Leseprobe - Militzke Verlag

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Schweizer Literaturgeschichte.
Die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert
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Klaus Pezold (Hg.)
Schweizer
Literaturgeschichte
Die deutschsprachige Literatur
im 20. Jahrhundert
militzke
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Impressum-Ebook_Satz 12_bis96(KorrVorw)_2 04.05.12 13:23 Seite 4
Die »Schweizer Literaturgeschichte. Die deutschsprachige Literatur
im 20. Jahrhundert« wurde herausgegeben von Klaus Pezold, Leipzig.
Die Texte wurden von einem Leipziger Autorenkollektiv verfasst:
Christa Grimm
Armin Gerd Kuckhoff †
Birgit Lönne
Klaus Pezold
Klaus-Dieter Schult
Wladimir Sedelnik
Ilona Siegel
mit Spezialbeiträgen von
Michael Böhler
Dieter Fringeli †
Manfred Gsteiger
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Copyright gebundene Ausgabe: 2007, Militzke Verlag e.K., Leipzig
© Copyright Ebook: 2012, Militzke Verlag GmbH, Leipzig
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Julia Lössl
Schlussredaktion: Oliver Tekolf
Register: Andreas Förster, Sascha Kranz
Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Ralf Thielicke
ISBN 978-3-86189-698-2 (Ebook)
ISBN 978-3-86189-734-7 (Buch)
Besuchen Sie den Militzke Verlag im Internet unter:
http://www.militzke.de
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Inhalt
Vorwort — 10
Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert
Vom Tod Gottfried Kellers bis zum Ende der zwanziger Jahre — 15
Literatur und Gesellschaft (Klaus-Dieter Schult, Ilona Siegel,
Wladimir Sedelnik) — 15
Insel im Sturm – die Schweiz in den Jahren des Ersten Weltkriegs — 22
Zwischen Aufbruch und Krise – die zwanziger Jahre — 27
Hauptlinien der literarischen Entwicklung von der Jahrhundertwende
bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (Ilona Siegel) — 29
Heimatliteratur und traditionelles Erzählen – Ernst Zahn, J. C. Heer,
Alfred Huggenberger und andere — 31
Ansätze zu Sozialkritik in Bauernroman und Dorfnovelle bei
Heinrich Federer und Jakob Bosshart — 36
Geschichte und Gegenwart im Frühwerk von Maria Waser
und Robert Faesi — 39
»Ein klassischer Sonderfall« – Carl Spitteler — 40
Die »epische Dekade« — 44
Ein verkannter Klassiker der Moderne – Robert Walser — 52
»Aufbruch des Herzens« – die Lyrik — 58
Theatersituation und Dramatik — 62
Die Literatur der zwanziger Jahre (Wladimir Sedelnik) — 66
»Rufer in der Wüste« – das Spätwerk Jakob Bossharts — 66
Expressionismus in der Schweiz — 69
Die große Unruhe des »halben Menschen« – der frühe Albin
Zollinger — 74
»Dichter im Abseits« — 75
Zwischen Enge und Weite – Felix Moeschlin, Meinrad Inglin,
Jakob Schaffner — 80
»Rebellen gegen den Seldwylergeist« – Jakob Bührer, Robert Walser,
Friedrich Glauser und andere — 86
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Zwischen Selbstbehauptung und Selbstbeschränkung
Die Literatur der Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg
(Klaus-Dieter Schult) — 95
Literatur und Gesellschaft unter den Konstellationen
der Geistigen Landesverteidigung — 95
Entwicklungslinien der Literatur in den dreißiger und
frühen vierziger Jahren — 106
Auf der Suche nach dem neuen Menschen – Maria Waser, C. I. Loos,
Cécile Lauber, Traugott Vogel — 106
Arbeiterliteratur zwischen Emanzipation und Selbstaufgabe — 110
Wende nach links – Jakob Bührer, R. J. Humm, Hans Mühlestein,
Albert Ehrismann — 113
»Ich schreie Protest« – Albin Zollinger — 122
Meinrad Inglins »Schweizerspiegel“ — 129
Romane in der Gunst der Leser — 132
Aspekte der Lyrikentwicklung — 135
Dominanz des Historischen im Drama — 139
Außenseiter und Außenseiterinnen – Ludwig Hohl und Adrien Turel,
Annemarie Schwarzenbach und Lore Berger — 142
Die literarische Situation des Nachkriegs — 144
Der Roman nach 1945 — 144
Traditionen und Neuansätze in der Lyrik (Birgit Lönne) — 149
Der Durchbruch zur Welt
Werk und Wirkung Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts — 159
Max Frisch (Christa Grimm) — 159
Frühe Publizistik und literarische Anfänge — 160
Die Erfolge des Epikers in Tagebuch und Roman — 164
Der Aufstieg des Dramatikers zum Welterfolg — 173
Kontinuität und Diskontinuität im Spätwerk — 179
Friedrich Dürrenmatt (Armin-Gerd Kuckhoff) — 187
Frühe Prosa — 191
Kriminalromane und -erzählungen — 193
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Die Hörspiele — 197
Die Kette der Dramen — 199
Die ›inkommensurablen‹ Arbeiten des Spätwerks — 210
Die Jahrzehnte des Aufschwungs
Literatur und literarisches Leben in den sechziger, siebziger
und achtziger Jahren (Klaus Pezold) — 218
Die neuen Konstellationen im Verhältnis von Literatur
und Gesellschaft — 218
Der Zürcher Literaturstreit — 221
Ein Roman als »offen umkämpftes Politikum« — 224
1968 und die Folgen — 225
Positionen beim Übergang in die siebziger Jahre — 229
Eine neue Autorengeneration und ihre Aktivitäten — 231
Veränderungen in der Verlagslandschaft — 233
Notwendigkeit und Grenzen der Literaturförderung — 235
Theater und Film als Partner der Literatur — 236
Die Erzählprosa der sechziger und frühen siebziger Jahre — 237
Stufen des Übergangs zu neuem Erzählen bei Hans Boesch,
Herbert Meier und Gertrud Wilker — 239
Erste Höhepunkte des zeitgenössischen Romans – Otto F. Walter
und Hugo Loetscher — 246
Früher Ruhm und weiterer Weg des Erzählers Peter Bichsel — 251
Konsequente Gesellschaftskritik und rigorose
Selbstbefragung – Walter Matthias Diggelmann — 257
Erfahrungen und Schreibanlässe der neuen Autorengeneration — 262
»Schreibpassion« und »autobiographische Chronik« – Paul Nizon — 272
Lebenszeichen und groteske Todesbilder – Jürg Federspiel — 275
Arbeiter und Arbeiterbewegung als Gegenstand
erzählender Prosa — 278
Verpflichtung auf die Wirklichkeit – die sprachbewußte und
gesellschaftskritische Lyrik seit den sechziger Jahren (Birgit Lönne) — 283
Religion und Revolte — 287
Die Lust an der Wirklichkeit — 290
Neue Tendenzen im Naturgedicht — 294
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Veränderungen im Wechselspiel von Literatur und Gesellschaft
seit Mitte der siebziger Jahre — 298
Schriftstellervereinigungen, Literaturförderung und
literarisches Leben — 303
Verlagslandschaft und Medien — 308
Hauptlinien der Literaturentwicklung seit Mitte
der siebziger Jahre — 315
