durchs Land verbrauchte Schostakowitsch viel Geld, und bei der Rückkehr nach Moskau musste er sofort in der Lawruschinski-Gasse vorbeigehen, um die turnusmäÿige Summe vom Konto abzuheben. Gogonow erklärte sich diese regelmäÿigen Fahrten auf seine Art : Wie intelligent, kultiviert Dmitri Dmitriewitsch doch ist ! Da fährt er ein zwei Wochen aus der Stadt weg, kommt nach Moskau zurück und fährt direkt vom Bahnhof in die Tretjakow-Galerie ! . . . Maxim Mit diesem Gogonow gab es auch noch folgende Sache. Er kam einmal zu uns nach Hause und sah mich am Flügel sitzen. Da sagte er : Lass mich doch mal versuchen Moskauer Nächte 1 zu spielen . . . Mit der rechten Hand begann er auf die Tasten zu drücken, aber irgendwie unsicher, holprig. Plötzlich el ihm ein : Warte, ich weiÿ, woran es liegt ! Er kroch daraufhin unter den Flügel, streckte von da die Hand nach oben und spielte die Melodie wesentlich sicherer. Wie sich herausstellte, war er Akkordeon-Amateur und daher daran gewöhnt, dass die Tasten an seinem Bauch entlang verliefen. Aber jetzt zum Amt zum Schutz von Autorenrechten. Eines Tages durfte ich Vater dorthin begleiten. Auf dem Weg zur Kasse sahen wir neben dem Schalter Jean Paul 1 populäres Lied von Wassili Solowjow-Sedoi aus dem Jahr 1955 71 Sartre stehen, der sorgfältig einen ziemlich dicken Packen Scheine nachzählte. Dazu muss man anmerken, dass in diesen Zeiten an Ausländer keine Honorare ausgezahlt wurden. Nur in Ausnahmefällen geschah das, zur Förderung solcher Personen, die dem bolschewistischen Regime von besonderem Nutzen waren. Oensichtlich gehörte Sartre dazu. Vater warf einen schnellen Blick auf den Franzosen und üsterte mir direkt ins Ohr : Wir lehnen einen materiellen Anreiz zum Übergang vom reaktionären zum fortschrittlichen Lager nicht ab. Michail Ardow Schostakowitsch parodierte da den in diesen Jahren recht bekannten Spruch Lenins : Wir (d. h. die Kommunisten) lehnen einen materiellen Anreiz für die Arbeiter zur Erhöhung der Arbeitsleistung nicht ab. 72 38 Auslandsreisen Galina Schostakowitsch geht mit schnellen Schritten von einem Flügel zu einem anderen, dann zu einem dritten, einem vierten, er probiert aus, wie jeder von ihnen klingt. Das ist in Helsinki, im riesigen Warenhaus von Stockmann, im obersten Stockwerk, wo Musikinstrumente verkauft werden. Einer von den Flügeln geel Vater mehr als die anderen, und alle, darunter auch er selbst, waren überzeugt, dass es zum Kauf kommen würde. Aber das Schicksal wollte es anders . . . Im Jahr 1958 wurde Schostakowitsch der Jean-Sibelius-Preis verliehen, und zur Entgegennahme dieser Auszeichnung fuhr Vater in die nnische Hauptstadt. Ich durfte ihn auf der Reise begleiten, das war Anfang Oktober. Auÿer einem Flügel wollten wir einige Möbel und etwas Kleidung kaufen, in Moskau nämlich konnte man unmöglich irgendetwas Anständiges anschaen. Der Sibelius-Preis war mit einem ansehnlichen Dollarbetrag dotiert, unsere Pläne schienen völlig realisierbar. Aber da, am Vortag eben dieser Preisverleihung, erklärte irgendein Bevollmächtigter Vater gegenüber : Es gebe die Ansicht (so lautete damals die Formel, sie drückte einen kategorischen Befehl aus), man solle den Geldanteil des Preises der Gesellschaft für die Finnisch-Russische Freundschaft spenden. So stürzten also all unsere Anschaungspläne mit einem Mal zusammen. Ja, und nicht nur diese : Wir hatten geplant, einige Tage in Finnland zu bleiben und durchs Land zu fahren. Aber, da man nun Vater das Geld weggenommen hatte, erklärte er entschieden : Morgen fahren wir nach Hause ! Und so waren wir in Helsinki gerade drei Tage geblieben. Noch zu Hause in Moskau, als Vater eben erklärte, dass er mich mit nach Finnland nehmen würde, ngen mein Bräutigam, mein Bruder und alle unsere gemeinsamen Freunde an, mich um Mitbringsel zu bitten. Alle wollten dasselbe : Kaugummi und Waldmesser. Gleich als wir in Helsinki ankamen, gab Vater mir Geld zum Einkauf von Souvenirs, aber für welche, ausgerechnet, wusste er freilich nicht. Ich begann mit dem Kaugummi, den man in der Eingangshalle unseres Hotels kaufen konnte. Diese Anschaung hatte eine etwas unerwartete Folge. So ein Typ, oenbar aus der Botschaft, sagte zu Vater : Dmitri Dmitriewitsch, wissen Sie, dass Ihre Tochter den Kaugummiautomaten benutzt hat ? Ich bitte Sie, Ihre Tochter zu davor zu warnen, irgendwo oder bei irgendeiner Gelegenheit Kaugummi zu kauen, das gilt hier als vollkommen unanständig. Die Waldmesser kaufte ich vor der Rückfahrt nach Moskau in irgendeinem Souvenirladen. Als ich begann, meine Sachen zu packen, kam Vater ins Zimmer und erblickte am Boden meines Koers fünf eben solche Messer. Als vorsichtiger und gesetzestreuer Mensch geriet er in Angst : Was hast Du da gekauft ?! Denk daran, dass im Zollgesetz steht : keine Waen. Und hier kalte Waen ! Man wird uns an der Grenze festnehmen ! Dennoch gelang es mir, ihn zu beruhigen, indem ich erklärte, es handle sich um hiesige Souvenirs. Auÿerdem versprach ich ihm, die Messer wegzuwerfen, falls sie die Aufmerksamkeit des Zolls erregen sollten. Doch alles ging gut, unser Gepäck kam ohne jede Kontrolle durch. 73 Im Unterschied zu anderen Sowjetbürgern fuhr Schostakowitsch überhaupt nicht gern ins Ausland. Vor allem deswegen, weil er weder die Möglichkeit noch das Recht hatte, seine wahren Gedanken und Gefühle oenzulegen. Er wusste, dass beharrliche Journalisten ganz sicher damit anfangen würden, ihm provozierende Fragen zu stellen. Und schlieÿlich war es demütigend für ihn als international Prominentem, sich im Ausland ohne genügende Geldmittel aufzuhalten Geld aber bekam Vater, wie alle unsere Landsleute, so gut wie keines. Ich erinnere mich noch an eine bezeichnende Geschichte, die im Jahr 1950 passierte. Schostakowitsch war nach Deutschland eingeladen worden, wo eine Feier zum zweihundertsten Todestag Bachs stattfand. Dort nun kam eine Gruppe angesehener Musiker auf ihn zu, die ihm einen riesigen Bildband zum Kauf anboten, der für einen wohltätigen Zweck veröentlicht worden war. Der Preis war unverhältnismäÿig hoch, da der Erlös aus dem Verkauf der Jubiläumsausgabe der Hilfe für betagte und kranke Orchestermusiker zugute kommen sollte. Den Kauf abzulehnen, war Schostakowitsch peinlich, so nahm er den Bildband und sagte, er werde das Geld später übergeben. Wonach er sich in die sowjetische Botschaft begab, bei irgendjemandem die geforderte Summe auslieh und sich auf diese Weise aus der unangenehmen Lage befreite. Wie ich mich erinnere, hatte er bei seiner Rückkehr nach Moskau ein Gespräch in einer hohen Dienststelle, vielleicht sogar mit Molotow selbst. Vater erklärte, dass er weitere Auslandsreisen kategorisch ablehne, da er nicht sicher sein könne vor der Wiederholung ähnlicher Situationen, die seinen Namen, ja den unseres Landes, in Verruf brächten. Michail Ardow Sowjetische Beamte sahen Künstlerpersönlichkeiten streng auf die Finger, damit diese sich nicht bereichern, das heiÿt, eine Entlohnung für ihre Arbeit erhalten konnten. Besonders streng limitiert waren Einkünfte von Künstlern, die zu Gastspielen ins Ausland gefahren waren. Geld, das ihnen zustand, eignete sich der Staat fast zur Gänze an. Jeder sowjetische Bürger, der sich im Ausland aufhielt und ein Honorar bezog für eine Auührung, eine Vorlesung oder eine Publikation in der Presse war verpichtet, in der sowjetischen Botschaft achtzig Prozent der erarbeiteten Summe abzugeben. Man erzählt, dass sich Mstislaw Rostropowitsch nicht lange nach seiner Emigration in der westdeutschen Hauptstadt Bonn aufhielt. Dort hatte er die Gelegenheit, in irgendeinem Klub aufzutreten, wo man ihm zusammen mit dem Honorar eine groÿe Kristallvase überreichte. Gleich nach dem Konzert fuhr der groÿe Musiker in die sowjetische Botschaft. Er betrat die Empfangshalle und schmiss dort mit aller Kraft die kostbare Vase auf den Boden, so dass sie in tausend kleine Splitter zerbarst. Nachdem er ungefähr ein Fünftel der Kristallsplitter aufgesammelt hatte, wies Rostropowitsch die überraschten Diplomaten auf die verbliebenen Stückchen hin : Und das da ist für Sie. Nehmen Sie, bitte. 74 39 Briefe, Propaganda Galina Gehst Du mit dem Hund raus ? Wirf bitte die Briefe ein, bittet Vater. Er schrieb sehr viele Briefe. Jeden Tag häufte sich auf seinem Tisch ein Stapel von Kuverts und Postkarten an. Er beschriftete sie nicht sowjetisch-nachlässig den Familiennamen zuerst und dann die Initialen des Adressaten , sondern so, wie es sich im alten Russland gehört hatte, respektvoll Vor- und Vatersname ausgeschrieben, und erst dann den Familiennamen. Fast alle Briefe Schostakowitschs sind kurz und sachlich. Manchmal allerdings, an seine engsten Freunde, schrieb er auch ausführlicher und, ich würde sagen, emotionaler. Aber auch in diesen Fällen war das mehr Ironie als Lyrik : Vater war ein auÿerordentlich reservierter, Unbekannten gegenüber absolut verschlossener Mensch. Eine gute Vorstellung von seinem Brief-Nachlass vermittelt das Buch Story of 1 a friendship . Darin ist veröentlicht, was Isaak Davidowitsch Glikman in seinem Archiv aufbewahrt hat, und er war ja vertraut mit Schostakowitsch über mehr als vier Jahrzehnte. Dort gibt es, neben einer Menge kurzer Notizen, sehr wesentliche Briefe, die Gedanken und Gefühle des Autors einen Spaltbreit oen legen. Nicht von ungefähr habe ich die Formulierung einen Spaltbreit oen legen gebraucht. Die Menschen der Generation meines Vaters wussten : der Schriftverkehr geht durch die Zensur. Letzterer Umstand zwang Schostakowitsch, Zuucht zu einer äsopischen Sprache zu nehmen, und das, muss man zugeben, machte er virtuos. Der Stil einiger seiner Briefe ist den Erzählungen Michail Soschtschenkos verwandt, dessen Freund und Bewunderer unser Vater war. Und noch etwas gibt es da. Der Briefwechsel mit Glikman gibt eine erschöpfende Antwort auf die Frage : welche Beziehung hatte Schostakowitsch wirklich zur Sowjetmacht, zu all ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren äuÿerst geschmacklosen Erscheinungsformen. Aus den Briefen D. Sch.'s an Isaak Glikman Im Verband der Sowjetkomponisten sollte ihre Begutachtung stattnden (der zweiten Symphonie G. Sch.), die aber wegen meiner Erkrankung verschoben wurde. Jetzt ndet diese Begutachtung aber statt, und ich bezweie nicht, dass dabei wertvolle kritische Anmerkungen vorgebracht werden, die mich inspirieren werden für ein künftiges Schaffen, in dem ich mein vorheriges Schaen revidiere, und mit einem Schritt zurück werde ich einen Schritt vorwärts machen. (8. Dezember 1943) Mein Magen hat aufgehört, seine Verpichtung zur guten Verdauung der Nahrung ernstzunehmen. (6. Mai 1953) Ganze Tage verbringe ich auf dem Komponisten-Kongress. An den Abenden bin ich bei den feierlichen Premieren der neuerschienenen musikalischen Werke. Aber nicht immer werden mir diese Feste auch zu Festen. (19. Dezember 1968) 1 vgl. S. 7, Anmerkung 1 75 Vom ästhetischen Eindruck her möchte ich eine Schallplatte mit Zigeuner-Gesang hervorheben. Der ist groÿartig, wenn auch sehr traurig. < . . . > Die Sängerin Wolschaninowa singt und ein Zigeunerchor. < . . . > Die Tränen ieÿen, wenn ich sie höre, und der