Buchbesprechung · Book Review

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Forsch Komplementmed 2015;22:137–138
Colin T. Campbell, geboren 1934, ist einer der bekanntesten Ernährungswissenschaftler weltweit. Seine Bekanntheit verdankt er
nicht zuletzt einer der größten epidemiologischen Studien, dem
China-Cornell-Oxford-Projekt, welches in den 1970er- und
1980er-Jahren unter seiner wissenschaftlichen Leitung durchgeführt wurde. Seiner Meinung nach ist das Ergebnis dieser Untersuchung, dass ein zu hoher Anteil tierischer Nahrung der menschlichen Gesundheit schadet. Eine überwiegend vegane Ernährung
hingegen reduziere das Risiko für Krebs, Diabetes, Autoimmunund Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In dem hier vorgestellten Buch
rät Campbell daher seinen Lesern, «so viele verschiedene pflanzliche Nahrungsmittel wie möglich» zu essen (S. 11).
In diesem Werk beschreibt Campbell auf rund 300 Seiten das
ökonomisch-politische Konfliktfeld, dem die Ernährungswissenschaften ausgesetzt sind. Seine Thesen sind weit entfernt von Verschwörungstheorien: er beschreibt vielmehr glaubhaft, auf welch
sublime und machtvolle Weise Einfluss genommen wird auf die
Forschung und Verbraucher, auch worin systematische Fehler des
Forschungsbetriebs selbst sowie der Gesellschaft im Ganzen bestehen. Er leistet durchaus mehr als der Buch-Titel verspricht, indem
er nicht zuletzt kritisch zur Wissenschaftstheorie aus ganzheitlicher Sicht Stellung nimmt und auch global-ökologisch argumentiert.
Zunächst skizziert er das Problemfeld, insbesondere den ökonomischen Druck. Er konstatiert, dass die Medikamentenpreise weit
stärker angestiegen sind als die Inflationsrate, bezweifelt jedoch,
dass diese ihr Geld wert seien, denn die «Nebenwirkungen genau
dieser Medikamente stellen nach Herzerkrankungen und Krebs die
dritthäufigste Todesursache dar» (S. 6). Dagegen sei es aus «wirtschaftlicher Sicht (…) geschickt, tausende verschiedene Krankheiten zu unterscheiden und für jede einzelne eine spezifische Arznei
herzustellen und zu verkaufen (…)» (S. 21).
Hinsichtlich des Reduktionismus in der Forschung und dessen
Gefahren, die er sieht, nimmt er dezidiert Stellung, wobei er dessen
Erfolge nicht verschweigt: «Tatsächlich ist die reduktionistische
Forschung für einige der grundlegendsten Erkenntnisse der vergangenen Jahrhunderte verantwortlich. Von der Anatomie über
Physik, Astronomie und Biologie bis hin zur Geologie brachten
uns die gezielten, kontrollierten Experimente des Reduktionismus
zu einem größeren Verständnis des Universums und erhöhten unsere Möglichkeiten, darin zu agieren.» (S. 51). Dabei sieht er «Ho-
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lismus (…) nicht (als) das Gegenteil von Reduktionismus, vielmehr
(umfasse dieser) den Reduktionismus, so wie jedes Ganze seine
Teile» (S. 51). Zu seinem Bedauern werde Ganzheitlichkeit oftmals
mit Esoterik gleichgesetzt. Aber «(i)ronischerweise (sei) diese Ablehnung des Holismus durch Wissenschaftler der Gipfel des Dogmatismus, ein fundamentaler Standpunkt, der die Möglichkeit irgendeiner Wahrheit abseits der reduktionistisch erworbenen Erkenntnis negiert» (S. 51). So sei ein Apfel mehr als die Summe seiner Teile, also mehr als dessen Wirkstoffe im Einzelnen (S. 66).
Zudem lasse sich seiner Auffassung nach die reduktionistische
Forschung leichter instrumentalisieren, denn es sei «ganz leicht
(…) Experimente anzusetzen, die (je) genau das Gegenteil» einer
These zeigten, «nämlich dass Milch Krebs verhindert, dass Fischöl
das Gehirn schützt, dass die Aufnahme von viel tierischem Eiweiß
und Fett den Blutzucker stabilisiert und Adipositas und Diabetes
vorbeugt.» (S. 65).
Ebenso wendet sich Campbell gegen den genetischen Determinismus. Er, der Ernährungswissenschaftler, beobachtete beispielsweise bei Kindern auf den Philippinen, dass diejenigen, die mit der
Nahrung das meiste Eiweiß aufnahmen, auch das höchste Risiko
für ein Leberkarzinom entwickelten (S. 34). Den genetischen Determinismus betrachtet Campell schlechterdings als ein mögliches
psychologisches Hemmnis, die Ernährung umzustellen, sofern dieser einen dazu verführe, zu meinen, man könne ohnehin nichts
durch eine Verhaltensänderung erwirken (S. 126). Dagegen zeigen
epidemiologische Studien, die vor 40–50 Jahren begonnen wurden,
dass Menschen, die aus ihrer Heimat ausgewandert sind, das
Krebsrisiko des Gastlandes annehmen (S. 134). Er schreibt: «Wir
fanden bei unseren eigenen Tierversuchen und bei der Überprüfung bestimmter Populationen wie in der China-Studie immer
mehr Hinweise darauf, dass es bei der Krebsentstehung um die Ernährung und nicht um Gene oder Kanzerogene geht» (S. 139). Obgleich Campbell Sohn eines Milchbauern ist, beschrieb er bereits
1980 in «Federation Proceedings», dass nach den Kriterien einer
US-amerikanischen Gesundheitsorganisation (CBS) «das Eiweiß
der Kuhmilch als kanzerogen eingestuft werden müsse, da Milchtrinken zu Krebs führt, während umgekehrt der Verzicht auf Milch
das Krebswachstum stoppt bzw. zur Remission führt» (S. 140). Er
beklagt, dass «(d)ie Bedeutung einer vollwertigen, pflanzenbasierten (besonders antioxidanzen- und faserreiches Gemüse) Ernährung (…) im Grunde nur von Anhängern der alternativen und
präventiven Medizin akzeptiert» werde (S. 26).