Gewandelte Wirkungsstrategien und neues Traditionsbewußtsein — 317
Die Stellung der Prosa und ihr thematisches Spektrum — 320
Genreentwicklung und Vielfalt der literarischen Handschriften — 328
Die wachsende Rolle experimenteller Prosa — 333
Formen und Leistungen zeitgenössischen Erzählens — 338
Der Erzähler Gerhard Meier — 339
Adolf Muschg als Repräsentant der mittleren Autorengeneration — 344
Die Stunde der Autorinnen — 349
Selbsterkundungen eines »Über-die-Grenzen-Gehers« –
Walter Vogt — 355
Zwischen Komik und Groteske – Formen phantastischen Erzählens
bei Serge Ehrensperger, Gerold Späth, Urs Widmer
und Franz Hohler — 358
Schreiben als »lebensrettende oder –verlängernde
Langzeitmaßnahme« – Hermann Burger — 365
Individuelle Erfahrung und Gesellschaftsbezug in der Prosa
E. Y. Meyers, Gertrud Leuteneggers, Christoph Geisers
und Franz Bönis — 370
Der Beitrag der jüngsten Generation zur Erzählliteratur
der achtziger Jahre — 386
Versuche auf dem Feld der Dramatik – Bemühungen
Deutschschweizer Autoren um das Theater seit den
frühen sechziger Jahren — 392
Der Dramatiker und Erzähler Thomas Hürlimann — 399
Literatur und Gesellschaft »am Ende einer Epoche« — 407
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Agonie und neue Blüte
Die Mundartliteratur im Wandel (Dieter Fringeli) — 419
Das Verhältnis der Deutschschweizer Autoren
zur Schriftsprache (Michael Böhler) — 442
Die Sprachsituation in der deutschen Schweiz — 444
Die Frage nach einer Schweizer Literatursprache — 446
Die Beziehungen der deutschschweizerischen zu den anderssprachigen Literaturen in der Schweiz (Manfred Gsteiger) — 455
Vom Helvetismus bis zur Geistigen Landesverteidigung — 456
Eigenständigkeit und Wechselbeziehungen der Literaturen
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — 460
Anhang — 469
Autoren des Bandes — 469
Verzeichnis der Abkürzungen — 470
Anmerkungen und Zitatnachweise — 471
Personen- und Werkregister — 505
Bildnachweise — 528
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Vorwort
Die hier in durchgesehener und erweiterter Fassung wieder vorgelegte
Literaturgeschichte erschien erstmals 1991 bei Volk und Wissen (Berlin).
Die Unterstützung durch die Schweizer Kulturstiftung »Pro Helvetia« hatte es dem Verlag noch ermöglicht, das seit Ende 1989 vorliegende Manuskript zu veröffentlichen. Die damals bereits einsetzenden Veränderungen
seiner Struktur und Arbeitsbedingungen führten jedoch dazu, daß er den
Titel nur wenige Jahre im Programm halten konnte. Die Autoren der
Literaturgeschichte sind daher dem Militzke Verlag Leipzig besonders
dankbar für seine Entscheidung, ihre Arbeit nun in sein Programm zu
übernehmen und sie so interessierten Lesern auch wieder auf dem Buchmarkt zugänglich zu machen.
Die deutschsprachige Literatur aus der Schweiz hatte in den letzten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend Beachtung gefunden. Und
dies nicht nur im deutschen Sprachraum, wie etwa die intensive Forschungsund Publikationstätigkeit von Literaturwissenschaftlern vor allem in den
Niederlanden, in Großbritannien und Russland auf diesem Gebiet belegt.
Auch in den literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen der Zeit
wurde diesem Umstand auf verschiedene Weise Rechnung zu tragen versucht. Allerdings erwiesen sich dabei alle Varianten als problematisch, bei
denen Schweizer Autoren mehr oder weniger direkt der Literatur der
Bundesrepublik zugeordnet wurden, während gleichzeitig die Literatur
in der DDR und zumeist auch die Österreichs gesondert abgehandelt
wurde. Die hierüber geführten Debatten machten deutlich, daß deutschsprachige Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht durch
die Beziehung zwischen einem Zentrum und verschiedenen Randbereichen zu definieren ist, sondern – um mit dem slowakischen Spezialisten
für vergleichende Literaturwissenschaft Dýoniz Ďurišin zu sprechen – nur
als »interliterarische Gemeinschaft« aller Literaturen deutscher Sprache.
Daher erschien die zuerst in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart (Zürich/München 1974 ff.) praktizierte Lösung am überzeugendsten, bei der
Betrachtung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die literaturgeschichtliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland, in Österreich und in der
deutschsprachigen Schweiz als methodologisch gleichwertige Gegenstände zu behandeln. Denn erst auf der Grundlage einer Erforschung und
Darstellung ihrer jeweiligen Spezifik wird es möglich, zu einem realen Be10
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griff jener übergreifenden Einheit »deutschsprachige Literatur« zu gelangen und ihre inneren Zusammenhänge und Wechselbeziehungen erfassen
zu können.
Als eine Besonderheit der literarischen Situation in der Schweiz fällt
von vornherein ins Auge, daß das Jahr 1945 für sie aus naheliegenden
Gründen keine vergleichbare Bedeutung gehabt hat wie für die anderen
Teile des deutschen Sprachgebiets. Parallel zu den Darstellungen innerhalb
der zuvor schon im Verlag Volk und Wissen erschienenen Geschichte der
deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (Bd. 11: Literatur der
DDR, Berlin 1976; Bd. 12: Literatur der BRD, Berlin 1983) eine Geschichte
der deutschsprachigen Schweizer Literatur seit Ende des zweiten Weltkrieges zu schreiben, erschien daher wenig sinnvoll. Die Entscheidung,
statt dessen einen literaturgeschichtlichen Überblick über das 20. Jahrhundert anzustreben (bei besonderer Akzentuierung der Literatur seit Frisch
und Dürrenmatt), gründete auf folgenden Überlegungen:
Die seit etwa 1960 in der Deutschschweiz entstandene Literatur (und
zuvor schon das Werk von Frisch und Dürrenmatt) hat ein eigenes Traditionsverständnis entwickelt, das nachdrücklich auf Namen aus der ersten
Jahrhunderthälfte wie Robert Walser, Albin Zollinger, Friedrich Glauser
oder Jakob Bührer hinwies und der Literatur »zwischen Keller und Frisch«
(Beatrice von Matt) zunehmend einen bedeutenden Platz im literarischen
Leben der Gegenwart verschafft hat, woran Bemühungen der Schweizer
Germanistik seit den siebziger Jahren einen wesentlichen Anteil gehabt
haben. Diese im allgemeinen auch außerhalb der Schweiz wenig bekannte
›Vorgeschichte der Gegenwart‹ mit bewußt zu machen, erschien daher unumgänglich. Daß bei diesem notwendigen Rückblick auf das ganze 20.