Wunsch nach Essen und Trinken taucht auf. (30. August 1967) 29. XII. 1957. Odessa. Lieber Isaak Davidowitsch ! Ich bin nach Odessa gefahren zum Volksfeiertag für vierzig Jahre sowjetische Ukraine. Heute morgen ging ich auf die Straÿe. Du verstehst sicher, dass man an einem solchen Tag nicht zu Hause sitzen kann. Ungeachtet des trüben und nebligen Wetters war ganz Odessa auf den Beinen. Überall Portraits von Marx, Engels, Lenin, Stalin, aber auch solche von A. I. Beljaew, L. I. Breschnew, N. A. Bulganin, K. E. Woroschilow, N. G. Ignatow, A. I. Kirilenko, F. P. Koslow, O. W. Kuusinen, A. I. Mikojan, N. A. Muchitdinow, M. A. Suslow, E. A. Furzewa, N. S. Chruschtschow, N. M. Schwernik, A. A. Aristow, P. N. Pospelow, J. E. Kalnbersin, A. P. Kirilenko, A. N. Kosygin, K. T. Masurow, W. P. Mschawanadse, M. G. Perwuchin, N. T. Kaltschenko. Überall Flaggen, Losungen, Transparente. Ringsherum frohe, freudestrahlende, russische, ukrainische, jüdische Gesichter. Hier wie dort hört man die Willkommensrufe zu Ehren des Banners von Marx, Engels, Lenin, Stalin, aber auch zu Ehren von A. I. Beljaew, L. I. Breschnew, N. A. Bulganin, K. E. Woroschilow, N. G. Ignatow, A. I. Kirilenko, F. P. Koslow, O. W. Kuusinen, A. I. Mikojan, N. A. Muchitdinow, M. A. Suslow, E. A. Furzewa, N. S. Chruschtschow, N. M. Schwernik, A. A. Aristow, P. N. Pospelow, J. E. Kalnbersin, A. P. Kirilenko, A. N. Kosygin, K. T. Masurow, W. P. Mschawanadse, M. G. Perwuchin, N. T. Kaltschenko, D. S. Korotschenko. Überall ist russische und ukrainische Sprache zu hören. Manchmal hört man auch ausländische Sprachen von den Vertretern der fortschrittlichen Menschheit, die nach Odessa gekommen sind, um den Odessiten zum groÿen Feiertag zu gratulieren. Ich ging umher und, auÿer Stande meine Freude zurückzuhalten, kehrte ich ins Hotel zurück und beschloss, den Volksfeiertag in Odessa zu schildern, wie ich nur konnte. Urteile nicht streng. Ich umarme dich fest. D. Schostakowitsch Michail Ardow Die ozielle sowjetische Propaganda wirkte immer wie eine Parodie, da sie primitiv war und auf eine herausfordernde Art geschmacklos. Folgende Episode fällt mir ein : Im Jahr 56 oder 57 begeisterten mein Bruder Boris und ich uns für eine gewisse Idee. Da verfassen wir Parolen in Versform . . . der Bruder schreibt sie auf Whatman-Papier . . . wir machen uns mit einer Drahtaufhängung zu schaen . . . wir laufen in die Pjatnitzkaja-Straÿe zu einem Buchladen und kaufen dort politische Broschüren . . . Und das Klo in der Wohnung an der Ordynka verwandelt sich. Ein Gestell mit Broschüren erscheint da, ein Lautsprecher hängt an der Wand, der unaufhörlich etwas von unsere Errungenschaften vor sich hin brummt . . . und farbenprächtige Parolen gibt es : 76 Verwandeln wir unsere Klos in Wohnungen der Hauptabteilung für politische Bildung ! Wenn ihr die Not hier erledigt (physiologisch) vergesst nicht die Feindschaft (sozialpolitisch) ! Es gab viel Gelächter, aber das alles existierte nur für ein paar Stunden. Unsere Eltern und Achmatowa hatten erfahren, dass Witze nicht ungefährlich waren, und so wurde das Klo in der Ordynka wieder ein ganz prosaischer Ort. Aber ich komme zurück auf den Brief Schostakowitschs aus Odessa. Er bezeugt seine auÿergewöhnliche satirische Begabung, nicht von ungefähr liebte er Soschtschenko so sehr. Nicht von ungefähr auch schuf Dmitri Dmitriewitsch gegen Ende seines Lebens den glänzenden Zyklus von Satiren nach Versen von Sascha Tschorny. Ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, einen nicht weniger aufschlussreichen Text hier anzuführen er wirkt ebenso parodistisch, wie der Brief Dmitri Schostakowitschs an Glikman. Aber o weh das, was ich jetzt zitiere, wurde ganz im Ernst geschrieben, in der Honung darauf, sowjetische Beamte würden den patriotischen Eifer des Autors würdigen. Ich biete dem Leser an, Einsicht zu nehmen in ein Postskriptum, das der Komponist Wano Muradeli irgendwann handschriftlich auf der letzten Seite seiner Oper Die groÿe Freundschaft eingetragen hat. Ein Exemplar mit diesem Autograph birgt die Bibliothek des Komponistenverbandes und eben dort entdeckte es Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch. Von ihm gelangte der Text zu Maxim Schostakowitsch, und der übergab ihn mir. Weitere Kommentare halte ich für überüssig. Hier also, was Muradeli ohne eine Spur von Ironie schrieb : Soweit es die Bühnenmöglichkeiten erlauben, wäre wünschenswert : dass nach der Salve `Aurora' auf der Bühne Blumengärten sich auftäten als ein Symbol des glücklichen und blühenden sowjetischen Volkes unserer Tage; dass hinter diesen Blumengärten das groÿe sowjetische Volk sich erhöbe : Pioniere in roten Halstüchern, Arbeiter und Arbeiterinnen, Kommunisten und Komsomolzen, die ganze sowjetische Jugend, die heldenmütigen Krieger der sowjetischen Armee und der Seekriegsotte, die ruhmreichen Ackerbauern unseres Landes, die furchtlosen Kosmonauten und die weisen Gelehrten; dass sich hinter ihnen mit breitem Rücken fruchtbare Kolchosen-Felder ausbreiteten; dass wie Meeresbrandung der Neuland-Weizen rauschte; dass sich die erhabenen Bauwerke des Kommunismus erhöben; dass sich das ganze sowjetische Volk mit seiner machtvollen Stimme vereinte im Ausruf der Helden des Oktober; dass sie zusammen, in gemeinsamem Chor, hingerissen, die Schlussworte der Oper sängen: Unser lichter Glaube ist fest Unser Glück ein Glück für die Ewigkeit Das ist der groÿe Weg des Bolschewisten ! Voran ! Voran ! Voran !!! 77 Die Worte Voran ! Voran ! Voran !!! sollten nicht nur klingen wie der Aufruf zum Sturm auf das Winterpalais, sie sollten klingen wie ein Ausruf aller Völker des sowjetischen Landes, wie ein Ausruf der heimatlichen Kommunistischen Partei immer voran und voran zu gehen zu den lichten Gipfeln des Kommunismus ! Wano Muradeli 78 40 Wodka Galina Unser Vater war kein Feind von Flaschen, all seine Freunde und Bekannten wussten, dass er gerne Wodka trank. Als das chruschtschow'sche Tauwetter begann, ngen die Musiker an, zu Gastspielen ins Ausland zu reisen. Irgendjemand brachte von dort Spirituosen als Geschenk für Schostakowitsch mit. In diesem Zusammenhang fällt mir die folgende Szene ein. Vater sitzt am Tisch, vor ihm eine ausländische Flasche mit einem Schraubverschluss. Für uns war das eine 1 Neuheit : Der Inlandswodka wurde zu diesen Zeiten mit einer Beskosyrka verschlos- sen, einem weichen Metallstückchen, das man immer sofort wegwarf. Und da erinnere ich mich, wie Vater sagt : Ihre Flaschen haben Schraubverschlüsse, weil bei ihnen eine Flasche ein Gegenstand für den Langzeitgebrauch ist. Unsere Halbliteraschen aber sind Einweggegenstände, wenn du sie einmal aufgemacht hast, brauchst du sie nicht mehr zumachen. Auch benutzte er öfter das in Russland bekannte Sprichwort : Wodka ist nur gut oder sehr gut. Schlechten Wodka gibt es nicht. Ein Brief D. Sch.'s an I. D. Glikman 25. III. 1974. Schukowka. Lieber Isaak Davidowitsch ! Ich schicke dir hiermit das Etikett einer Flasche `Extra'-Wodka. Der Pfeil, den ich auf das Etikett gezeichnet habe, weist auf das Qualitätssiegel hin. Kenner sagen, dass, wenn das Etikett obengenanntes Siegel enthält, das auf die hohe Qualität des Wodka `Extra' hindeutet. Deswegen rate ich Dir : Wenn Du `Extra' kaufst, achte auf Vorhandensein oder Fehlen des Qualitätssiegels. Glück und Gesundheit. Herzlichen Gruÿ von unserer Vera Wassiljewna 1 Bordmütze für Matrosen 79 41 Uhren Galina Ich stehe in unserem Esszimmer, vor mir die geönete Türe einer groÿen Uhr. Der Radioempfänger wird gleich einen spezischen Piepton senden exakte Zeitsignale, und genau in dem Augenblick muss ich das Pendel anstossen. Vater aber wird genau dieselbe Handlung in seinem Zimmer ausführen. Er liebte Uhren aller Art sehr, in jedem Zimmer gab es bei uns welche. Allerdings schlug nur die, die im Esszimmer auf dem Boden stand, und die in seinem Zimmer auf dem Tisch. Und da war Vater darauf aus, dass ihr Schlag gleichzeitig erklang, aus genau diesem Grund ngen wir zusammen die exakten Zeitsignale ab. 80 42 Filmmusik Galina Im Telefonhörer knackt und knistert es, und Vaters Stimme ist sehr schlecht zu hören. Er ruft von der Datscha aus an, aus Bolschewo, und von dort war die Verbindung immer sehr schlecht. Ich halte ein Blatt Papier in der Hand und diktiere : Ein Brand drei Minuten fünfzehn Sekunden . . . Nächtliche Straÿe vier Minuten genau . . . Regen vor dem Fenster zwei Minuten dreiÿig Sekunden . . . Vater schrieb nicht gern Filmmusik, aber leider war er dazu während seines ganzen Lebens gezwungen : das war immerhin eine recht annehmbare und anständige Art des Einkommens. Der Film brachte bei weitem mehr Geld ein, als jedes symphonische Werk. Ja, und auÿerdem waren das die Zeiten, in denen es verboten war, seine Bühnenwerke aufzuführen. In einer dieser Perioden schrieb Vater an Isaak Glikman : Im letzten Jahr habe ich viel Filmmusik geschrieben. Das gibt mir den Lebensunterhalt, aber es ist auch lästig bis zum Äuÿersten. Wenn er den nächsten Filmmusik-Auftrag annahm, bekam Vater so etwas ähnliches wie einen Arbeitsplan. Darin waren die Episoden des Films mit ihrer Zeitdauer aufgezählt. Diesmal nun fuhr er nach Bolschewo, aber das Blatt mit dem Plan war in Moskau geblieben. Er musste also zu Hause anrufen, ich fand auf seinem Tisch das Papier und diktierte : Hast Du's ? Ein Trolleybus auf der Moskauer Straÿe sechs Minuten . . . Weiÿe Stille drei Minuten . . . Diese weiÿe Stille fand Vater besonders lustig. Er sagte : Wie soll ich nach eurer Anweisung ein Stück weiÿe Stille vertonen ? 81 43 Rauchen Galina Vater kommt in Maxims Zimmer : Du musst Zigaretten haben. Was für Zigaretten ? sagt mein Bruder verlegen. Ich weiÿ, dass Du Zigaretten hast. Du rauchst. Wie kommst Du darauf ? . . . Gib mir was zu rauchen, bringt Vater es auf den Punkt. Er rauchte sein ganzes Leben lang, seine Lieblingsmarke war Kasbek, aber manchmal vergaÿ er, sie in ausreichender Menge zu kaufen. Obwohl er in gewissen Fällen ganz vorsorglich war. Zum Beispiel, als er 1949 nach Amerika reiste, da war sein Koer zur Hälfte voller Kasbek-Päckchen. Als Maxim gröÿer wurde, konnte er auch nicht ohne Tabak auskommen. Das war entweder in seinem letzten Schuljahr oder bereits auf dem Konservatorium. Vor dem Vater zu rauchen, genierte er sich noch, der aber machte seinerseits den Eindruck, als ob er davon nichts ahnte. An diesem Tag waren Vater die Zigaretten ausgegangen, und er machte sich in das Zimmer des Sohnes auf. Maxim beschloss, es zuzugeben und seinen Vater mit Zigaretten zu bewirten. Obwohl unser Vater ziemlich viel rauchte, konnte er volle Aschenbecher nicht ertragen : wenn er da auch nur zwei Zigarettenstummel sah, warf er sie sofort weg. 82 44 Drohende Provinz Galina Vater geht nervös im Zimmer umher. Man wird dich wer weiÿ wohin 1 schicken ! sagt er zu mir. Nach Tmutarakan , in den Fernen Osten. Wenn du Sängerin wärst, könnte ich dich ja hier irgendwo unterbringen. Warum hat es dich überhaupt auf die biologische Fakultät verschlagen ?! Das Gespräch fand im Frühjahr 1959 statt. Ich hatte die Universität beendet und die sogenannte Zuweisung stand mir bevor. Wer keine Möglichkeit hatte, bei einer Arbeit in Moskau unterzukommen und dafür in der Fakultät eine entsprechende Bescheinigung vorzulegen, musste in die tiefe Provinz gehen und Biologielehrer an irgendeiner entlegenen Mittelschule werden. Vater war auf eine solche Wendung der Ereignisse nicht vorbereitet, ja und ich, ehrlich gesagt, wollte nicht unbedingt von zu Hause weggehen. Wir ngen an, uns zu besinnen, wer von unseren Verwandten und Bekannten irgendetwas mit Biologie oder Medizin zu tun hatte. Wir mussten nicht lange überlegen : der Mann meiner Tante, Vaters leiblicher Schwester, Grigori Konstantinowitsch Chruschtschow, hatte den Lehrstuhl Histologie am Zweiten Medizinischen Institut inne. Dort wurde zu dieser Zeit gerade das Zentrale Wissenschaftliche Forschungslabor erönet, wo ich eine Arbeitsstelle antreten konnte. 