Als ein weiteres mögliches Hemmnis, die Ernährung auf gesunde Kost umzustellen, hat Campbell die Tricks der Nahrungsergänzungsmittelindustrie ausgemacht. Mindestens sieht er die Gefahr in einer Form des Selbstbetrugs, dass man bei der Einnahme
derartiger Mittel glauben könne, man müsse sonst nicht auf die
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Campbell, T.C.
InterEssen. Ernährungswissenschaft zwischen Ökonomie und
Gesundheit
Deutsche Übersetzung von Markus Vieten
Aachen, Systemische Medizin, 2014, 321 Seiten, 29,99 EUR
ISBN 978-3-86401-034-7
138
Forsch Komplementmed 2015;22:137–138
Campbells Buch ist so geschrieben, dass es jeder ohne wissenschaftliche Ausbildung verstehen kann. In Teilen gibt der Autor
seinen Lesern sogar ein Seminar in Biochemie (S. 93 ff., insbesondere 101 ff.) oder erklärt im historischen Kontext die Bedeutung
des ICD 10 (S. 152). Etwas lästig sind allerdings die Redundanzen,
die vermutlich dadurch zustande gekommen sind, dass einzelne
Kapitel für sich publiziert wurden oder zumindest für sich stehen
sollten.
Im letzten Teil des Buches geht Campbell darauf ein, wie groß
die Rolle des Geldes ist und welchen Einfluss es auf die Wissenschaft sowie den Gesundheitsbetrieb hat. Das Geld und dessen
Wirkmacht spiegeln sich in Formen der Lobby- und der Plutokratie, wie es Campbell darstellt: von 3000 Wissenschaftlern, die von
den NIH (National Instituts of Health) Fördergelder erhielten,
«gaben 15 Prozent der Befragten zu, ‹auf Druck der Geldgeber das
Design, die Methodik oder die Ergebnisse von Studien verändert
zu haben›» so der Autor (S. 229) mit Bezugnahme auf einen Artikel
von Martinson et al. in der Fachzeitschrift Nature [1]. Campbell
schildert die politisch-ökonomischen Verquickungen am Beispiel
der USA. Das aber ist anderswo, d.h. auch in Europa nicht anders.
Um dies zu ändern, bedarf es hier wie dort einer gesellschaftlichen
Umwälzung.
Jochen Krautwald, Frankfurt/O.
Literatur
Martinson BC, Anderson MS, de Vries R: Scientists behaving badly. Nature 2005;435:737–
738.
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Ernährung achten (S. 170). Der Autor verweist darauf, dass in den
letzten 30 Jahren die Industrie für Nahrungsergänzungsmittel in
den USA dramatisch gewachsen ist. Im Jahr 2008 wurden solche
für 187 Milliarden USD verkauft. Von den erwachsenen US-Bürgern nehmen 52% regelmäßig Nahrungsergänzungsmittel (68% ab
und an). Campbell interpretiert dies als ein weiteres Beispiel für
den Reduktionismus, auch wenn er diesmal im Gewand von Natürlichkeit und alternativer Medizin daherkomme (S. 159). So attestiert er der entsprechenden Industrie, dass sie «ihre Werbeargumente noch wirkungsvoller unter das Volk als die Pharmaindustrie» bringe, doch «an der Einnahme dieser Nährstoffe (sei) nichts
Natürliches» (S. 163 f.). Als erschreckendes Beleg führt er unter
anderem eine Betacarotin-Gabe an, die im Rahmen einer Studie
verabreicht wurde und die Mortalität der Probanden so stark steigerte, «dass die Untersuchung sofort beendet wurde, um weitere
Todesfälle zu verhindern» (S. 168).
Ein meines Erachtens sehr gewichtiges Argument, das stark für
Campbells Empfehlung einer weitgehend veganen Ernährung
spricht, ist das der Ökologie. Diesem Thema widmet er zwar kein
eigenes Kapitel, bezieht es jedoch durchaus in seine Argumentation mit ein. So bemerkt er beispielsweise, dass «(d)ie Viehbestände
in den Vereinigten Staaten (…) fünfmal mehr Getreide (verbrauchen) als die gesamte Bevölkerung (S. 176).
Die intensive Viehzucht führt dazu, dass die Grundwasserspeicher des Mittleren Westens der USA geleert werden; zudem erwähnt er die Nitratproblematik, die sich aus der Rinderzucht ergibt
(S. 179). Den Anteil der Viehsucht an der Weltklimaerwärmung
gibt er mit 51 % an (S. 178).