Jahrhundert nicht formal mit dem Jahr 1900 eingesetzt werden konnte,
wurde in der Diskussion über das Projekt – nicht zuletzt auch mit Kollegen
aus der Schweiz – schnell klar. Die eigentliche literaturgeschichtliche Zäsur
lag in den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts; der Tod Gottfried
Kellers bot sich dafür als innerliterarischer Fixpunkt ebenso an wie die
600-Jahrfeier der Eidgenossenschaft als ein solcher unter historisch-gesellschaftlichem Aspekt. Ein vergleichender Blick auf die literarischen Zentren
des deutschen Kaiserreichs (mit der Entfaltung des Naturalismus in Berlin)
und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (mit dem Fin-desiècle in Wien) ließ die Besonderheit der Schweizer Situation in jener Zeit
besonders deutlich hervortreten. Von da aus leitete sich der Versuch ab,
drei größere literaturgeschichtliche Phasen der weiteren Entwicklung voneinander abzuheben: die Zeit bis Ende der 1920er Jahre, die Jahrzehnte vor
und nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich die ›Gegenwart‹ seit
etwa 1960, dazu – zwischen dem zweiten und dritten Teil stehend – ein
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spezielles Kapitel, das den Weg von Frisch und Dürrenmatt zum Weltruhm nachzeichnet. Der für den letzten Teil ursprünglich gesetzte Schlußpunkt resultierte aus der Terminierung der Arbeit an der Literaturgeschichte, die im Herbst 1989 abgeschlossen sein sollte, und war damals mit
»Ende der achtziger Jahre« des 20. Jahrhunderts nur sehr vage zu bestimmen. Bereits 1991, im Jahr ihres Erscheinens, zeichnete sich dann jedoch
eine neue Situation auch für die Deutschschweizer Literatur ab, der weit
eher der Charakter einer literaturgeschichtlichen Zäsur zuerkannt werden
kann. Dem Tod Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs kommt dabei eine
ähnlich zeichenhafte Bedeutung zu wie hundert Jahre zuvor dem Tod
Gottfried Kellers. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß hiermit das
Ende der deutschsprachigen Schweizer Literatur angezeigt worden wäre –
dieser voreiligen und oberflächlichen These in einigen publizistischen
Beiträgen vor und nach den Solothurner Literaturtagen 1991 ist mit Recht
von kompetenten Stimmen aus Literaturkritik und Literaturwissenschaft
sofort widersprochen worden. Die Literatur der 1970er und 1980er Jahre
war zwar keine nach, sondern immer noch eine mit Frisch und Dürrenmatt, aber beide waren, auch wenn ihr Gesamtwerk einen einmaligen
Höhepunkt der Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert darstellt, zu dieser
Zeit schon nicht mehr in vergleichbarer Weise bestimmend für diese wie
in den 1960er oder gar so allein repräsentativ wie in den 1950er Jahren.
Für sich allein genommen, hätte ihr Tod also noch keine literaturgeschichtliche Zäsur bedeuten müssen. Doch fiel er mit einer veränderten welthistorischen Situation, dem Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric
Hobsbawm), zusammen, was auch Konsequenzen für die Schweiz hatte
und nicht zuletzt jene Autoren, die sich in ihrer Grundhaltung Frisch und
Dürrenmatt verbunden fühlten, vor veränderte Bedingungen ihres Wirkens stellte. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Gesellschaften
Ost- und Mitteleuropas, die Beendigung des Kalten Krieges durch einen
politischen und ökonomischen Sieg des Westens und der damit verbundene »Anschluß, der Beitritt genannt wurde« (Günter Grass) der DDR an die
BRD kamen nicht nur überraschend, sondern schufen auch neue Realitäten, denen nicht mehr mit alten Denkmodellen beizukommen war. Eine
für die Neuauflage möglich gewordene gewisse zeitliche Erweiterung der
Literaturgeschichte bot Gelegenheit, diese widerspruchsvolle Situation zu
Beginn der 1990er Jahre zumindest skizzenhaft zu erfassen und so die
Darstellung zu einem organischeren Abschluß zu führen, als das 1989/
1990 möglich gewesen ist. Außerdem konnten nun bei einzelnen Autoren
noch wichtige Werke aus der Zeit des Übergangs zu den 1990er Jahren mit
berücksichtigt werden.
Bei der Erarbeitung der vorliegenden Literaturgeschichte als einem Pro12 | Vorwort
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jekt universitärer Forschung hatten die Autoren in erster Linie die Studenten als Adressaten im Auge, dazu den interessierten Leser neuerer Literatur generell, der »alles mögliche liest« und der sich darüber informieren
möchte, »was das Gelesene in einem größeren Zusammenhang bedeutet«
(Werner Krauss). Dies verlangte, um eine nach wie vor gültige Unterscheidung zu bemühen, die Goethe 1806 in einer Rezension in der Jenaischen
Allgemeinen Literaturzeitung getroffen hat, Geschichte nicht »für die Wissenden«, sondern »für die Nichtwissenden« zu schreiben:
»Bei der ersten setzt man voraus, daß dem Leser das Einzelne bis zum
Überdruß bekannt sei. Man denkt nur darauf, ihn auf eine geistreiche
Weise, durch Zusammenstellungen und Andeutungen an das zu erinnern,
was er weiß, um ihm für das zerstreute Bekannte eine große Einheit der
Ansicht zu überliefern oder einzuprägen. Die andere Art ist, wo wir, selbst
bei der Absicht, eine große Einheit darzustellen auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind.«
Dies gilt für die Vielzahl der in ihrer Gesamtheit das literarische Leben
eines Landes prägenden Autorinnen und Autoren und literarischen Werke
ebenso wie für das, was der bedeutende Romanist Werner Krauss die
»spezifisch literarischen Umweltverhältnisse« genannt hat, die verschiedenen Faktoren, die die komplexe Einheit von Produktion, Distribution
und (vor allem innerliterarischer) Rezeption beeinflussen. Eine diffizile
Analyse der wesentlichsten literarischen Texte kann demgegenüber von
einer – zudem an einen begrenzten Umfang gebundenen – literaturgeschichtlichen Darstellung nicht erwartet werden. Jedoch versucht die hier
vorliegende zumindest von ihrer Anlage her, die Aufmerksamkeit des
Lesers auch auf besonders wichtige Einzelleistungen zu lenken und diese
wenigstens ansatzweise in ihrer ästhetischen Eigenart zu würdigen.
Die hier in durchgesehener und erweiterter Neuauflage wieder vorgelegte Literaturgeschichte entstand in den 1980er Jahren an der damaligen
Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft der Karl-Marx-Universität
Leipzig. Sie war Ergebnis längerer gemeinschaftlicher Arbeit von Lehrkräften, Nachwuchswissenschaftlern und Doktoranden, an der die verantwortliche Redakteurin des auftraggebenden Verlages Volk und Wissen
Hannelore Prosche aktiven Anteil hatte. Als Spezialist für die Literatur der
zwanziger Jahre übernahm Wladimir Sedelnik vom Moskauer Gorki-Institut für Weltliteratur das entsprechende Kapitel der Literaturgeschichte.
Auch haben zahlreiche unserer Studenten dieser Zeit mit ihren Diplomarbeiten einen Beitrag zu dem Projekt geleistet; genutzt werden konnten
darüber hinaus – dank der Vermittlung von Michael Böhler – am Deutschen Seminar der Universität Zürich entstandene studentische Arbeiten.