1 antike Stadt an der Straÿe von Kertsch, heute synonym für entfernte oder obskure Provinz 83 45 Datschas, Valuten Galina Schostakowitsch betritt entschlossenen Schrittes das Haus und begibt sich sofort ins Badezimmer. Er probiert den Wasserhahn Wasser ieÿt ins Waschbecken. Er schaut in die Toilette, zieht an der Kette Wasser rauscht in die Toilettenschüssel. Danach erklärt Vater : Die Datscha kaufe ich ! Die übrigen Räume schaute er gar nicht an, er ging nicht in den ersten Stock und begutachtete weder Dach noch Keller. Nur eines interessierte ihn : die Wasserversorgung ! So wurde im Jahr 1960 das Haus in Schukowka erworben, wo er viele Jahre leben sollte. Vorher gab es die Datscha in Bolschewo, die man Schostakowitsch auf persönliche Anweisung Stalins hin zur Verfügung gestellt hatte. Das war ein unansehnliches Holzhaus, aber Vater liebte es er konnte sich dort zurückziehen. Nur eines plagte ihn in Bolschewo : Probleme mit dem Wasser. Trinkwasser brachte man sowieso von weiter her, man grub zwar Brunnen neben dem Haus, aber all das blieb irgendwie erfolglos. Und Vater war ein Reinheitsfanatiker, dauernd wusch er sich die Hände. Zum Wasser hatte er besondere Beziehungen. Und da bot man ihm nun an, die Datscha in Schukowa zu kaufen, in einer Siedlung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Man musste Vater hier vergelten, was man seiner Gewissenhaftigkeit schuldig war. Indem er die von Stalin geschenkte Datscha in Bolschewo verkaufte, gab er sie an den Staat zurück. Dazu war für das neue Haus eine überaus bedeutende Summe zu zahlen. Zu Sowjetzeiten hatten diejenigen Komponisten, deren Werke im Ausland aufgeführt wurden, Konten in ausländischer Währung, auf die sie die wenigen Prozente ihrer dort verdienten und ihnen weggenommenen Honorare überwiesen. Man erlaubte einem Valuten-Komponisten, für eine Auslandsreise ein wenig Geld von seinem Konto abzuheben. Aber das geschah widerwillig und nur nach einer Entscheidung der höheren Dienststelle. Ein solches Konto hatte auch Schostakowitsch. Und da, um die Datscha in Schukowka rechtzeitig zu bezahlen, war Vater gezwungen, seine ganzen Valuten in Rubel zu tauschen. Der Staat bereicherte sich dabei, insofern der Umtausch zum räuberischen oziellen Kurs erfolgte. Darüberhinaus hatte die Finanzaktion auch noch unerwartete Folgen. Chatschaturjan rief Vater an und sagte : Was hast du da gemacht ?! In was für eine Lage hast du uns alle gebracht ?! Man sagt uns : Schostakowitsch ist ein Patriot, er hat seine ganzen Valuten in Rubel getauscht. Jetzt sollen wir alle deinem Beispiel folgen. Nun, Sowjetgeld hättest du dir jedenfalls von mir leihen können. Ja, jeder von uns hätte dir welches geliehen ! . . . Ein Leser der Gegenwart könnte den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte in Zweifel ziehen. Aber Vater verbrachte sein ganzes bewusstes Leben unter der Sowjetmacht und war gezwungen, Erniedrigungen gleichsam auf Schritt und Tritt zu ertragen. Noch kurz vor seinem Tod, in den siebziger Jahren, die turnusmäÿige triumphale Auslandsreise stand bevor, unternahm er den Versuch, eine bedeutende Summe von seinem Valutenkonto abzuheben er wollte sich ein ausländisches Auto kaufen, anscheinend einen Mercedes. Die Dienststelle erlaubte es ihm nicht : Bei uns in der Sowjetunion werden absolut 1 hochwertige Autos hergestellt : Wolgas ! . . . 1 eine bis 2010 produzierte russische, vormals sowjetische Automarke 84 46 Nachwuchs Aus den Erinnerungen Olga Grudzowas1 an K. I. Tschukowski Um sieben Uhr morgens tauchte über der Balkonbrüstung im ersten Stock der Kopf des Enkels Genia auf. Genia Groÿvater, mir wurde ein Sohn geboren. Kornei Iwanowitsch Glückwunsch ! Wieviel ? Genia Fünfzig. In der Windel. Kornei Iwanowitsch Gut. Bekommst du. Nur von meinem Blut sind da weniger Prozent drin als von Dmitri Dmitriewitsch. Ich bin Urgroÿvater und er Groÿvater. Sag ihm, dass er sich damit ganz schön Sorgen aufgeladen hat. Genia Gut. Kornei Iwanowitsch Man muss Galia Rosen schicken. Genia Der alte Nilin schläft noch, ich gehe sie bei ihm im Garten pücken . . . Der Kopf verschwand. Nach einiger Zeit brachte man den Kleinen. Kornei Iwanowitsch betrachtete ihn lange staunend. Und als alle gegangen waren, sagte er wehmütig : Sie werden geboren, um zu sterben, sie sterben, um geboren zu werden . . . in diesem Zimmer starb Maria Borisowa, und hierher hat man jetzt einen Neugeborenen gebracht . . . Galina Los, eine Schüssel her . . . 2 Nicht so eine, eine gröÿere, kommandiert Galina Pawlowna Wischnewskaja . Wir brauchen einen ganzen Eimer heiÿes Wasser . . . So ging das erste Baden meines ältesten Sohnes Andrei vor sich, das war im Sommer des Jahres 1960. Aus dem Geburtshaus brachte man uns direkt auf die Datscha in Schukowka. In unserer Familie kannte sich niemand im Umgang mit Neugeborenen aus. Mama war schon lange tot, die Haushälterin Fedja war eine alte Jungfer. Ich stillte das Kind, wickelte es. Und ständig interessierte sich Vater : Wann werden wir den Enkel baden ? Um ehrlich zu sein, ich fürchtete mich etwas davor, und da machte sich Vater zu Rostropowitschs auf und brachte Galina Pawlowna mit eine resolute Dame und überdies auch Mutter zweier Töchter. 1 Olga M. Grudzowa (1905 - 1982), russische Literaturwissenschaftlerin 2 Galina Pawlowna Wischnewskaja (1926 - 2012), russische Sopranistin, Ehefrau Mstislaw Rostropowitschs 85 47 Presse Galina Ich nehme den Telefonhörer ab und höre eine Männerstimme : Guten Tag. Sie sprechen mit der Zeitung Sowjetkultur. Kann ich Dmitri Dmitriewitsch ans Telefon bitten ? Er ist jetzt nicht in Moskau, antworte ich. Und wann kommt er zurück ? Das wissen wir leider noch nicht. Solche Gespräche gab es mehr oder weniger regelmäÿig. Über dem Telefonapparat hing eine von Vaters Hand geschriebene Liste, die mit dem Punkt Alle Zeitungen und Zeitschriften begann. Des Weiteren waren dort noch einige Institutionen eingetragen, aber dann auch konkrete Personen. Der Sinn dieser Aufzählung war nur den Hausgenossen bekannt : auf gar keinen Fall durften wir Vater ans Telefon rufen, wenn Leute anriefen, die auf der Liste standen, oder Vertreter von dort aufgeführten Organisationen. Journalisten gegenüber empfand Schostakowitsch eine besondere Feindseligkeit. Er hielt sie, und das nicht ohne Grund, für ungezogene, ungebildete Menschen, die in der Lage waren, ihm taktlose Fragen zu stellen. Maxim Einige Journalisten streiten bis heute eine kränkende Haltung Schostakowitsch gegenüber ab : sie meinen, Vater hätte sie ohne ersichtlichen Grund nicht gemocht. Diese Leute machen sich nicht die Mühe zu verstehen, in welcher Lage Schostakowitsch sein Leben verbrachte. Er und seine ganze Familie, im wesentlichen gesprochen, waren Geiseln eines verbrecherischen und erbarmungslosen Regimes. Und unser Vater war gezwungen, jedes seiner Worte im Hinblick auf die herrschsüchtigen Peiniger zu formulieren. 86 48 Hilfe für andere Galina Ich erinnere mich an Vaters Klagen : Wenn ich nur das Recht hätte, wenigstens über zwei Wohnungen im Jahr zu verfügen . . . aber so womit kann ich bedürftigen Menschen helfen ? Viele Jahre lang war Schostakowitsch Abgeordneter des Oberen Sowjet der Russischen Föderation und erfüllte strikt alle damit verbundenen Verpichtungen : er war bei den Sitzungen dabei, er fuhr eigens nach Leningrad, um die Aufnahme der Stimmberechtigten zu leiten . . . aber irgendeine wirkliche Macht hatten die damaligen Abgeordneten nicht und konnten sie auch nicht haben. Weswegen Vater, ein in hohem Grade verantwortungsbewusster Mensch, dem fremder Kummer nahe ging, sich von dem Abgeordnetenamt bedrückt fühlte. Die Angelegenheiten, mit denen man sich an ihn wandte, waren von zweierlei Art : Wohnungsprobleme und solche, die mit Repressalien zusammenhingen. In diesen Fällen war Vater besonders bestrebt, den Leuten zu helfen. Michail Ardow Gegen Ende des Jahres 1963 begann die Verfolgung Joseph Brodskys durch die Behörden. Unter denen, die besonders leidenschaftlich mit dem in Ungnade gefallenen Dichter mitfühlten, war die Achmatowa, und sie beschloss, Schostakowitsch um Hilfe zu bitten. Dazu lud man diesen in die Wohnung meiner Eltern in die Ordynka ein, in der auch die Achmatowa normalerweise wohnte, wenn sie nach Moskau fuhr. Am Morgen sagte Anna Andrejewna nach dem Frühstück : Das ist alles gut, aber ich weiÿ nicht, worüber man mit Schostakowitsch sprechen muss . . . Und Maxim erzählte uns, dass Dmitri Dmitriewitsch auf dem Weg in die Ordynka sagte : Das ist alles gut, aber worüber werde ich mit der Achmatowa sprechen ? . . . Nichtsdestoweniger waren beide miteinander zufrieden, allgemeine Themen fanden sich. Ich erinnere mich, dass Schostakowitsch Brodsky half und über dessen Schicksal mit dem damaligen Leningrader Hauptvorsitzenden W. S. Tolstikow sprach. Aber o weh Nutzen brachte es keinen. Joseph wurde verhaftet und verurteilt. Hierbei ist zu sagen, dass Anna Andrejewna eine glühende Anhängerin Schostakowitschs war, dafür gibt es ein schriftliches Zeugnis. Am 22. Dezember 1958 trug sie in ihr Gedichtbuch : Für Dmitri Dmitriewitsch Schostakowitsch, in dessen Epoche ich auf Erden lebe. Anna Achmatowa D. D. S. Etwas Wundertätiges strahlt in ihr Und in ihren Augen facettieren sich die Ränder. Sie allein spricht mit mir, Wenn die anderen sich fürchten, herzukommen. Als der letzte Freund die Augen abwandte, War sie mit mir in meinem Grab Und sang, so wie ein erstes Gewitter Oder auch alle Blüten zu sprechen anfangen. 