Zwei 1983 und 1988 in Leipzig veranstaltete wissenschaftliche ArbeitstaVorwort | 13
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gungen boten die Möglichkeit, unsere Sicht auf die deutschsprachige
Schweizer Literatur in der Diskussion mit Fachkollegen aus verschiedenen
Ländern kritisch zu überprüfen. Besonders wichtig war dabei das Mitwirken der direkt als Verfasser von Spezialkapiteln bzw. als Konferenzteilnehmer beteiligten Schweizer Kollegen Michael Böhler, Dieter Fringeli,
Manfred Gsteiger, Peter von Matt, Christoph Siegrist, Martin Stern und
Hellmut Thomke – ebenso aber auch der Einsatz von Elsbeth Pulver, Peter
André Bloch, Karl Fehr und Christiaan Hart Nibbrig, die unser Vorhaben
damals durch Gastvorträge an der Universität Leipzig gefördert haben.
Elsbeth Pulver hat darüber hinaus zusammen mit Dominik Müller im Mai
1991 an der Vorstellung unserer Literaturgeschichte bei den Solothurner
Literaturtagen mitgewirkt, was für deren positive Aufnahme in der Schweiz
sehr förderlich gewesen ist. Für all das schulden wir diesen Kolleginnen
und Kollegen großen Dank.
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Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert
Vom Tod Gottfried Kellers
bis zum Ende der zwanziger Jahre
Literatur und Gesellschaft
(Klaus-Dieter Schult, Ilona Siegel, Wladimir Sedelnik)
Tausende Schweizerinnen und Schweizer machten sich im Sommer des
Jahres 1891 auf den Weg in das Städtchen Schwyz, um auf historischem
Boden den 600. Jahrestag der Gründung der Eidgenossenschaft feierlich zu
begehen. Dort, wo einst die Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden
ihren Bund im Kampf gegen die Habsburger beschworen hatten, ließ man
nun in einem großen Festspiel Geschichte wieder lebendig werden.
Wenige Wochen später veranstaltete Bern, zugleich zurückblickend auf
700 Jahre Stadtgeschichte, eine viertägige Feier, die ebenfalls in einem Festspiel ihren Höhepunkt fand. Über 1.100 kostümierte Darsteller, 500 Sängerinnen und Sänger und ein hundertköpfiges Orchester boten dem
Zuschauer eine Folge historischer Bilder, die zur Identifikation mit den
heldenhaften Ahnen verführen konnten, die es vermochten, Gefühle von
Größe und Erhabenheit zu wecken.
Wie in Bern und Schwyz, so feierte man im ganzen Land. Erstmals wurde in diesem Jahr der 1. August als offizieller Bundesfeiertag begangen.
Stolz und Selbstbewußtsein prägte die Reden, die historischen Umzüge
und die Festspiel-Inszenierungen. Überall erhielt der nationale Gedanke
belebende Impulse. Daß er nicht zu einem solch aggressiven Nationalismus entartete, wie man ihn zur gleichen Zeit in der Innen- und Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches und der k.u.k. Monarchie ÖsterreichUngarn beobachten konnte, war der Kleinstaatlichkeit der Schweiz, vor
allem jedoch dem Vorhandensein starker demokratischer Traditionen und
darauf gegründeter Gesellschaftsstrukturen geschuldet.
Über 500 Jahre existierte die Schweizerische Eidgenossenschaft als oft
sehr lockerer Staatenbund, in dem die kleinstaatlichen Interessen der Kantone zumeist über denen der Gemeinschaft standen. Erst 1847/48 – nachdem im »Sonderbundskrieg«1 die bürgerlich-liberalen Kräfte den entscheidenden Sieg über das konservative Lager errungen hatten – ging man mit
Konsequenz an die Schaffung eines Bundesstaates. Am 12. September 1848
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wurde eine Verfassung angenommen. Sie sicherte fortan nicht nur die
zumeist in den dreißiger Jahren bereits erstrittenen demokratischen
Grundrechte und Freiheiten, sondern bot mit der Festschreibung des föderalistischen Prinzips auch die Rahmenbedingung, um dieses vielgestaltige
und widersprüchliche Staatsgebilde mit seinen vier Sprachgebieten, mit
seinen differenzierten wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und kulturellen
Interessensphären zusammenzuhalten. Während die Kantone weiterhin in
allen Belangen des Gerichtswesens, der Schulbildung, der Presse, in Kultur- und Kirchenangelegenheiten die Entscheidungshoheit behielten, sollte
der Bund mit Bundesversammlung (Legislative) und Bundesrat (Exekutive) von nun an alle Grundsatzentscheidungen der Innen-, Wirtschaftsund Finanzpolitik treffen. In seinen Kompetenzbereich fielen auch, bei
Pflicht zur Wahrung der auf dem Wiener Kongreß von 1815 völkerrechtlich
verankerten »immerwährenden Neutralität« der Schweiz, die Belange der
Außen- und Militärpolitik.
Die Schweizerinnen und Schweizer haben ihr Land immer wieder
als ›Willensnation‹ gesehen, als empfindlichen Mechanismus aus gegenseitigen Übereinkünften, geschaffen zum allgemeinen Nutzen. Dieser Mechanismus bedurfte der Veränderung und Vervollkommnung, sollte er, bei
sich wandelnden inneren und äußeren Bedingungen, funktionstüchtig
bleiben. Bereits 1874 verabschiedete man eine neue, total revidierte Verfassung, die sowohl den Interessen der erstarkenden Wirtschaft nach mehr
Zentralisation wie den Forderungen der Bürger nach mehr Mitspracherecht (Einführung des Referendums) genügen sollte. Seitdem hat es zahlreiche Korrekturen – eine der wichtigsten betraf die Sicherung des Volksinitiativerechts –, jedoch keine neuerliche Totalrevision der Verfassung
mehr gegeben. Das spricht für die Flexibilität der ursprünglichen Staatskonzeption, für ihre tatsächliche Liberalität, das spricht aber auch für ein
gehöriges Maß an Konservatismus im politischen Leben der Schweiz.
Die Sorge, der empfindliche Mechanismus ›Willensnation‹ könnte durch
Unbedachtsamkeit zerstört werden, war immer groß. Sie zog eine teilweise
übertriebene Bereitschaft zum Kompromiß nach sich, sie beförderte die
Neigung, auf dem einmal Erreichten mit Selbstgenügsamkeit zu beharren.
Gegen dies »plump zierliche Behagen im eigenen Felle«2 und die davon
ausgehende Gefahr, an den Realitäten des Alltags wie an den Forderungen
der Zukunft vorbeizusehen, haben sich nicht zuletzt zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Schweiz immer wieder ausgesprochen.
So machte Gottfried Keller (1819-1890) noch in seinem Altersroman
Martin Salander (1886) seine Landsleute darauf aufmerksam, daß sich die
bürgerliche Gesellschaft bereits weit von ihren einstigen Idealen entfernt
habe, daß – bei aller Demokratie – auch in der Schweiz Geldgier und
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Profitsucht, politische Gesinnungslosigkeit und Gefühlskälte in zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr die Oberhand gewinnen könnten.
Als KELLER 1890 starb, blieb die Position des politisch aufmerksamen
Schriftstellers für Jahre unbesetzt. Und auch CONRAD FERDINAND
MEYER (1825–1898), der ähnlich wie KELLER, jedoch mit einer akzentuierten Absage an die »brutale Aktualität zeitgenössischer Stoffe«3, in seinen
Novellen einen wachsenden Widerspruch zwischen Politik und Sittlichkeit
reflektiert hatte, fand keine Nachfolge.
Für gut eineinhalb Jahrzehnte wurde die deutschsprachige Literatur des
Landes von Autorinnen und Autoren repräsentiert, deren Romane und
Erzählungen über das Niveau einer »biedermeierlichen Feierabendkunst«4
kaum hinausgelangten. Dominanz gewann die Heimatkunst, die sich
durch ihre Einbindung in die national-patriotischen Aktivitäten im Umfeld
der 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft ebenso legitimiert fühlte wie durch
die Anerkennung, die ihr von der deutschen Heimatkunstbewegung gezollt wurde. So gingen Autoren wie ERNST ZAHN, JAKOB CHRISTOPH
HEER oder ALFRED HUGGENBERGER immer wieder daran, die alpine
Bergwelt mit ihren dörflichen Gemeinschaften als einen von den ›Krankheiten‹ der Zivilisation noch unberührten Lebensraum zu gestalten. So
›gesund‹ aber, wie in ihren und in den Büchern anderer beschrieben, war
die gepriesene ›Heimat‹ durchaus nicht mehr. Längst war damit begonnen
worden, die Schweiz in einen modernen Industriestaat zu verwandeln. Die
Bauernschaft spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Allein zwischen
1888 und 1910 sank der Anteil der ländlichen Bevölkerung von 41 % auf
29 % (in Deutschland betrug er 1907 immerhin noch 34 %, in Frankreich
1911 sogar noch 41 %). Viele Bauern verließen das Land, um besonders in
Amerika eine neue Existenzmöglichkeit zu suchen. Andere hofften, in der
aufblühenden Industrie, in Städten wie Genf, Zürich oder Basel, ihr Glück
zu finden. 1880 lebten in Zürich 24.400 Menschen, zwanzig Jahre später
waren es, auch durch Eingemeindungen, etwa 150.000. In Basel wuchs die
Einwohnerzahl im gleichen Zeitraum von rund 64.000 auf 112.000. Der Prozeß der Verstädterung vollzog sich überall recht schnell, zwischen 1850 und
1910 vervierfachte sich die Anzahl der Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern.5 Mitbestimmt wurde diese Zahl durch die für die Schweiz typische Dezentralisierung der Produktion. Kleine und mittlere Unternehmen
behaupteten lange Zeit ihren Platz im wirtschaftlichen System, sicherten
doch gerade sie den für das rohstoffarme Land so notwendigen hohen
Verarbeitungs- und Veredlungsgrad in der Industrie. Die spezialisierte
›Fabrik im Dorf‹ war überall zu finden. Nicht selten gehörte zu ihrer Belegschaft eine große Zahl von Heimarbeitern. Um 1900 waren noch 14,3 %
aller abhängig Arbeitenden mit Heimarbeit beschäftigt.
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Die besondere Struktur der Schweizer Wirtschaft hat auf den Formierungsprozeß der Arbeiterklasse einen gravierenden Einfluß ausgeübt.
Bevor sie als eigenständige politische Kraft in Erscheinung treten konnte,
waren stark differenzierte berufliche, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Interessen auszugleichen. Hinzu kam, »daß in der Demokratie die
Kapitalisten zwar die Wirtschaft«, anscheinend aber nicht »die Politik
beherrschten [...] In den Räten dominierte der Mittelstand, und da auch
der Arbeiter an den politischen Rechten und Freiheiten vollen Anteil hatte
und an der Wahlurne und in der Gemeindeversammlung seinem Arbeitgeber gleichberechtigt gegenüberstand, fühlte er sich nie so entrechtet und
von der Gesellschaft ausgestoßen wie in den autoritär regierten Ländern«.6
Die stets vorhandene Neigung der schweizerischen Arbeiterbewegung
zum Reformismus hat in eben diesem Sachverhalt ihren tieferen Grund.
Schon der 1838 gegründete Grütli-Verein – »ein patriotisch-demokratischer
Verein der ›kleinen Leute‹, anfänglich hauptsächlich der Gewerbetreibenden [...], später mehr und mehr der Arbeiter«7 – suchte das Wohl der
Werktätigen auf friedlich-reformistischen Wegen zu erreichen. So war er
an der Durchsetzung zahlreicher sozialer Errungenschaften maßgeblich
beteiligt – etwa am Kampf um das Fabrikgesetz von 1877 (Festsetzung des
Arbeitstages auf 11 Stunden, Verbot der Kinderarbeit u. a.) –, seiner
Existenz ist es aber auch mit geschuldet, daß sich die Gründung einer
schweizerischen Arbeiterpartei nur nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten realisieren ließ. Ein erster Versuch 1870 scheiterte, erst 1887/88
gelang es, die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) ins Leben zu
rufen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war sie (seit 1893 in
»Kampfgemeinschaft« mit den Grütli-Verein, der 1925 dann in der Partei
aufging) eine »sozialistische Partei reformistischer Prägung« mit einer
»durchaus positiven Einstellung zum Staat«.8
Das angestrengte Ringen um eine politische und organisatorische Einheit hatte zur Folge, daß Fragen einer eigenständigen proletarischen Kultur erst sehr spät auf die Tagesordnung der Arbeiterbewegung rückten. Als
einer der ersten bemühte sich der aus Kirchberg bei Zwickau stammende,
1870 in die Schweiz emigrierte ROBERT SEIDEL (1850–1933) darum,
zumindest der Literatur einen bescheidenen Platz in den sozialdemokratischen Zeitungen Arbeiterstimme und Volksrecht einzuräumen. Eine intensivere Kultur- und Bildungsarbeit entwickelte die schweizerische Sozialdemokratie erst in den Jahren vor dem Weltkrieg. 1912 rief sie ihre Arbeiterbildungszentrale ins Leben.
Da weder die (wenigen) Arbeiterdichter noch die bürgerlichen Autoren mit ihrer Ausrichtung auf die Heimatkunst der veränderten Realität
im Lande mit Aufmerksamkeit begegnen konnten oder wollten, blieben
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wesentliche Problemfelder der Schweizer Gesellschaft am Übergang zum
20. Jahrhundert von der Literatur unreflektiert. Die »Schweiz der raschen
Industrialisierung, des expandierenden Fremdenverkehrs, des Alkoholund Tuberkuloseproblems in den Vorstädten und verstädterten Landgemeinden, die Schweiz der Auswanderer und Söldner in fremden Diensten,
der Verdingkinder und der zu langen und schlecht bezahlten Fabrik- und
Büroarbeit«9 – in der Literatur gab es sie nicht.
Die vom Bund nach 1880 mit größerer Intensität betriebene Kulturpolitik beförderte derartige Entsagungshaltungen, war sie doch vorrangig
auf Aktivitäten zur Vertiefung des vaterländischen Bewußtseins gerichtet.