87 49 Einsatz für Kollegen Maxim Dmitri Dmitriewitsch, Sie brauchen doch nur den Hörer abzunehmen, sagt eine Besucherin schmeichelnd. Schostakowitsch schaut sie gequält an. Vater konnte diese Phrase vom Hörer nicht ertragen, aber er bekam sie regelmäÿig zu hören. Sehr viele Bittsteller nahmen fälschlicherweise an, dass Schostakowitsch bei seiner Popularität allmächtig sein müsse. Es genüge, wenn er einen hohen Vorgesetzten um irgendetwas bäte, und jede beliebige Sache würde positiv beschieden werden. Die Dame, an die ich mich hier erinnere, war die Witwe des Komponisten W., die sehr besorgt war um das ewige Andenken an ihren Mann. Ihrer Meinung nach sollte ein einziger Anruf Schostakowitschs ausreichen, damit W.s Musik von nun an in Konzerten aufgeführt und im Radio zu hören sein würde. Unser Vater nahm sowohl den Hörer oft in die Hand, als er auch Briefe unterzeichnete, aber der Witwe war das alles zu wenig. In irgendeinem folgenden Gespräch klagte Madame W. : Mein Mann ist gestorben, und keiner ist bei mir geblieben . . . Hier sagte Schostakowitsch rundheraus : Ja, ja . . . und da hat nun Johann Sebastian Bach zweimal zehn Kinder gehabt. Und alle haben sie sich um die Verbreitung seiner Musik gekümmert. So ist es , el die Witwe ein. Bis jetzt werden sie aufgeführt ! Aber ich bin doch allein, ganz allein ! . . . Ich erinnere mich, wie sich Vater nach dem folgenden Gespräch mit dieser aufdringlichen Dame an uns Familienangehörige wandte : Bitte, wenn ich sterbe, kümmert euch nicht um meine Unsterblichkeit. Kümmert euch nicht darum, dass meine Musik gespielt wird. Galina Aber dabei setzte er sich sein ganzes Leben lang für die Musik sei- ner Studenten und Kollegen ein. In Zeitschriften und Archiven kann man eine ganze Menge seiner Briefe lesen mit lobenden Äuÿerungen über die Werke von Prokofjew, Chatschaturjan, Swiridow, Karajew, Weinberg, Ustwolskaja, Tischtschenko, Denissow 1 und anderen. Und all das war vollkommen aufrichtig geschrieben seines Feingefühls und seiner Höichkeit ungeachtet verbog sich Schostakowitsch innerlich in Meinungen über Musik niemals. Boris Chaikin S. S. Prokofjew erzählte das im Jahr 1948 : Nach der Premiere seines Balletts Cinderella erschien in einer der wichtigsten Zeitungen eine Rezension, die Schostakowitsch geschrieben hatte. Prokofjew ruft Schostakowitsch an und bedankt sich für die freundliche Besprechung. Schostakowitsch antwortet : Sergei Sergejewitsch, Sie bedanken sich zu Unrecht. Ich habe nicht nur gelobt. Ich habe mich auch missbilligend über etwas geäuÿert, aber die Redaktion hat es irgendwie nicht veröentlicht . . . Maxim Sehr hoch schätzte Vater das Talent seines Freundes Matwei Blanter ein, Moti, wie ihn alle seine Freunde nannten. Deswegen bekam ich sogar einmal Schwierigkeiten. Bei uns in der Schule eine sogenannte Nacherzählung zu schreiben. Und darin kam eine Person mit Namen Matwei vor. Ja, und ich schrieb immerzu Motwei. Die Lehrerin 1 Edisson Wassiljewitsch Denissow (1929 - 1996), sowjetisch-russischer Komponist und Musiktheoretiker 88 fragt : Warum schreibst du Motwei und nicht Matwei ? Und ich sage ihr : Mein Vater hat einen Freund, Blanter, und den nennen alle Motja . . . Vaters Prinzipientreue erstreckte sich nicht nur auf Kollegen : schickten ihm doch die unterschiedlichsten Menschen, die Komponisten werden wollten, ihre Werke. Und er antwortete allen in wohlwollendem Tonfall. Allerdings weckte er niemals unbegründete Honungen. Da schickt ihm irgendein Mensch, der in einem Baukran arbeitet, ein selbstverfasstes Lied. Schostakowitsch schreibt : Sie haben so einen herrlichen Beruf : Sie bauen Wohnungen, und das brauchen die Menschen so dringend. Mein Rat an Sie : Fahren Sie fort in Ihrer nützlichen Tätigkeit. Na, und anderes in der Art . . . Aus einem Brief D. Sch.'s an Edisson Denissow Ich freue mich sehr, dass allerlei Fragen Sie umtreiben zur Kunst, die mir so teuer ist und ohne die ich wahrscheinlich keinen Tag leben könnte . . . Ein wirklicher Künstler liebt sein Schaen . . . Es wäre eine groÿe Sünde, wenn Sie Ihr Talent beerdigen würden. Natürlich müssen Sie viel lernen, wenn Sie Komponist werden wollen. Und nicht nur Handwerk, sondern auch viel anderes. Ein Komponist ist nicht schon der, der ganz gut eine Melodie und eine Begleitung zusammenstellen, einigermassen orchestrieren kann, usw.. Das, bitte, kann jeder musikalisch gebildete Mensch. Ein Komponist ist etwas weit gröÿeres. Und, bitte, was ein solcher Komponist ist, können Sie erfahren, indem Sie sehr gut dieses überaus reiche musikalische Erbe studieren, das uns von den groÿen Meistern hinterlassen wurde . . . Sie bitten um einen Rat bezüglich des Weiteren. Ihr unzweifelhaftes Talent lässt mich darauf bestehen, dass Sie Komponist werden sollten. Aber wenn Sie nur noch ein Jahr auf der Universität haben, so machen Sie das zu Ende. Der Weg eines Komponisten ist dornenreich (verzeihen Sie die etwas abgegriene Wendung). Am eigenen Leib habe ich es erfahren und erfahre es noch . . . Wenn Sie sich dafür entscheiden, dann veruchen Sie mich nicht in der Zukunft. Ich wiederhole : dornenreich ist der Weg eines Komponisten. Ich habe es erfahren und erfahre es noch am eigenen Leib. Aber bringen Sie die Universität unbedingt zu Ende . . . Maxim Keineswegs aus eigenem Willen bekleidete Schostakowitsch die Funktion des Leiters des russischen Komponistenverbandes. Da er es nun aber einmal innehatte, arbeitete er in diesem Amt nicht aus Angst, sondern gemäÿ seinem Gewissen, er nutzte die sich ihm erönenden Möglichkeiten, um begabten Menschen zu helfen. Sofia Chentowa 1 Verblüend war seine Objektivität, seine Unvoreingenommenheit. Obwohl er ein empndlicher Mensch war, erlaubte er sich als Leiter keinerlei persönliche Kränkungen. Jewgeni Dolmatowski 2 wurde Zeuge, wie ein Student Schostako- witsch, der ihn hoch gebracht hatte, undankbar, unschön behandelte, indem er mit sonderbarer Stimme und der nächsten Mode zuliebe gegen den Lehrer auftrat. Schostakowitsch war im tiefsten Inneren gekränkt, aber dann bei seinem Auftritt im Plenum rechtfertigte er sich nicht . . . Als er die Erfolge der Komponisten würdigte, erwähnte er bei 1 Soa M. Chentowa (* 1922), russische Musikwissenschaftlerin und Pianistin 2 Jewgeni Dolmatowski (1915-1994), sowjetischer Dichter 89 den Besten auch seinen Beleidiger. Das kränkte sogar mich selbst, erinnert sich Dolmatowski, und gleich bei der ersten Begegnung sagte ich ihm, dass er zu Unrecht einen Schuft gelobt hatte. Dmitri Dmitriewitsch kühlte meine Hitzigkeit ab : Er gehörte zu meinen besten Studenten, und ich habe nicht das Recht, meine Meinung über seine Begabung wegen einer Taktlosigkeit zu ändern. Zum Leiter der Komponisten-Organisation der RSFSR hat man mich deswegen gewählt, weil ich nicht mit anderen abrechnen kann. Und dann brachte er das Gespräch auf die witzige Ebene : Na, und natürlich deswegen, weil ich auch gar nicht leiten kann. Boris Tischtschenko Schostakowitsch erzählte, wie einer seiner Bekannten Musik für einen anderen schrieb, der verkaufen konnte und dann mit ihm teilen würde : Auf der Toilette, versteht ihr, übergab er Geld aus einer Tasche in eine andere Tasche, und dieser gab ihm Noten, damit es keiner sehen sollte. Ich sage : Wer ist der Halunke ? Ich werde ihn aus dem Verband ausschlieÿen ! Aber er weigert sich, mir seinen Namen zu nennen : Immerhin hat er mir etwas zum Verdienen gegeben . . . 90 50 Leben in Schukowka Galina Vater nimmt einen Stoÿ Karten in die Hand und beginnt sie auszuteilen. So, jetzt kein Herz ziehen, sagt er. Das ist in Schukowka, wir spielen King. Am Tisch sitzen auÿer Vater und uns unsere Nachbarn, das Mitglied der Akademie Nikolai Antonowitsch Dolleschal 1 und seine Frau Alexandra Grigorjewna. Karten gab es im Leben Schostakowitschs immer. King spielten wir schon, als Mutter noch lebte. Auÿerdem legte Vater sehr gerne Patiencen, das wirkte beruhigend auf ihn. Man muss sagen, dass bei uns immer um Geld gespielt wurde, bloÿes Klatschen mit den Karten ohne Gewinn und Verlust lieÿ Vater nicht gelten. Selbstverständlich, wenn ich verloren hatte, zahlte er für mich. Während der Jahre unseres Lebens in Schukowka kamen wir den Dolleschals näher, einige Male feierten wir zusammen Neujahr. Das begann in unserer Datscha, da gab es die Vorspeise und etwas Warmes. Dann gingen wir über die Straÿe zu Dolleschals, wo wir uns Dessert und Eis schmecken lieÿen. Und wenn an der Neujahrsfeier Rostropowitsch und die Wischnewskaja teilnahmen, gingen wir zu ihnen, und dort aÿen wir Früchte . . . Maxim In der Akademiesiedlung, wo unsere Datscha steht, lebten hauptsächlich Kernphysiker. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, wurde diese Siedlung auf eine Anordnung Berijas hin gebaut, der in der Stalinzeit für die Produktion der Atomwaen verantwortlich war. Auch Sacharow hatte in Schukowka eine Datscha, und ebenso andere Gelehrte, die auf diesem Gebiet arbeiteten. Ich erinnere mich, wie Vater mit irgendeinem Gast durch die Akademiesiedlung spaziert und ihm erklärt : Hier wohnt von den Akademiemitgliedern der und der, und hier der und der. Aber hier nun ein absolut genialer Mensch ! Er hat eine Substanz erfunden, von der ein Teelöel, wenn er über die Erdkugel verteilt wird, absolut alles Lebendige auf unserem Planeten vernichtet ! Ein genialer Mensch ! Einfach genial ! Da bleibt jetzt nur ein Problem : wie kann man das gleichmäÿig über die ganze Erde verteilen . . . Michail Ardow Und noch ein paar Worte über einen Datscha-Nachbarn Schostakowitschs. Einer von denen, die nicht weit von ihm entfernt wohnten, das Akademie- 2 mitglied Jakow Borissowitsch Seldowitsch , überreichte Dmitri Dmitriewitsch irgendwie sein Buch, das fast durchwegs aus mathematischen Formeln bestand. Als er es önete geriet der Komponist in Verlegenheit und sagte : Aber jetzt sagt mir bloÿ, was ich tun soll ? Soll ich ihm eine Partitur von mir schenken ? . . . 1 Nikolai A. Dolleschal (1899 - 2000), sowjetischer Energietechniker 2 Jakow B. Seldowitsch (1914 - 1987), sowjetischer Physiker, maÿgeblich beteiligt an der Entwicklung des Atomwaenarsenals 91 51 Verhältnis zu anderen Komponisten Maxim Einmal ging Vater zum Friseur, um sich rasieren zu lassen, und ich wartete im Nebenraum. Da lief das Radio, irgendjemand sang Aljabjews 1 Romanze Solowej. Als das Rasieren zu Ende war und wir auf die Straÿe hinausgingen, verzog Vater das Gesicht und sagte : Was ist das für eine widerliche, unmusikalische Sache so eine Koloratur . . . Ich erinnere mich an diese seine Worte, aber ich bin überzeugt, dass man einer solchen Äuÿerung keine absolute Bedeutung beimessen kann. Gut möglich, dass Schostakowitsch unter anderen Umständen und in anderer Stimmung diesen Gesang nicht ohne Vergnügen gehört hätte. Er sagte über sich : Ich liebe jede gute Musik von Bach bis Oenbach. Zu einigen berühmten Komponisten hatte er ein schwieriges Verhältnis. Bei Tschaikowski etwa geel ihm eine gewisse Geschäftigkeit nicht, aber einige Werke liebte er sogar. Dauerhafte Abneigung empfand Schostakowitsch nur der Musik Skrjabins gegenüber, ich erinnere mich an sein erbarmungsloses Urteil über diesen Komponisten : Eine Mischung aus Theosophie und Parfümerie. Von den russischen Klassikern schätzte er besonders Mussorgski, und er verwendete viel Kraft darauf, dessen Musik den Zuhörern auf höchst authentische Weise zu vermitteln. Schostakowitsch orchestrierte von neuem Boris Godunow, Chowanschtschina und Lieder und Tänze des Todes. Überhaupt hatte er eine Neigung, fremde Werke, die er dessen für wert hielt, zu vervollkommnen. Aus einem Brief D. Sch.'s an Boris Tischtschenko Mit Scheu schicke ich Ihnen eine Partitur. Glauben Sie es, ich habe Ihr Konzert instrumentiert, mit vollem Respekt und groÿer Begeisterung für den Klavierauszug. Genauere Erklärungen werde ich Ihnen bei unserer nächsten Begegnung geben. Ich habe den Bläserklang nicht überstrapaziert, und das Blech entschieden aus der Partitur herausgelassen. So habe ich für mich zwei Probleme gelöst : erstens wird der Klang nicht langweilig werden und zweitens wird das Solo-Violoncello überall hörbar bleiben . . . Weiter habe ich meine General-Eigenwilligkeit nicht getrieben. Boris Chaikin . . . Wir führten den Zigeunerbaron auf . . . Der Regisseur A. N. Feona hatte beschlossen, im dritten Akt eine Ballettnummer einzufügen, eine Polka (Tanz des Journalisten), die von der sehr begabten G. I. Isajewa 2 in einer Hosenrolle ausgeführt werden sollte. Ich gehe in die Bibliothek der Leningrader Philharmonie und bitte um irgendeine Polka von Johann Strauss. Der Bibliothekar antwortet : Wir haben zweihundert Stück davon, suchen Sie sich nach Belieben eine aus, die Ihnen gefällt. Indem ich mich auf die populäreren und allgemein bekannten beschränke, nde ich eine sehr ansprechende Polka, die Bibliothek macht mir eine Kopie, und bald wird es einen wunderbaren Tanz in der Inszenierung B. A. Fensters 3 geben. 1 Alexander Alexandrowitsch Aljabjew (1787 - 1851), russischer Komponist 2 Galina Iwanowna Isajewa (* 1915), sowjetische Ballettkünstlerin 3 Boris Alexandrowitsch Fenster (1916 - 1960), sowjetischer Ballettmeister 92 Dann war es soweit, die Polka mit dem Orchester durchzugehen. Wieder gehe ich in die Philharmonie, diesmal wegen des Orchestermaterials. Es stellt sich heraus, dass es für diese Polka keine Orchesterstimmen gibt. Einen Klavierauszug gibt es zwei Seiten mit dem obligatorischen Da Capo, aber nichts weiter. Was tun ? Ich rufe Schostakowitsch an, erzähle ihm mein Malheur, und er kommt sofort. Ich zeige ihm die Polka und lenke seine Aufmerksamkeit nebenher auf einen groÿen Septakkord, den ich für einen Druckfehler hielt (die Ausgabe war zweifelhaft). Er sagte nichts, nahm den Klavierauszug und warf zum Abschied hin : Morgen komme ich zu Ihnen . . . Am nächsten Tag kam er mit einer Partitur. Ich schaute hin und sah ein Werk Schostakowitschs. Er hatte nichts von Strauss geändert, keine einzige Note. Den groÿen Septakkord hatte er stehen lassen, er hielt ihn nicht für einen Druckfehler, und bald schien auch mir, er sei nicht nur nicht unangebracht, sondern werte die Polka sogar auf und verleihe ihr eine besondere Anmut. Aber Schostakowitschs Orchestrierungsstil war wie immer so farbenreich, dass der prachtvolle Johann Strauss daneben glanzlos wirkte . . . Ein aufschlussreiches Detail : die Polka hatte auf der Bühne allergröÿten Erfolg und wurde obligatorisch wiederholt (wie komisch, wenn auf der Bühne die Nummer den gröÿten Erfolg hat, die vom Autor überhaupt nicht vorgesehen ist). Da sagte der Ballettmeister B. A. Fenster einmal : Los, bei der Wiederholung tanzen wir eine andere Polka, eine kürzere, und ich mache einen anderen Tanz, eine Art Fortsetzung des ersten ! Ich bitte also in der Bibliothek der Philharmonie um eine weitere Polka. Aus der groÿen Menge eine auszuwählen, ist nicht schwer. Diesmal vergewissere ich mich rechtzeitig, dass Orchesterstimmen vorhanden sind. Fenster richtet einen neuen Tanz ein, auch sehr schön. Isajewa tanzt auch groÿartig. Aber diese Wiederholung lief bei uns nur zweimal, nicht öfter. Es erwies sich, dass die Zusammenstellung mit Schostakowitsch sogar für den wunderbaren, das Gehör berückenden Johann Strauss ungünstig war. Das Publikum reagierte enttäuscht auf die Wiederholung, obwohl Inszenierung wie Ausführung tadellos waren. So gri man wieder auf die erste Polka zurück, die nach der zweiten Ausführung dieselben Begeisterungsstürme hervorrief wie nach der ersten . . . Michail Ardow In den sechziger Jahren erzählte mir jemand folgende Geschichte : Bei irgendeinem Moskauer Festival war aus Indien ein reicher und in seinem Land berühmter Komponist zugegen. Er schrieb hauptsächlich Filmmusik. Er wurde Schostakowitsch vorgestellt. Der Inder sagte beiläug : Sie zahlen Ihrer Hilfskraft sicher eine Menge Geld ? Was für einer Hilfskraft ? wunderte sich Schostakowitsch. Na dem, der Ihre Melodien aufschreibt. Ich schreibe meine Musik selber auf , sagte Schostakowitsch. Wie ? der indische Gast war erstaunt. Sie kennen sich sogar mit Noten aus ?! 93 52 Achtes Streichquartett Galina Es war in Schukowka, im Sommer 1960. Vater kam aus dem ersten Stock herunter, setzte sich auf einen Stuhl und erklärte : Soeben habe ich ein Werk beendet, das meinem Andenken gewidmet ist. Er blieb eine Zeitlang sitzen, rauchte, und ging wieder nach oben in sein Zimmer. An diesem Tag wurde sein berühmtes achtes Streichquartett fertig. Man spielte es zu seiner Zeit, es hatte riesigen Erfolg, und sogleich begann da auch der routinemäÿige Druck auf den Autor damit, dass er die Widmung ändern sollte. Vater war zum Nachgeben gezwungen, und das Opus erhielt einen neuen Titel : Dem Andenken an die Opfer des Faschismus. Mit dieser gefälschten Widmung wird das Werk bis heute aufgeführt und gibt damit ein überüssiges Zeugnis von der Gleichgültigkeit der Musikerkollegen gegenüber dem Schicksal Schostakowitschs. Maxim Natürlich wirkte im Jahr 1960 die Widmung Dem Andenken an die Opfer des Faschismus etwas dubios. Aber wenn man das Wort Faschismus als ein Synonym für Totalitarismus versteht, verschwindet die Zweideutigkeit. Schostakowitsch war eines von den Opfern des ungeheuerlichen totalitären Regimes. Galina Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Bis heute klingt mir in den Ohren : Ich habe es meinem Andenken gewidmet . . . So etwas hört man nicht oft, und schon gar nicht von einem so zurückhaltenden Menschen, wie unser Vater einer war. Maxim Jemand, der in dieser Zeit nicht gelebt hat, könnte denken : was für ein Opfer war Schostakowitsch denn ? Abgeordneter des Oberen Sowjet, Volkskünstler der UdSSR, Held der Sozialistischen Arbeit, Träger aller möglichen Preise, und anderes mehr . . . So gesehen kann man auch Alexander Sergejewitsch Puschkin für einen nicht Verfolgten halten : er wurde vom Zaren liebevoll behandelt und verfasste staatstreue Gedichte. Dennoch besteht die allgemeine Überzeugung, dass der groÿe Dichter unter der Monarchie litt. O weh ! Schostakowitsch musste sein Leben aber nicht im Russland Nikolais des Ersten führen, sondern in der stalinistischen Sowjetunion. Es gab Phasen, in denen Vater sich haarscharf am Abgrund stehen sah. Und bis zu seinem Tod war er unmittelbar abhängig von ungebildeten, unverschämten und grausamen Beamten, die ihn fortwährend geradezu erpressten. Nie werde ich vergessen, wie Vater im Sommer 1960 Galia und mich in sein Zimmer rief und sagte : Man hat mich in die Partei getrieben . . . Und dabei weinte er. Zweimal habe ich ihn in meinem Leben weinen sehen : als Mama starb und an diesem unglückseligen Tag. 94 D. D. Schostakowitsch Vorwort zu den gesammelten Werken1 , aufgeführt im Jubiläumskonzert im Groÿen Saal des Konservatoriums Mit einem einzigen Atemzug beschmutze ich ein Blatt Papier, Mit gewohntem Gehör vernehme ich ein Pfeifen, Dann zerreiÿe ich der ganzen Welt das Gehör, Dann wird es gedruckt und im Sommer patsch ! . . . Ein solches Vorwort könnte man schreiben nicht nur für meine gesammelten Werke, sondern auch für die gesammelten Werke vieler, sehr vieler Komponisten, sowjetischer wie ausländischer . . . Und hier die Unterschrift : Scho - sta - ko - witsch. Volkskünstler der UdSSR. Auch sehr viele andere ehrenvolle Titel. Erster Sekretär des Komponistenverbandes der RSFSR. Einfacher Sekretär des Komponistenverbandes der UdSSR. Und auch sehr, sehr vieler anderer verantwortungsvoller Inanspruchnahmen und Posten . . . Aus einem Brief D. Sch.'s an I. D. Glikman Von der Reise nach Dresden bin ich zurückgekehrt. Ich habe das Material zum Film `Fünf Tage Fünf Nächte' 2 angese- hen, den L. Arnstam gerade dreht . . . Man hat mich dort sehr gut untergebracht und für die Einrichtung einer inspirierenden Umgebung gesorgt. Ich habe in der Stadt Gorlice gewohnt, auch im Kurort Gorlitz, der unter der Stadt Königstein liegt, 40 Kilometer von Dresden entfernt. Ein Ort von unerhörter Schönheit. Er muss allerdings auch so sein : man nennt diesen Ort `Sächsische Schweiz'. Die inspirierenden Bedingungen haben sich ausgezahlt : ich verfasste dort das achte Quartett. So wenig ich versuchte, einen Entwurf für den Filmmusik-Auftrag herzustellen, so wenig hätte ich es gekonnt. Stattdessen schrieb ich ein unnötiges und ideologisch unkorrektes Quartett. Ich habe darüber nachgedacht, dass, wenn ich einmal sterbe, kaum jemand ein Werk zu meinem Andenken schreiben würde. Deswegen habe ich beschlossen, mir selber eins zu schreiben. Man könnte auf den Einband schreiben : `Dem Andenken an den Verfasser dieses Werks gewidmet'. Das Hauptthema des Quartetts besteht aus den Tönen D-Es-C-H, das sind meine Initialen. Im Quartett werden Themen aus meinen Werken verwendet und das Revolutionslied `Im Kerker zu Tode gemartert'. Meine eigenen Themen sind die folgenden : aus der ersten Symphonie, aus der achten Symphonie, aus dem Trio, aus dem Violoncello-Konzert und aus `Lady Macbeth'. In Andeutungen werden Wagner (Trauermarsch aus der `Götterdämmerung') und Tschaikowski (zweites Thema 1 D. D. Schostakowitsch Vorwort zu meinen gesammelten Werken und eine kurze Betrachtung zu diesem Vorwort für Bass und Klavier op. 123 (1966) 2 Fünf Tage Fünf Nächte, deutsch-sowjetisches Nachkriegsdrama, 1961, Regie : Leo Arnstam 95 aus dem ersten Satz der sechsten Symphonie) verwendet. Ja : ich vergaÿ noch meine 1 zehnte Symphonie . . . Eine ziemliche Okroschka ! Die Pseudotragik des Quartetts ist derartig, dass ich beim Schreiben soviele Tränen vergoss, wie Urin abieÿt nach einem halben Dutzend Bieren. Als ich nach Hause gefahren war, versuchte ich zweimal, es zu spielen, und wieder ossen die Tränen. Aber da bereits nicht mehr nur wegen seiner Pseudotragik, sondern aus einem Staunen über die wunderbare Geschlossenheit der Form. Allerdings kann hier eine gewisse Selbstbegeisterung, die vielleicht bald vorübergeht, eine Rolle spielen, und der Katzenjammer der Selbstkritik tritt dann an ihre Stelle. Jetzt habe ich das Quartett zur Abschrift weggegeben und hoe, das Einstudieren 2 mit diesen Beethoven-Leuten beginnen zu können. Nun, das ist alles, was ich in der Sächsischen Schweiz erlebt habe. Isaak Glikman Hier die Umstände der Abfassung des achten Streichquartetts. Ende Juni 1960 fuhr Dmitri Dmitriewitsch nach Leningrad und quartierte sich nicht wie gewöhnlich im Europäischen Hotel ein, sondern in der Wohnung seiner Schwester Maria Dmitriewna. Wie sich später herausstellte, geschah das nicht ganz ohne Grund. Am 28. Juni stattete ich Dmitri Dmitriewitsch einen kurzen Besuch ab. Er teilte mir mit, dass er neulich Fünf Satiren nach Gedichten von Sascha Tschorny geschrieben habe und hoe, mich bald mit diesem Opus bekannt machen zu können. Am nächsten Tag, dem 29. Juni früh am Morgen, rief Dmitri Dmitriewitsch an und bat mich, sofort zu ihm zu kommen. Als ich ihn üchtig ansah, überraschte mich der leidende Ausdruck auf seinem Gesicht, Verwirrung und Bestürzung. Dmitri Dmitriewitsch führte mich eilig in das kleine Zimmer, wo er übernachtete, lieÿ sich kraftlos auf 's Bett nieder und begann zu weinen, laut zu weinen, lautstark. Voller Angst dachte ich, ihm