Die Arbeit der 1887 geschaffenen eidgenössischen Kunstkommission, die
über einen jährlichen Kredit von 100.000 Franken verfügen konnte, »ließ
eine gewissermaßen amtlich abgesegnete nationale Kultur entstehen.
Besonders in der Malerei manifestierte sich, nach dem Durchbruch Ferdinand Hodlers, dessen Fresken im Landesmuseum noch zu vehementen
öffentlichen Auseinandersetzungen geführt hatten, eine gesellschaftspolitisch verdichtete Nationalkunst, geprägt von pathetischem Idealismus und
kriegerischem Patriotismus«10. Ergänzt wurden diese Aktivitäten durch
die Gründung der »ersten großen Kulturinstitutionen des Bundes, dem
1898 in Zürich eröffneten Landesmuseum und der 1900 in Bern errichteten
Landesbibliothek«11. Mit den Bemühungen des Bundes gingen zahlreiche
Versuche einher, auch in den Kantonen und Gemeinden das geistig-kulturelle Leben zu befördern.
Beispielhaft gelang dies mit dem »Lesezirkel Hottingen«. Gegründet
1882 als Lesemappen-Verleih im Zürcher Vorort Hottingen, entwickelte
sich der Zirkel zu einer literarischen Vereinigung, die ab 1896 regelmäßig
der Literatur und Kunst gewidmete Abende durchführte und 1902 zudem
noch einen »Literarischen Club« ins Leben rief. Im »Lesezirkel Hottingen«
vortragen zu dürfen galt als Ehre; das Gästebuch verzeichnet die Namen
von CARL SPITTELER, ROBERT WALSER, PAUL VALERY, RAINER MARIA
RILKE, THOMAS MANN, ARTHUR SCHNITZLER, HUGO VON HOFMANNSTHAL, KARL KRAUS und anderen. Eher bieder verliefen die Kränzchen im
Muraltengut und die Dichterfeiern an historischen Stätten, die aber von
vielen Mitgliedern als die eigentlichen Höhepunkte des Vereinslebens gesehen wurden. In seinem 1906 veröffentlichten Roman Imago hat CARL
SPITTELER diese Biedermeierei mit viel Ironie bedacht, zugleich Kunde
gebend davon, daß sich nun offensichtlich neben der weiterhin dominierenden Heimatkunst eine vorrangig epische Literatur zu entwickeln begann, die sich der veränderten Wirklichkeit stellen wollte.
Bestätigung fand diese Ahnung in den folgenden Jahren, als Autoren wie HEINRICH FEDERER, PAUL ILG, FELIX MOESCHLIN, JAKOB
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SCHAFFNER oder ROBERT WALSER nun Arbeiten – zumeist Debüts – vorlegten, in denen zum Teil »schon eindrückliche sozialkritische Gegenpositionen aufgebaut«12 wurden. Was diese ›Robert-Walser-Generation‹ einte,
war die Einsicht – von Walser selbst am überzeugendsten im Roman Der
Gehülfe (1908) dargeboten –, daß »das denkende und fühlende Individuum
seine gesellschaftliche Geborgenheit verloren hatte und das besitzbesessene Bürgertum seines seelischen Sinns und seiner inneren Selbstgewißheit beraubt war«13.
Neuansätze gab es zeitgleich auch im Bereich des Buchmarktes, der
Literaturvermittlung und -förderung. 1906 wurde der Paul Haupt Verlag
gegründet, 1908 folgte der Verlag Rascher & Cie. mit Sitz in Zürich und
Leipzig. Gerade dieser Verlag machte sich um die Förderung der
schweizerischen Literatur verdient – etwa mit dem von KONRAD FALKE
(1880–1942) betreuten Jahrbuch Schweizer Art und Kunst (1910/12); er widmete sich aber auch der europäischen Literatur. Dies besonders in den
Jahren des Krieges. Um unbeeinflußt von reichsdeutschen Stellen agieren
zu können, gründete Rascher 1917 ein zweites Verlagshaus nur in Zürich,
in dem die von RENÉ SCHICKELE (1883–1940) betreute Reihe »Europäische Bücher« ediert wurde. Hier erschienen ANDREAS LATZKOs Menschen
im Krieg, LEONHARD FRANKs Der Mensch ist gut, YVAN GOLLs Requiem
für die Gefallenen von Europa und viele andere bedeutende Werke dieser
Kriegsjahre. Mit seinem zweigeteilten Programm bot der Rascher-Verlag
im Grunde ein getreues Bild des literarischen Lebens, das Bild »eines weitgehenden Nebeneinanders von schweizerischer und deutscher ›moderner
Literatur‹ in diesem Land, eine Gleichzeitigkeit in getrennten Lagern«14.
Neben den neuen existierten zahlreiche traditionelle Verlagshäuser
weiter; zumeist besaßen sie nur regionale Bedeutung. Deshalb suchten
deutschsprachige Autorinnen und Autoren immer wieder den Anschluß
an die großen, leistungsstarken Verlage im benachbarten Deutschland,
hoffend, dort auch eine größere Leserschaft zu finden. Für Unterhaltungsschriftsteller wie HEER und ZAHN erfüllte sich diese Hoffnung in einem
überraschenden Maße, aber auch andere Autoren wußten durchaus Erfolge zu verbuchen. Ganz besonders interessiert an Schweizer Literatur zeigte sich der Leipziger Grethlein Verlag, der nach dem Krieg sogar eine Filiale in Zürich eröffnete und Autoren wie JAKOB BÜHRER, ROBERT FAESI,
MEINRAD INGLIN, FELIX MOESCHLIN, MAX PULVER, REGINA ULLMANN oder ALBIN ZOLLINGER betreute. 1929 wurde aus der Filiale ein
selbständiges Unternehmen, aus dem 1935 dann der Morgarten Verlag entstand.
Als bedeutende Vermittlungsinstanz zwischen Autor und Leser fungierten zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften. Dabei nahm das von JOSEPH
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VICTOR WIDMANN (1842–1911) zwischen 1880 und 1910 geleitete Sonntagsblatt der Berner Tageszeitung Der Bund eine herausragende Stellung
ein. WIDMANN, selbst Schriftsteller, setzte sich mit viel Sachverstand für
die zeitgenössische Literatur ein. Bei ihm kamen die Naturalisten zu Wort,
als einer der ersten erkannte er die Größe IBSENs, er würdigte die Arbeiten
von NIETZSCHE, SPITTELER und WALSER, er veröffentlichte Texte von
GORKI und TOLSTOI, bot aber durchaus auch Schweizer Unterhaltungsschriftstellern eine Publikationsmöglichkeit.
Stark an der Förderung einheimischer Literatur interessiert zeigte sich
EDUARD KORRODI (1885–1955). Als Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung agierte er über Jahrzehnte (1915/50) »nicht nur als Kritiker
post festum; er versuchte, den Kurs der Schweizer Literatur zu steuern,
indem er Autoren auf bestimmte Themen ansetzte und den Jungen beizubringen trachtete, was als Literatur Gültigkeit habe«15. Gefördert wurden
von ihm unter anderen ROBERT WALSER, KARL STAMM, CÉCILE LAUBER,
TRAUGOTT VOGEL, ALBIN ZOLLINGER und der junge MAX FRISCH.
Nicht selten aber hat KORRODI auch restriktiv auf die Literaturentwicklung gewirkt. Das stets vorhandene »Mißtrauen gegen politisch orientierte
Autoren«16 ließ ihn besonders in den dreißiger und vierziger Jahren zum
Exponenten einer konservativen Literaturauffassung werden.
Über wichtige Ereignisse des literarischen Lebens konnte sich der Leser
aber nicht nur in den Feuilletonspalten der Tageszeitungen, sondern auch
anhand verschiedener kultureller Zeitschriften informieren. Am Ende des
ersten Weltkrieges gab es davon in der deutschsprachigen Schweiz mehr
als zwanzig, bei nicht wenigen arbeiteten Schriftsteller in den Redaktionen verantwortlich mit: MARIA WASER bei der in Zürich erscheinenden
renommierten Monatsschrift Die Schweiz (1897/1921), FELIX MOESCHLIN
bei Schweizerland (1914/21) in Chur, HEINRICH FEDERER bei Alte und
Neue Welt (1867 ff.) in Einsiedeln.17 Dabei war es zumeist nicht allein das
Interesse an Kultur und Literatur, was diese und andere Schriftstellerinnen
und Schriftsteller veranlaßte, journalistisch zu arbeiten. Es standen dahinter auch immer ökonomische Zwänge. Vom Schreiben allein konnte – bis
auf wenige Ausnahmen und bis weit in die Gegenwart – in der Schweiz
kaum jemand leben. Man betrieb die Schriftstellerei als ›Nebenbeschäftigung‹ und ging damit zugleich dem Mißtrauen aus dem Weg, mit welchem das schweizerische Bürgertum im allgemeinen dem künstlerisch
Tätigen zu begegnen pflegte. Wie sehr solch Mißtrauen auch verinnerlicht
worden ist, wird aus einer Aussage von CARL SPITTELER deutlich:
»Wir schämen uns alle im Grunde unseres Dichternamens, wohlverstanden nicht etwa der Dichtertätigkeit oder gar der Dichtkunst, wohl aber
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der landläufigen Vorstellung, die an dem Dichternamen haftet. Dieser
Vorstellung nicht zu entsprechen, ihr vielmehr zu widersprechen, einen
kräftigeren, männlicheren und von dem übrigen arbeitsamen Volke weniger verschiedenen Typus darzustellen, ist unser aller eifrige, ja ängstliche Sorge. Keine willkommenere Schmeichelei, als wenn man uns versichert, daß man uns den Dichter nicht ansehe, noch anmerke.«18
Der Schweizer Literatur mehr Anerkennung im gesellschaftlichen Leben
des Landes zu sichern, war in Anbetracht derartiger Umstände ein vordringliches Anliegen der Autoren selbst. Um ihre Interessen besser durchsetzen zu können, gründeten einige von ihnen – CARL ALBERT LOOSLI,
HEINRICH FEDERER, HERMANN AELLEN und andere – im Jahre 1912 den
Schweizerischen Schriftstellerverein (SSV).
Das Auftreten der ›Robert-Walser-Generation‹ in der »epischen Dekade« nach 1905, die Verlagsgründungen, die Intensivierung von Literaturkritik und -diskussion, die Suche nach neuen Organisationsformen im
literarischen Leben – all das waren wichtige Ansätze, um der Schweizer
Literatur den Charakter einer
»Gau- und Lokalliteratur [...], darin die Kantonsfähnlein in allen Farben
flatterten oder gar der Gockel auf dem Kirchturm den Ton angab«19,
zu nehmen. Sie endgültig aus den Fesseln der Heimatkunst zu befreien,
dazu bedurfte es stärkerer Impulse.
Insel im Sturm – die Schweiz in den Jahren des Ersten Weltkriegs
Die Hochstimmung, mit der die europäischen Völker den Kriegsbeginn
geradezu feierten, machte auch vor den Grenzen der neutralen Schweiz
nicht halt. Mobilmachung und Grenzbesetzung wurden begrüßt als Aufbruch zu neuen Ufern, man zeigte sich inspiriert von demselben »Gefühl,
das die jubelnden Scharen der beiden Kriegsparteien und deren ›Sänger‹
beherrschte: Nun geschah endlich Großes; nun kam Bewegung in die europäische Geschichte; nun war der Alltag mit seinem lähmenden Einerlei
aufgehoben; [...] nun war wieder Gemeinschaft, wenn auch angesichts des
Todes«.20
Der Erneuerungsgedanke, überall zum Ausdruck gebracht, lief in der
deutschsprachigen Schweiz letztendlich darauf hinaus, es dem »vermeintlich im Aufbruch befindlichen nördlichen Brudervolke«21 irgendwie gleich22 | Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert
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tun zu wollen. Mit unverhohlener Sympathie und ungeachtet der Sorge,
mit der man in der französischsprachigen Schweiz an Frankreich dachte,
feierte man die anfänglichen Erfolge des deutschen Heeres im Westen.
»Die geistige, kulturelle und stammesmäßige Verbindung mit den Deutschen schien vielen wichtiger als die geschichtlich-vertragliche zu den
anderssprachigen Miteidgenossen.«22 Ein tiefer Graben tat sich auf, der
empfindliche Mechanismus ›Willensnation‹ drohte zu zerbrechen. Mahnende Stimmen wurden kaum gehört. Bereits im Oktober 1914 appellierte
KONRAD FALKE in der Neuen Zürcher Zeitung, die Gemeinsamkeiten nicht
aus den Augen zu verlieren. Am 14. Dezember dann trat CARL SPITTELER
in Zürich ans Rednerpult, um Vernunft, Menschlichkeit und nationale
Einheit einzufordern:
»Bei aller herzlichen Freundschaft, die uns im Privatleben mit Tausenden von deutschen Untertanen verbindet, bei aller Solidarität, die wir
mit dem deutschen Geistesleben pietätvoll verspüren, bei aller Traulichkeit, die uns aus der gemeinsamen Sprache heimatlich anmutet, dürfen
wir dem politischen Deutschland, dem deutschen Kaiserreich gegenüber
keine andere Stellung einnehmen als gegenüber jedem anderen Staate:
die Stellung der neutralen Zurückhaltung und freundnachbarlicher
Distanz diesseits der Grenzen.«23
Was von SPITTELER als Unser Schweizer Standpunkt formuliert wurde,
fand vorerst nur ein geringes Echo, erst 1915/16 konnte die akute Gefahr
einer Spaltung der Eidgenossenschaft allmählich beigelegt werden. Die
Informationen und Bilder vom millionenfachen Sterben ringsum wirkten
ernüchternd, Selbstbesinnung setzte ein. Der Patriotismus wurde in
»Wahrheit und Dichtung wieder eine wirkliche Macht«24. Am auffälligsten
artikulierte er sich in der ›Grenzbesetzungsliteratur‹ dieser Jahre, in welcher das »Heer […] zu einer Art Sinnbild der Eidgenossenschaft«25 stilisiert wurde. 1915 gab der SSV das Sammelbuch Grenzwacht heraus, von
KARL STAMM und MARCEL BROM erschienen die Gedichte Aus dem
Tornister (1915), von KONRAD BÄNNINGER der Band Stille Soldaten (1917).