oder seinen Angehörigen sei ein groÿes Unglück zugestoÿen. Auf meine Fragen hin sagte er unverständlich durch die Tränen hindurch : Sie verfolgen mich seit langem. Sie sind hinter mir her . . . In einer solchen Verfassung hatte ich Dmitri Dmitriewitsch noch nie gesehen. Er befand sich im Zustand einer ernsten Hysterie. Ich reichte ihm ein Glas kaltes Wasser, er trank es, klapperte mit den Zähnen und beruhigte sich allmählich. Ungefähr eine Stunde später, nachdem er sich wieder in der Hand hatte, begann er mir davon zu erzählen, was mit ihm vor einiger Zeit in Moskau geschehen war. Dort hatte man auf Initiative Chruschtschows hin entschieden, ihn zum Vorsitzenden des Komponistenverbandes der RSFSR zu machen, aber zur Bekleidung dieses Postens musste er unbedingt in die Partei eintreten. Die Ausführung dieser Mission übernahm das Mitglied des ZK-Büros für die 3 RSFSR P. N. Pospelow . Hier ist das, was mir Dmitri Dmitriewitsch (wörtlich) am Junimorgen 1960, auf dem Höhepunkt des Tauwetters, sagte : Pospelow suchte mich auf jede Weise dazu zu überreden, in die Partei einzutreten, in der man unter Nikita Sergejewitsch leicht und frei atmen könne. Pospelow war von Chruschtschow begeistert, von seiner Jugend, so 1 Kwas-Suppe, russisches Nationalgericht 2 Staatliches Beethoven-Streichquartett, gegründet 1923, eines der wichtigsten Kammerensembles der UdSSR 3 Pjotr Nikolajewitsch Pospelow (1898 - 1979), Funktionär der KPdSU, Propagandist, Journalist und bolschewistischer Historiker 96 hat er es tatsächlich gesagt Jugend, von seinen grandiosen Plänen, und es sei unab- dingbar für mich, den Parteireihen anzugehören, die sich nicht Stalin, sondern Nikita Sergejewitsch an die Spitze gestellt hatten. Völlig überrumpelt, lehnte ich, so gut ich konnte, eine solche Ehre ab. Ich klammerte mich an einen Strohhalm, sagte, dass es mir nicht gelungen sei, den Marxismus zu erlernen, dass man noch warten müsse, bis ich ihn beherrschte. Dann berief ich mich auf meine Frömmigkeit. Dann sagte ich, dass ich ein parteiloser Vorsitzender des Komponistenverbandes sein könne, nach dem Beispiel Konstantin Fedins 1 2 und Leonid Sobolews , die als Parteilose Führungspositionen im Schrift- stellerverband innehätten. Pospelow wies alle meine Argumente zurück und nannte einige Male den Namen Chruschtschows, der um das Schicksal der Musik besorgt sei, und ich sei verpichtet, darauf zu reagieren. Ich war durch dieses Gespräch völlig zermürbt. Bei der zweiten Begegnung mit Pospelow drückte er mich wieder an die Wand. Meine Nerven hielten das nicht aus und ich gab nach . . . Die Erzählung Dmitri Dmitriewitschs wurde einige Male von meinen aufgeregten Fragen unterbrochen. Ich erinnerte ihn daran, wie oft er zu mir gesagt hatte, dass er niemals in eine Partei eintreten werde, die Gewalt erzeuge. Nach groÿen Pausen fuhr er fort : Im Komponistenverband hat man sofort vom Ergebnis der Unterredungen mit Pospelow erfahren, und irgendjemandem ist es gelungen, eine Erklärung zu fabrizieren, die ich wie ein Papagei auf der Versammlung hersagen muss. So wisse : ich habe fest beschlossen, bei der Versammlung nicht zu erscheinen. Ich bin heimlich nach Leningrad gefahren, ich habe mich bei der Schwester einquartiert, um mich vor ihren Quälereien zu verstecken. Alles erscheint mir so, als ob sie sich besonnen hätten, mich verschonen würden und in Ruhe lieÿen. Und wenn das nicht geschieht, werde ich hier hinter Schloss und Riegel sitzen. Allein gestern Abend kamen Telegramme mit der Auorderung zu meiner Anreise. So wisse, dass ich nicht fahren werde. Sie können mich nur mit Gewalt nach Moskau bringen, verstehst du, nur mit Gewalt ! . . . Nachdem er diese Worte gesagt hatte, deutlich vernehmbar, wie einen Eid, wurde er plötzlich völlig ruhig. Mit seiner, wie ihm schien, endgültigen Entscheidung löste er gleichsam den straen Knoten, der seine Kehle zusammenzog. Der erste Schritt war bereits getan : mit seinem Nichterscheinen würde er die sich mit groÿem Pomp anbahnende Versammlung sabotieren. Froh darüber verabschiedete ich mich von Dmitri Dmitriewitsch und fuhr nach Selenogorsk, wo meine Mutter eine Datscha gemietet hatte. Ich hatte versprochen, die Einsiedlerin für ein paar Tage zu besuchen. Er aber wartete nicht auf mich sondern kam selbst ohne Ankündigung am 1. Juli spät abends zu mir nach Selenogorsk mit einer Flasche Wodka. Es regnete. Dmitri Dmitriewitsch sah erschöpft aus nach einer wahrscheinlich schlaosen, seelisch aufwühlenden Nacht. Kaum hatte er die Schwelle unseres Häuschens überschritten, sagte Dmitri Dmitriewitsch : Verzeih, dass es so spät ist. Aber ich wollte dich schnell sehen und meinen Schmerz mit dir teilen. Ich wusste damals nicht, dass er diesen an ihm nagenden Schmerz einige Wochen lang in die Musik seines achten Streichquartetts hatte einieÿen lassen und so seine Seele ablenken konnte. 1 Konstantin Alexandrowitsch Fedin (1892 - 1977), russischer Schriftsteller und Schauspieler) 2 Leonid Sergejewitsch Sobolew (1898 - 1971), sowjetischer Schriftsteller 97 Vom Wodkatrinken nicht mehr nüchtern umging Dmitri Dmitriewitsch die verhängnisvolle Versammlung, sprach stattdessen über die Macht des Schicksals und zitierte eine Zeile aus den Puschkin'schen Zigeunern : Und überall verhängnisvolle Schrecken, / Und vor den Fügungen des Schicksals kein Schutz. Wie ich ihn so hörte, dachte ich plötzlich voller Traurigkeit, ob er sich nicht doch dem Schicksal geschlagen geben würde, nachdem ihm die Unmöglichkeit bewusst geworden war, sich mit ihm zu messen und es zu besiegen. Leider kam es auch so. Die Versammlung, die einer tragischen Farce glich, wurde ein zweites Mal organisiert, und Dmitri Dmitriewitsch verlas, glühend vor Scham, die für ihn verfasste Erklärung über die Aufnahme in die KPdSU . . . In Schostakowitsch verband sich schöpferische, künstlerische Kühnheit mit einer vom stalinistischen Terror eingeimpften Angst. Die jahrelange geistige Unfreiheit umspann ihn mit ihrem Netz, und nicht von ungefähr erklingt in seinem autobiograschen achten Streichquartett so überspannt, so dramatisch die Melodie des Liedes Im Kerker zu Tode gemartert . . . Michail Ardow Im Herbst des Jahres 1960 fand die Hochzeit Maxim Schostakowitschs statt. Das war in der Wohnung am Kutusow-Prospekt, aber die ganze Bewirtung wurde vom Aragwi ausgerichtet. Die Gäste bediente unser Freund Robson, ihm standen noch zwei Kellner zur Seite. Der Brautvater war ein bekannter sowjetischer Diplomat (soviel ich weiÿ, bekleidete er einen Posten, über den man ihn nach Belgien geschickt hatte), unter den Geladenen waren viele seiner Kollegen. Wir, die Freunde des Bräutigams, saÿen am Tischende und langweilten uns, während ozielle Toasts ausgebracht wurden und die Unterhaltung dahinplätscherte. Aber da ergri irgendein Diplomat das Wort und schlug vor, auf das Wohl von Maxim Maximowitsch zu trinken. Wir verstanden nicht, wen er meinte Maxim Dmitriewitsch oder Dmitri Dmitriewitsch ? . . . Niemand korrigierte den Redner, alle erhoben die Gläser und leerten sie. Nun, an dieser Stelle beschloss ich, die Tafelrunde etwas zu beleben; ich erklärte, einen Toast ausbringen zu wollen. Als Schweigen eingetreten war, sagte ich : Bisher haben wir nur auf Max- 1 im Maximowitsch getrunken, ich schlage vor, dass wir jetzt auf Petschorin trinken ! Meine Freunde wurden lebhaft, auf den Gesichtern der Diplomaten zeigte sich Verlegenheit . . . Sie hatten oensichtlich in ihrer Schulzeit Lermontow nicht so genau gelesen . . . Jetzt, beim Schreiben dieser Zeilen, gibt es in der Familie Schostakowitsch einen Maxim Maximowitsch, das ist der jüngere Sohn von Maxim Dmitriewitsch. 1 Figur in Michail J. Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit (1840) 98 53 Krankenhaus in Kurgan Galina Als er hereinkam, war ich erstaunt, wie ähnlich er dem jungen Stalin war das östliche Gesicht, der Schnurrbart . . . Das war eine Äuÿerung meines Vaters 1 über den berühmten Chirurgen aus der Stadt Kurgan, Gawriil Abramowitsch Ilisarow . 1969 wandte Vater sich an ihn, da die Moskauer Ärzte ihm auf keine Weise bei der Überwindung seines Leidens helfen konnten einer Schwäche in den Beinen. Auf Vaters Bitte hin fuhr Rostropowitsch, Ilisarow am Bahnhof abzuholen. Man verabredete sich darüber am Telefon, und der Scherzen zugeneigte Mstislaw Leopoldowitsch sagte : Ich werde am Anfang des Bahnsteigs stehen. Sie können mich leicht erkennen : ich gleiche einem Aen. Das Treen kam glücklich zustande, danach beklagte sich Rostropowitsch : Oenbar sehe ich wirklich wie ein Ae aus. Ilisarow stieg aus dem Waggon und kam direkt auf mich zu, obwohl auf dem Bahnsteig eine ziemliche Menge von Leuten stand . . . Im Frühjahr 1970 begab sich Vater zur Behandlung nach Kurgan. Aus einem Brief D. Sch.'s an I. D. Glikman Wir leben hier so : Aufstehen um 7 Uhr. Von 7 bis 8 verrichte ich mein Morgenritual : Waschen, Rasieren, Körperkultur, die neuesten Nachrichten hören. Um 8.30 Frühstück. Um 9.15 fahren wir in den Wald, wo wir eine Stunde spazieren gehen. Von 11 bis 12.30 grausame, schweiÿtreibende Gymnastik und Massage. Um 13.30 Mittagessen. Um 15.30 fahren wir wieder zum Spazierengehen in den Wald. Um 17 Uhr kehren wir ins Krankenhaus zurück. Das alles ist sehr nützlich. Arme und Beine werden kräftiger. Aber gegen Abend bin ich erledigt . . . Auÿerdem geben sie mir alle drei Tage eine Spritze. Man hat eine leichte Operation vorgenommen. Was ich im Krankenhaus auf dem Gebiet der Behandlung sah, ruft in mir Begeisterung, Erstaunen und groÿe Bewunderung für den menschlichen Geist hervor. In diesem Fall geht es um Gawriil Abramowitsch Ilisarow. Wenn wir uns wiedersehen, erzähle ich dir von seinen Leistungen . . . Maxim Ich erinnere mich, Vater erzählte von einem ziemlich intensiven Erlebnis in Kurgan. Mit ihm zusammen im Krankenhaus befand sich eine Menge von Kindern mit unterentwickelten oder geschädigten Armen und Beinen . . . Und da sah er, wie diese Kinderchen Ball spielten. Während des Spiels waren sie vollkommen glücklich, sie dachten nicht an ihre Verstümmelungen und nahmen sie gar nicht wahr Lachen und fröhliche Schreie waren zu hören. Sofia Chentowa Von den Heilverfahren erholte sich Schostakowitsch indem er mit dem kleinen Jungen Serjoscha spielte, der auch von Ilisarow behandelt wurde. Der Junge tauchte ganz unbefangen im Krankenzimmer auf und schlug vor : Dmitri Dmitriewitsch, los, spielen wir Ball ! Ach was, spielen wir ! Und zu zweit ngen sie mit ihrem Fuÿball an . . . 