Großen Erfolg erzielte ROBERT FAESI mit Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus
dem Schweizer Grenzdienst (1917), die man zwanzig Jahre später, den Zweiten Weltkrieg bereits vor Augen, dann auch verfilmte. Zahlreiche Erlebnisberichte von Soldaten, gedruckt in Zeitungen und Zeitschriften, ergänzten
das breite Spektrum der »Grenzbesetzungsliteratur«, mit deren Hilfe nun
nicht nur vaterländisches Bewußtsein aktiviert, sondern auch ein aufbrechendes soziales Spannungsfeld eingeebnet werden sollte. Immer sichtbarer wurde, daß »Hochkonjunktur, Kriegslieferungen und SchiebergeschäfLiteratur und Gesellschaft | 23
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te die Profite steigerten und eine hauchdünne Schicht maßlos bereicherte«,
während auf der anderen Seite »die Teuerung, der Lebensmittelmangel
und verhängnisvolle Fehler der damaligen Kriegswirtschaft und Ernährungspolitik [...] die Arbeiterschaft in Not und Elend (stürzte). Die Einrichtung der Lohnausgleichskassen für die sich im Militärdienst befindlichen
Lohnbezüger fehlte damals, ebenso die Institution der Preiskontrolle, die
Rationierung war mangelhaft, ungerecht und unsozial.«26
Zahlreiche Demonstrationen und Streiks waren besonders in den letzten Jahren des Krieges eine deutliche Antwort der Arbeiter auf die rigorose
Beschränkung ihrer Lebensmöglichkeit. An die Spitze des Kampfes stellte
sich neben die Gewerkschaften (1880 war mit nur 133 Mitgliedern der
Schweizerische Gewerkschaftsbund gegründet worden, der sich aber nach
der Jahrhundertwende sehr schnell zu einer Massenorganisation entwickelte) auch die Sozialdemokratische Partei, die 1914 noch vorbehaltlos
für die Landesverteidigung und ein entsprechendes Vollmachtenregime
des Bundes gestimmt hatte. Zwar favorisierte die SPS weiterhin einen
reformistischen Weg, schloß aber angesichts der Lage im Land und unter
dem Eindruck der internationalen Arbeiterkonferenzen in Zimmerwald
(1915) und Kiental (1916) eine Gesellschaftsveränderung mittels Revolution nicht mehr prinzipiell aus. Inwieweit LENIN, der sich seit Kriegsbeginn in der Schweiz aufhielt, auf diesen Wandlungsprozeß Einfluß gehabt
hat, ist kaum zu beantworten. Zwar gab es eine intensive Zusammenarbeit
mit WILLI MÜNZENBERG, FRITZ PLATTEN oder FRITZ BRUPBACHER, die
dem linken Flügel der Partei angehörten, die um ROBERT GRIMM vereinte
zentristische Mehrheit aber wahrte Distanz. Nicht zuletzt die Debatten in
Zimmerwald machten das deutlich.
Wie im politischen, so gab es auch im geistig-kulturellen Leben bemerkenswerte Tendenzen einer Distanzierung von fremden Einflüssen. Zwar
bot die Schweiz, anders als zwanzig Jahre später, den Kriegsgegnern aus
ganz Europa großzügig Asyl, um eine Integration der Pazifisten, Sozialisten, avantgardistischen Künstler, die da ins Land gekommen waren,
bemühte sich nur eine Minderheit von Schweizern. Dazu gehörten der
Verleger MAX RASCHER, der Arzt und Schriftsteller CHARLOT STRASSER
und der Sozialdemokrat FRITZ BRUPBACHER, der neben seiner Tätigkeit
als Mediziner von Januar 1915 bis August 1916 die Zeitschrift Der Revoluzzer herausgab, für die er auch selber Texte schrieb. HUGO BALL (1886–
1927) veröffentlichte darin sein beeindruckendes Antikriegsgedicht Totentanz 1916.
Im großen und ganzen aber lebten Emigranten und Schweizer unbeachtet voneinander; RICHARD HUELSENBECKs (1892–1974) Bonmot »Schweizer sind damals in Zürich gar nicht vorhanden gewesen« veranschaulicht
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die Situation recht deutlich. Die Emigration blieb unter sich, das Café
Odeon in Zürich avancierte zu einem Zentrum der europäischen Moderne.
Dort saß man zusammen, dort wurden Pläne geschmiedet für eigene Zeitschriften und künstlerische Aktionen. Dort, oder vielleicht im Café Terrasse, könnte auch der Plan einer Künstlerkneipe mit eigener Bühne entstanden sein. Am 5. Februar 1916 jedenfalls wurde sie in der Spiegelgasse 1, in
der ehemaligen »Holländerschen Meierei«, nur wenige Schritte von Lenins
Zürcher Domizil, eröffnet. Das abendliche Programm im »Cabaret Voltaire«, wie die Kneipe bald hieß, bestritten hauptsächlich HUGO BALL und
EMMY HENNINGS (1885–1948), TRISTAN TZARA (1896–1963), MARCEL
JANCO (1894–1984), HANS ARP (1887–1966), RICHARD HUELSENBECK.
Vorgetragen wurden eigene Texte, dazu deutsche und französische Chansons, russische Volkslieder, Gedichte, Lieder und Szenen von WEDEKIND,
RIMBAUD, SCHICKELE und anderen. Mit dem Leitgedanken, den Bürger
zu verblüffen und zu provozieren, löste man sich allerdings bald von traditionellen Formen und Inhalten. In den Vordergrund rückten experimentelle Aktionen mit Tanz, Musik, Rezitation, Maskenspiel. Dada war geboren.
Am 13. Juli 1916 gab es die erste Dada-Soiree, schon außerhalb der »Meierei« im Zunfthaus zur »WAAG«, sieben weitere öffentliche Veranstaltungen folgten bis zum April 1919. Zunehmend wandte man sich auch der
bildenden Kunst zu, in der Bahnhofstraße entstand die »Galerie Dada«.
Jahre später bilanzierte ARP:
»Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges gaben wir uns in
Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der
Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen wollte«27.
Der Anteil der Schweizer an Dada war gering. Allein einige bildende
Künstler, etwa die mit Arp befreundete Kunsterzieherin SOPHIE TAEUBER
(1889–1943), auch der Zürcher Komponist HANS HEUSSER (1892–1952),
stellten einen engeren Kontakt zu den Dadaisten her. Der junge FRIEDRICH GLAUSER gelangte über die Bekanntschaft mit dem Wiener Maler
MAX OPPENHEIMER (1885–1954) in diesen Kreis. Im »Cabaret Voltaire«
bereitete er hin und wieder »Sprachsalat«, übernahm Statistenrollen und
betätigte sich als Hilfskassierer. Auf seine späteren literarischen Arbeiten –
sieht man einmal ab von einigen autobiographischen Aufzeichnungen, die
von Oktober 1931 bis 1935 in lockerer Folge im Schweizer Spiegel erschienen28 – hat die Begegnung mit Dada-Zürich keinen Einfluß mehr gehabt.
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