1 Gawriil Abramowitsch Ilisarow (1921 - 1992), Chirurg und Orthopäde, Gründer und langjähriger Leiter eines Forschungszentrums 99 54 Krankheit Maxim Erste Anzeichen einer Krankheit machten sich bei Vater im Jahr 1958 bemerkbar. Er war in Frankreich und trat in Konzerten auf. Und da fühlte er mit einem Mal ein Unwohlsein im rechten Arm. Zuerst dachte er, er habe den Arm überanstrengt. Pianisten kennen das Phänomen, wenn von den Proben und Auührungen her der Arm zu sehr beansprucht wird und etwas zu schmerzen beginnt . . . Aber die Erkrankung entwickelte sich weiter, und schlieÿlich wurde die Diagnose gestellt : Amyotrophe Lateralsklerose, in der amerikanischen Abkürzung SLA. Eine ganz abscheuliche Krankheit; bei Vater war die gesamte rechte Körperseite betroen . . . Und es bestand die Gefahr, dass irgendwann der Atemapparat versagen könnte. Aber das erlebte Vater nicht mehr, bei ihm entwickelte sich Lungenkrebs . . . Seiner Unpässlichkeiten schämte er sich, ich würde sagen, seinen Krankheiten gegenüber hatte er ein keusches Verhältnis. Isaak Glikman Am 5. Mai 1972 fand die Urauührung der fünfzehnten Sym- phonie statt. Der Saal der Philharmonie war bis auf den letzten Platz besetzt. Alle Augen im Publikum waren auf die Loge gerichtet, in der Schostakowitsch saÿ. Mir schien, dass viele nicht nur ins Konzert gekommen waren, um die Symphonie zu hören, sondern auch, um unbedingt den geliebten Autor zu sehen. Er war im schwarzen Anzug mit einem schneeweiÿen Hemd, und auf die Entfernung sah er wie früher aus, jung, schön. Nach Ende der Symphonie begann der Applaus. Das Erscheinen Schostakowitschs auf dem Podest rief ungeheure Begeisterung im Publikum hervor. Hinter der Bühne sagte er mir : Wenn du wüsstest, welche Anstrengung es meine Beine gekostet hat, der Auorderung zu folgen und hinauszugehen ! . . . Und sein Gesicht verzog sich gequält. Der Dirigent Kirill Kondraschin 1 Gegen das Jahr 1970 hin hatte ich viele Werke Schostakowitschs in meinem Repertoire, und der Gedanke an eine zyklische Auührung aller seiner Symphonien zu Ehren seines 65. Geburtstages entstand. Das Vorhaben wurde im Lauf von zwei Jahren verwirklicht. Dmitri Dmitriewitsch war bei vielen Konzerten anwesend, oft ungeachtet seines gesundheitlichen Zustandes. Jedes Mal vor Konzertbeginn sagte er mir ungefähr folgendes : Kirill Petrowitsch, wenn die Symphonie Erfolg haben sollte, und Sie mich etwa zum Verbeugen herausrufen wollen, bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich nicht auf die Bühne hochkomme, sondern nur auf 's Podium. Es fällt mir schwer, die Stufen schnell hochzulaufen, alle werden auf mich schauen, aber das kann ich nicht ertragen . . . Sofia Chentowa Mit Freude und Dankbarkeit nahm Schostakowitsch das Angebot an, bei der Vorbereitung zur Oper Die Nase auf der Bühne des Kammermusik- 1 Kirill Petrowitsch Kondraschin (1914 - 1981), russischer Dirigent) 100 theaters 1 unter der Regie von B. A. Pokrowski 2 mit G. N. Roschdestwenski 3 als Dirigent dabei zu sein. Im Theater, das in einem Kellerraum liegt, bedeutete es für den Komponisten, wie sich Pokrowski erinnert, eine qualvolle Anstrengung, die Treppe hinab zu steigen, und noch mehr, sich nach der Probe wieder nach oben zu arbeiten . . . Die begeisterten Künstler boten an, Dmitri Dmitriewitsch auf Armen über die Treppe zu tragen (das wäre so einfach gewesen !). Aber das lehnte er schlicht und einfach ab. Ihm war die gefährliche Treppe auf den Hof ganz recht, und niemand sah, wie sich unser teurer Gast auf ihr bewegte. Keiner schaute hin, half, empfand Mitleid und richtete die Aufmerksamkeit auf die veruchte Krankheit. Eine Bagatelle ? Nein, er schützte sich vor einem beleidigenden Mitgefühl. Aber wir wissen noch, wie er plötzlich mitten unter uns auftauchte, um unsere Arbeit mit uns zu teilen. Galina Ich erinnere mich, wie Vater sich vor einem seiner Bekannten entschul- digte : Verzeihen Sie, ich bin gezwungen, Sie mit meiner linken Hand zu begrüÿen . . . Am Ende des Jahres 1973 entdeckte man bei Schostakowitsch eine Geschwulst in der linken Lunge. Ich weiÿ noch, er kam aus der Polyklinik zurück und legte sich hin. Ich ging zu ihm, er sagte : Im Röntgenraum haben sie mich zwei Stunden lang untersucht . . . ein Arzt kam, dann ein anderer . . . Natürlich ahnte er, dass es schlecht stand . . . Aber mit keinem seiner Angehörigen gri er dieses Thema auf. Es war sein Lebensprinzip, niemals jemandem seine eigenen Probleme aufzuladen . . . Aus den Tagebüchern I. D. Glikmans 9. Juni 1974 Heute war ich bei Dmitri Dmitriewitsch in Repino. Wir plauderten ziemlich lange über alles Mögliche . . . Als wir allein waren (Irina Antonowna hatte das Zimmer verlassen), ng Dmitri Dmitriewitsch von den Qualen zu reden an, die ihm Beine und Arme verursachten. Er äuÿerte sich dazu in abgehackten Phrasen, und dabei traten Tränen in seine Augen. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und sagte : Im Übrigen mag ich keine Jammerer und will auch selber nicht bemitleidet werden. Als ich ihn so hörte, musste ich fast selber weinen . . . Maxim Unmöglich ist es, nichts über die Rolle zu sagen, die im Leben unseres Vaters seine Frau Irina Antonowna gespielt hat. Sie heirateten im Jahr 1962, als seine Krankheit sich im Anfangsstadium befand, und die Diagnose noch gar nicht gestellt war. Aber in allen folgenden Jahren war gerade Irina Antonowna sein wichtigster Halt und Beistand. Auf allen Reisen waren sie zusammen, in den Krankenhäusern und Sanatorien, zudem war sie seine Sekretärin, Chaueurin und Krankenwärterin . . . Galina Neben allem anderen konnte Irina Antonowna das Alltagsleben organi- sieren. Da arbeitet Dmitri Dmitriewitsch, und da ruht er sich aus. Und sie achtete äuÿerst streng darauf, dass er nicht zu viel abgelenkt oder beunruhigt wurde. 1 Moskauer Kammermusiktheater, 1972 gegründet von B. A. Pokrowski 2 Boris Alexandrowitsch Pokrowski (1912 - 2009), sowjetischer Regisseur und Pädagoge 3 Gennadi Nikolajewitsch Roschdestwenski (* 1931), russischer Dirigent 101 Und dann in den letzten Jahren wurde sie sein Blindenführer, wenn man so sagen will für jemanden, der sich um einen Sehenden kümmert. Ich habe das so vor mir, sie geht mit ihm, hält ihn unterm Arm und sagt : Vorsicht, Mitja, hier ist eine kleine Stufe abwärts . . . und hier eine nach oben . . . Schlieÿlich wurde auf der Datscha in Schukowka ein Lift eingebaut, damit Vater direkt vom Vorraum zu sich ins Zimmer kommen konnte. Nun lebten wir aber in der Sowjetunion, und für diesen Lift brauchte man jemanden, der oziell berechtigt war, ihn zu bedienen. Und da besuchte Irina Antonowna kopfschüttelnd Spezialkurse für Liftführer und erhielt darüber ein Abschlussdiplom. Nun, und eines Tages kamen ihr die erworbenen Fähigkeiten zustatten. Der Lift, in dem sich Schostakowitsch befand, blieb zwischen den Stockwerken stecken. Da kletterte Irina Antonowna über eine aufgestellte Leiter auf den Dachboden und dort drehte sie zusammen mit der Haushälterin per Hand an dem riesigen Metallrad. Der Lift setzte sich in Bewegung, kam im ersten Stock an, und Vater konnte aus seiner Gefangenschaft befreit werden. Maxim Ich bin überzeugt, dass vor allem dank der Fürsorge, mit der ihn Irina Antonowna umhegte, unser Vater, ungeachtet seiner schweren Leiden, fast siebzig Jahre alt wurde. Und dabei darf man nicht vergessen, dass Schostakowitsch bis in seine letzten Lebenstage hinein schöpferisch tätig blieb. Seinen Schülern predigte er immer : Man sollte keine Musik schreiben, wenn man dazu nicht in der Lage ist. Selber konnte er nicht nicht schreiben, er war vom Schaen beseelt sein ganzes Leben lang. Ich bin sicher, dass das wesentlichste und wahrste Urteil über Schostakowitsch am 14. August 1975 über seinem Sarg gesprochen wurde. Georgi Wassiljewitsch Swiridow, einer seiner besten und liebsten Schüler, sagte : Weich, entgegenkommend, manchmal unentschieden in Alltagsdingen, war dieser Mensch in seinem Wichtigsten seinem verborgenen inneren Wesen unerschütterlich wie ein Stein. Seine Zielstrebigkeit war mit nichts zu vergleichen. Im Jahr 1936, in einer für ihn (und alle Länder) schrecklichen Zeit, wo man ihn entehrte und erniedrigte, sagte Schostakowitsch : Wenn sie mir beide Hände abhacken, nehme ich die Feder zwischen die Zähne und werde trotzdem Musik schreiben ! . . . Das waren keine leeren Worte. 102 Nachwort In den siebziger Jahren sahen Maxim und ich uns nicht oft. Die Jugend war vorbei, jeder von uns hatte einen Beruf ergrien, und alle Freunde verfolgten ihre eigenen Wege. Aber ich freute mich immer über Maxims Erfolge, und meine Gefühle ihm gegenüber blieben unverändert. Unsere letzte Begegnung vor seiner Emigration war nur üchtig. Ich verlieÿ das Restaurant beim Haus des Schauspielers, während Maxim gerade dorthin ging. Das war, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, im Jahr 1979. Aber da kam das Jahr einundachtzig, und die Auslandspresse verbreitete eine Sensation : der Dirigent Maxim Schostakowitsch und sein Sohn, der Pianist Dimitri, blieben im Westen. Gierig hörte ich, so sagt mir mein Gedächtnis, die Stimme Amerikas und die Freiheit, alle Einzelheiten interessierten mich. Mitgeteilt wurde, Sohn und Enkel des groÿen Komponisten hätten in den USA um politisches Asyl gebeten, und Präsident Ronald Reagan habe sie persönlich empfangen . . . Für Maxim begann ein neues Leben. Ein Jahr vor seinem endgültigen Abschied hatte ich mein Dasein kaum weniger einschneidend verändert ich war Dorfgeistlicher geworden. Im Jahr achtzig, als das geschah, bedeutete ein solcher Schritt so etwas wie innere Emigration, vergessen wir nicht : die Kirche existierte unter der Sowjetherrschaft in so einer Art Ghetto. Zu keinem Zeitpunkt verhehlten die Bolschewiki ihr Ziel den religiösen Glauben auszurotten, und deshalb ist der Ghetto-Vergleich keineswegs scherzhaft gemeint. Als Ausgestoÿene aber genossen Christen vollwertigen Staatsbürgern gegenüber ein wichtiges Privileg wir nahmen fast nie am damaligen, absurden öentlichen Leben teil. Die allmächtigen Bürokraten, ja überhaupt alle Sowjetmenschen, hatten von uns Klerikern eine völlig unverrückbare Meinung : wir waren entweder Gauner oder Geisteskranke. Diese Haltung Geistlichen gegenüber als einem durch und durch verdächtigen Menschenschlag erfuhr ich am eigenen Leib bei meinen ersten Schritten in dieser Tätigkeit. Nie werde ich die Ankunft an meinem Dienstort vergessen einem abgelegenen Dorf in der Oblast Jaroslawl, sechsundzwanzig Kilometer Feldweg entfernt vom Kreiszentrum, Danilow. Es waren die letzten Apriltage. Am Wegrand und im Wald lagen noch Schneereste. Die ersten paar Kilometer konnte ich noch glücklich auf einem Traktor mitfahren, der die gleiche Richtung hatte. Desweiteren stapfte ich dann in meinen Gummistiefeln durch den Schlamm . . . 1 Der Weg führte durch ein groÿes Dorf Spas . Dort bemerkte mich ein Bauer, der den Zaun an seinem Haus ausbesserte. Er betrachtete mich aufmerksam von oben bis unten und sagte : Und du gehst wohl nach Gorinskoje, Vater Iwan ablösen ? Ich bestätigte das. Man muss sagen, dass einen nicht nur der aufgeweichte Boden schwermütig machte, auch die Namen der Ortschaften, durch die ich gehen musste, trugen 2 3 nicht zur Verbesserung der Stimmung bei Stonjatino , Skulepowo . . . Ja, und natür- 4 lich Gorinskoje selber der Ort, an dem mir mein Dienst bevorstand. 1 deutsch : Heiland, Erlöser 2 abgeleitet von Klagen 3 abgeleitet von Trübsinn 4 abgeleitet von Kummer 103 Nach meinem kurzen Dialog mit dem Bauern war ich kaum anderthalb Kilometer weitergegangen, als mich ein Lastwagen einholte, und sich auf der Ladeäche über der Fahrerkabine die Grenadiersgestalt des Revierinspektors in Polizeiuniform erhob. Ohne groÿe Umstände hielt man mich an, hob mich auf die Ladeäche und schate mich zum Dorfsowjet von Gorinskoje. Dort studierte man aufmerksam meinen Pass und den Erlass des Erzpriesters über meine Zuweisung zu dieser Gemeinde. In der Folge begann ein nettes bürokratisches Spielchen der Beauftragte des Sowjets für Religionsangelegenheiten weigerte sich kategorisch, mir eine Registrierungsbescheinigung auszustellen, solange ich noch nicht in Gorinskoje angemeldet sei, aber das Exekutivkomitee des Kreissowjets in Danilow und der ihm nachbetende Dorfsowjet hatten gar keine Lust, mich anzumelden, solange ich keine Registrierungsbescheinigung vorweisen konnte . . . Das alles zog sich zwei Wochen lang hin, und ich musste die 26 Kilometer aus üssigem Schlamm noch einigemale bewältigen . . . Im Herbst desselben Jahres, als ich schon in Gorinskoje wohnte, kam der örtliche Postbote zu mir ins Kirchenhaus. Er fragt : Wollen Sie Zeitungen und Zeitschriften abonnieren ? Ja, natürlich, sage ich, ich werde die Prawda abonnieren. (Dazu ist anzumerken, dass man in jenen märchenhaften Jahren, wenn man mit einigem Geschick zwischen den Zeilen las, gerade in diesem Zentralorgan die wesentlichste Information nden konnte.) Auf meine Antwort hin stutzte der Postbote : Meinen Sie das ernst ? Vollkommen ernst. Ich abonniere nur eine einzige Publikation die Zeitung Prawda. Aber hörn Sie : in meinem Bereich abonnieren nicht mal die Parteimitglieder die Prawda . . . Na, dann, sage ich, erzählen Sie ihnen das : ihr habt euer Zentralorgan nicht abonniert, der Pope aber kriegt's . . . Der Postbote bekam von mir das Geld, stellte mir eine Quittung aus und entfernte sich völlig erschüttert. Nachdem ich mit der Kirchenältesten von Gorinskoje näher bekannt geworden war und sie Vertrauen zu mir gefasst hatte, teilte sie mir eine Äuÿerung des Sekretärs des Kreisexekutivkomitees in Danilow über mich mit (in den Kreissowjets befassten sich meistens die Sekretäre mit den religiösen Angelegenheiten). Als da nun der Sekretär aus Danilow, ich glaube er hieÿ Orlow, Papiere und Lebenslauf von mir studiert hatte, schaute er auf die Älteste und sagte : Ein Sowjetmensch . . . wie weit es mit ihm gekommen ist . . . Unser Kirchenghetto existierte noch einige Jahre weiter bis ins Jahr achtundachtzig. In jenen Tagen beging man auf Staatsebene ein wahrhaft groÿes Jubiläum die Tausendjahrfeier der Taufe Russlands. Damals stürzte auch die Mauer ein, die die Bolschewiki so eifrig zwischen gläubigen und nicht gläubigen Mitbürgern aufgerichtet hatten. Während all dieser Jahre war ich der festen Überzeugung, die Wege von Maxim Schostakowitsch und mir hätten sich endgültig getrennt. Aber im Winter dreiundneunzig klingelte bei mir zu Hause das Telefon. Zu meiner Verwunderung erkannte ich die Stimme Maxims. Er rief aus Amerika an und lud mich ein, ihn zu besuchen. Das Jahr 1994 begann, und ich fuhr in kirchlichen Angelegenheiten über den Ozean. Als Maxim erfuhr, dass ich in Amerika war, in New Jersey, kam er angerannt und nahm mich mit nach Connecticut. Dort lernte ich sein Frau Marina kennen und die winzige 104 Tochter Mascha, und verlebte dann einige unvergessliche Tage. Das Fragen und Erzählen nahm kein Ende, aber das wichtigste war : ich erfuhr, dass Maxim und seine Frau die Heilige Taufe angenommen hatten, und beide tatsächlich gläubige Menschen geworden 1 waren. Alle zusammen unternahmen wir eine Pilgerfahrt in das Örtchen Jordanville , ins Heilige-Dreifaltigkeits-Kloster, das das geistige Zentrum der Russischen Kirche im Ausland bildet. Auÿerdem weihte ich kraft meines Amtes das Haus, in dem die Familie damals lebte. Soweit ich mich entsinne, stürzte ich mich auf die Bibliothek, da Maxim eine Menge von Büchern hatte, die damals in Russland noch nicht zu bekommen waren. Mehr aber als alle Emigranten-Ausgaben erregte ein Buch meine Aufmerksamkeit, das in unserem Land veröentlicht worden war und die Briefe D. D. Schostakowitschs an I. D. Glikman 2 enthielt . Zuerst nahm ich es nur in die Hand, dann aber las ich es und konnte mich nicht mehr losreiÿen. Mein Interesse an dem groÿen Komponisten entammte da natürlich mit neuer Stärke. Damals kam mir der Gedanke in den Sinn, die Erinnerungen Maxims und Galinas an ihren Vater aufzuzeichnen. Meine Idee weckte bei ihnen keine Begeisterung. Ich führe das auf die von Dmitri Dmitriewitsch geerbte Bescheidenheit zurück, auf den beständigen Wunsch, im Hintergrund zu bleiben. Maxim lehnte es rundweg ab, aber ich blieb hartnäckig und suchte ihn bei jeder neuen Begegnung zu überreden, die Sache mit den Memoiren anzugehen. Galina erschien nachgiebiger, blieb aber skeptisch gestimmt. Sie ging davon aus, dass alles was sie über ihren Vater erzählen könnte, unbedeutend und uninteressant wäre. Und doch nahm ich mit ihr im Frühling des Jahres 2001 die Arbeit auf. Ich schaltete das Diktiergerät ein und begann mit den Fragen. Unschätzbare Hilfe leistete uns dabei fortwährend dieses erwähnte Buch die Briefe Dmirtri Dmitriewitschs an Glikman. Ich las die Briefe des Vaters der Reihe nach vor und fragte, ob sie bei der Tochter nicht irgendwelche Erinnerungen oder Assoziationen hervorriefen ? . . . Schritt für Schritt arbeiteten wir uns vor bis zu dem Punkt, an dem sich ein gewisser zusammenhängender Text abzeichnete. Anfang Sommer aber, als ich die Erinnerungen Galinas in Händen hatte, einigte ich mich mit Maxim auf ein Treen. In diesen Tagen hielt er sich mit seiner Familie in der Oblast Iwanowo auf, im Dorf Kitainowo, nahe dem Städtchen Juscha. Dort hinzukommen ist nicht ganz einfach. Der Bus fährt um zehn Uhr abends aus Moskau ab und kommt in Juscha an morgens um fünf. Die Fahrt verlief ohne besondere Zwischenfälle, war aber ziemlich anstrengend ein alter Bus mit harten Sitzen, an Schlaf nicht zu denken. Drei Tage hielt ich mich bei Maxim auf, und wie immer verstanden wir uns aufs Beste. Wir arbeiteten folgendermaÿen : ich las ihm vor, was mir Galina erzählt hatte, und er steuerte seine Ergänzungen bei. Am zweiten Arbeitstag sagte Maxim zu mir : So, jetzt erst hast du mich überzeugt, dass wir dieses Buch tatsächlich schreiben müssen. Am Jahresende stand mir nochmal eine Fahrt nach Kitainowo bevor, um mit Maxim den endgültigen Text abzustimmen. Eingedenk der ersten anstrengenden Reise beschloss ich, diesmal nicht nachts zu fahren, sondern tagsüber : mit dem Bus kam ich nach 1 Siedlung innerhalb der US-amerikanischen Stadt Warren im Bundesstaat New York 2 vgl. S. 7, Anmerkung 1 105 Iwanowo und mietete dort einen PKW. Unterwegs erklärte ich dem Chaueur, dass ich nicht direkt nach Juscha müsse, sondern nach Kitainowo ein Dorf fünfzehn Kilometer von dem Städtchen entfernt. Der Fahrer hörte mir aufmerksam zu und sagte : Dort irgendwo wohnt der Sohn von Rostropowitsch. Nicht von Rostropowitsch, von Schostakowitsch, antwortete ich, na, und genau zu dem fahre ich. 106 Index Achmatowa, Anna A., 77, 87 Gaal, Franziska, 59 Aljabjew, Alexander A., 92 Gauk, Alexander W., 19 Ardow, Viktor J., 5, 59 Gilels, Emil G., 55 Arnstam, Leo O., 23, 95 Gilels, Jelisaweta G., 55 Atowmjan, Lewon T., 18, 51, 64 Glikman, Isaak D., 7, 12, 34, 46, 51, 58, 63, 66, 70, 75, 77, 79, 81, 95, 96, Bach, J. S., 74, 88, 92 99101 Bakowka, 22 Gnessin-Institut, Moskau, 52 Basner, Wenjamin J., 39 Gorino, 14, 15 Berija, Lawrenti P., 54, 91 Gorinskoje, 103, 104 Blanter, Matwei I. (Motja), 29, 30, 88 Grudzowa, Olga M., 85 Bolschewo, 28, 81, 84 Bonn, 74 Haus des Schaens, 1416 Brodsky, Joseph, 87 Helsinki, 73 Hotel Moskwa, 9 Chaikin, Boris, 9, 18, 23, 88, 92 Chatschaturjan, Aram, 10, 14, 35, 57, 58, Ilisarow, Gawriil A., 99 84, 88 Isajewa, Galina I., 92, 93 Chentowa, Soa M., 7, 29, 89, 99, 100 Iwanowo, 1416, 30, 105 Chrennikow, Tichon N., 38 Chruschtschow, Grigori K., 83 Jaroslawl, 10, 43, 103 Chruschtschow, Nikita S., 30, 55, 66, 96, Jerewan, 63 Jessenin, Konstantin S., 29 97 Chudojan, Adam G., 63 Jordanville, 105 Connecticut, 104 Juscha, 105, 106 Danilow, 43, 103, 104 Kabalewski, Dmitri B., 66, 67 Denissow, Edisson, 88 Katerina Ismailowa (Oper), 66 Die Nase (Oper), 39, 100 Kellomäki, 9, 21, 22 Dolleschal, Nikolai A., 91 Kirowstraÿe, Moskau, 17, 28 Dolmatowski, Jewgeni, 89 Kitainowo, 105, 106 Dresden, 95 Koktebel, 6 Dulowa, Vera G., 70 Komarowo, 9, 2124, 35, 36, 41, 46, 48 50, 62, 66, 70 Edinburgh, 19 Komponistenverband, 27, 38, 51, 77, 89, Emka, 9 90, 9597 Ermler, Friedrich M., 49 Kondraschin, Kirill P., 100 Kortschagina-Alexandrowska, Jekaterina Fadejew, Alexander A., 43 P., 48 Fenster, Boris A., 92, 93 Krim, 6, 30 Formalismus, 32, 38, 41, 42 Krjukow, Wladimir W., 22 Fredericks, Wsewolod K., 39 107 Kuibyschew, 1012 Rappoport, Herbert, 25 Kurgan, 99 Reagan, Ronald, 103 Kutschajew, Andrei L., 5 Reich, Sinaida N., 40 Kutusow-Prospekt, Moskau, 57, 98 Repino, 101 Richter, Swjatoslaw T., 52 Lady Macbeth . . . (Oper), 32, 39, 40, 66 Roschdestwenski, Gennadi N., 101 68, 95 Rostropowitsch, Mstislaw, 16, 74, 77, 85, Lenin, Wladimir I., 53, 72 91, 99, 106 Leningrad, 9, 18, 19, 28, 30, 32, 39, 46, Ruslanowa, Lidia A., 22 64, 66, 70, 87, 92, 96, 97 Sacharow, Andrei D., 91 Marienhof, Anatoli B., 23 Samara, 10 Meyerhold, Wsewolod E., 29, 39, 40 Sartre, Jean-Paul, 72 Michailowskoje, 62 Schaginjan, Marietta S., 31 Mischor, 6 Schdanow, Andrei A., 34, 38 Molotow, Wjatscheslaw M., 74 Schneerson, Grigori, 10, 14 Morosow, Pawel T., 54 Schostakowitsch, Irina A., 101, 102 Moschaiskoje-Chaussee, Moskau, 28, 57, Schtschedrin, Rodion K., 40 59 Schukowka, 16, 48, 79, 84, 85, 91, 94, 102 Moskau, 9, 10, 14, 17, 18, 22, 25, 28, 33, Seldowitsch, Jakov B., 91 40, 50, 54, 57, 58, 62, 63, 67, 68, Serow, Iwan A., 30 71, 73, 74, 81, 83, 86, 87, 96, 97 Simferopol, 6 Mrawinski, Jewgeni A., 19 Simonow, Konstantin M., 33 Muradeli, Wano I., 32, 38, 77, 78 Sinjawski, Wadim S., 15 Mussorgski, Modest, 92 Skrjabin, Alexander N., 92 Slonim, Ilja, 11, 13 Nebolsin, Wassili W., 51 Sokolow, Nikolai, 10 New Jersey, 104 Sollertinski, Iwan I., 46, 47 Nilin, Alexander P., 5 Soschtschenko, Michail M., 3134, 75, 77 NKWD, 39 Stalin, Josef W., 32, 34, 3840, 42, 43, 51, 54, 55, 66, 84, 97, 99 Oenbach, Jaques, 92 Oistrach, David F., 55 Strauss, Johann, 92, 93 Ordynka, Straÿe in Moskau, 5, 10, 33, 34, Swiridow, Georgi W., 64, 88, 102 Swjatogorski-Kloster, 62 76, 87 Symphonien Peiko, Nikolai, 15 01., 95 Peredelkino, 6 02., 64, 75 Perwenzew, Arkadi A., 33 06., 96 Pokrowski, Boris A., 101 07., 10, 11, 39 Pospelow, Pjotr N., 96, 97 08., 14, 19, 20, 95 Prokofjew, Sergei S., 14, 15, 19, 32, 34, 10., 96 38, 54, 55, 88 15., 100 Ptiza, Klawdi B., 19 Sächsische Schweiz, 95, 96 Puschkin, Alexander S., 47, 62, 94, 98 Tarzan, 59 108 Tischtschenko, Boris I., 48, 88, 90, 92 Tmutarakan, 83 Trauberg, Leonid S., 50 Tschaikowski, Peter I., 92, 95 Tschorny, Sascha, 77, 96 Tschukowski, Jewgeni, 5, 6, 85 Tschukowski, Kornei I., 5, 6, 85 Tuchatschewski, Michail N., 39, 40 Tur, Alexander F., 18 Ulanowa, Galina S., 23 Ustwolskaja, Galina I., 88 Utkin, Iossif P., 65 Wagner, Richard, 95 Warsar (Eltern Nina W. Schostakowitschs), 39, 48, 54 Williams, Pjotr, 10 Wischnewskaja, Galina P., 85, 91 Wolkonski, Andrei M., 55 Wright, Gebrüder, 10 ZK-Beschluss zu Muradeli, 32, 38, 42 109
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