001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 1 Schweizer Literaturgeschichte. Die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 2 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:05 Uhr Seite 3 Klaus Pezold (Hg.) Schweizer Literaturgeschichte Die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert militzke © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe Impressum-Ebook_Satz 12_bis96(KorrVorw)_2 04.05.12 13:23 Seite 4 Die »Schweizer Literaturgeschichte. Die deutschsprachige Literatur im 20. Jahrhundert« wurde herausgegeben von Klaus Pezold, Leipzig. Die Texte wurden von einem Leipziger Autorenkollektiv verfasst: Christa Grimm Armin Gerd Kuckhoff † Birgit Lönne Klaus Pezold Klaus-Dieter Schult Wladimir Sedelnik Ilona Siegel mit Spezialbeiträgen von Michael Böhler Dieter Fringeli † Manfred Gsteiger Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright gebundene Ausgabe: 2007, Militzke Verlag e.K., Leipzig © Copyright Ebook: 2012, Militzke Verlag GmbH, Leipzig Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Julia Lössl Schlussredaktion: Oliver Tekolf Register: Andreas Förster, Sascha Kranz Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Ralf Thielicke ISBN 978-3-86189-698-2 (Ebook) ISBN 978-3-86189-734-7 (Buch) Besuchen Sie den Militzke Verlag im Internet unter: http://www.militzke.de © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 5 Inhalt Vorwort — 10 Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert Vom Tod Gottfried Kellers bis zum Ende der zwanziger Jahre — 15 Literatur und Gesellschaft (Klaus-Dieter Schult, Ilona Siegel, Wladimir Sedelnik) — 15 Insel im Sturm – die Schweiz in den Jahren des Ersten Weltkriegs — 22 Zwischen Aufbruch und Krise – die zwanziger Jahre — 27 Hauptlinien der literarischen Entwicklung von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (Ilona Siegel) — 29 Heimatliteratur und traditionelles Erzählen – Ernst Zahn, J. C. Heer, Alfred Huggenberger und andere — 31 Ansätze zu Sozialkritik in Bauernroman und Dorfnovelle bei Heinrich Federer und Jakob Bosshart — 36 Geschichte und Gegenwart im Frühwerk von Maria Waser und Robert Faesi — 39 »Ein klassischer Sonderfall« – Carl Spitteler — 40 Die »epische Dekade« — 44 Ein verkannter Klassiker der Moderne – Robert Walser — 52 »Aufbruch des Herzens« – die Lyrik — 58 Theatersituation und Dramatik — 62 Die Literatur der zwanziger Jahre (Wladimir Sedelnik) — 66 »Rufer in der Wüste« – das Spätwerk Jakob Bossharts — 66 Expressionismus in der Schweiz — 69 Die große Unruhe des »halben Menschen« – der frühe Albin Zollinger — 74 »Dichter im Abseits« — 75 Zwischen Enge und Weite – Felix Moeschlin, Meinrad Inglin, Jakob Schaffner — 80 »Rebellen gegen den Seldwylergeist« – Jakob Bührer, Robert Walser, Friedrich Glauser und andere — 86 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 6 Zwischen Selbstbehauptung und Selbstbeschränkung Die Literatur der Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg (Klaus-Dieter Schult) — 95 Literatur und Gesellschaft unter den Konstellationen der Geistigen Landesverteidigung — 95 Entwicklungslinien der Literatur in den dreißiger und frühen vierziger Jahren — 106 Auf der Suche nach dem neuen Menschen – Maria Waser, C. I. Loos, Cécile Lauber, Traugott Vogel — 106 Arbeiterliteratur zwischen Emanzipation und Selbstaufgabe — 110 Wende nach links – Jakob Bührer, R. J. Humm, Hans Mühlestein, Albert Ehrismann — 113 »Ich schreie Protest« – Albin Zollinger — 122 Meinrad Inglins »Schweizerspiegel“ — 129 Romane in der Gunst der Leser — 132 Aspekte der Lyrikentwicklung — 135 Dominanz des Historischen im Drama — 139 Außenseiter und Außenseiterinnen – Ludwig Hohl und Adrien Turel, Annemarie Schwarzenbach und Lore Berger — 142 Die literarische Situation des Nachkriegs — 144 Der Roman nach 1945 — 144 Traditionen und Neuansätze in der Lyrik (Birgit Lönne) — 149 Der Durchbruch zur Welt Werk und Wirkung Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts — 159 Max Frisch (Christa Grimm) — 159 Frühe Publizistik und literarische Anfänge — 160 Die Erfolge des Epikers in Tagebuch und Roman — 164 Der Aufstieg des Dramatikers zum Welterfolg — 173 Kontinuität und Diskontinuität im Spätwerk — 179 Friedrich Dürrenmatt (Armin-Gerd Kuckhoff) — 187 Frühe Prosa — 191 Kriminalromane und -erzählungen — 193 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 7 Die Hörspiele — 197 Die Kette der Dramen — 199 Die ›inkommensurablen‹ Arbeiten des Spätwerks — 210 Die Jahrzehnte des Aufschwungs Literatur und literarisches Leben in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren (Klaus Pezold) — 218 Die neuen Konstellationen im Verhältnis von Literatur und Gesellschaft — 218 Der Zürcher Literaturstreit — 221 Ein Roman als »offen umkämpftes Politikum« — 224 1968 und die Folgen — 225 Positionen beim Übergang in die siebziger Jahre — 229 Eine neue Autorengeneration und ihre Aktivitäten — 231 Veränderungen in der Verlagslandschaft — 233 Notwendigkeit und Grenzen der Literaturförderung — 235 Theater und Film als Partner der Literatur — 236 Die Erzählprosa der sechziger und frühen siebziger Jahre — 237 Stufen des Übergangs zu neuem Erzählen bei Hans Boesch, Herbert Meier und Gertrud Wilker — 239 Erste Höhepunkte des zeitgenössischen Romans – Otto F. Walter und Hugo Loetscher — 246 Früher Ruhm und weiterer Weg des Erzählers Peter Bichsel — 251 Konsequente Gesellschaftskritik und rigorose Selbstbefragung – Walter Matthias Diggelmann — 257 Erfahrungen und Schreibanlässe der neuen Autorengeneration — 262 »Schreibpassion« und »autobiographische Chronik« – Paul Nizon — 272 Lebenszeichen und groteske Todesbilder – Jürg Federspiel — 275 Arbeiter und Arbeiterbewegung als Gegenstand erzählender Prosa — 278 Verpflichtung auf die Wirklichkeit – die sprachbewußte und gesellschaftskritische Lyrik seit den sechziger Jahren (Birgit Lönne) — 283 Religion und Revolte — 287 Die Lust an der Wirklichkeit — 290 Neue Tendenzen im Naturgedicht — 294 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 8 Veränderungen im Wechselspiel von Literatur und Gesellschaft seit Mitte der siebziger Jahre — 298 Schriftstellervereinigungen, Literaturförderung und literarisches Leben — 303 Verlagslandschaft und Medien — 308 Hauptlinien der Literaturentwicklung seit Mitte der siebziger Jahre — 315 Gewandelte Wirkungsstrategien und neues Traditionsbewußtsein — 317 Die Stellung der Prosa und ihr thematisches Spektrum — 320 Genreentwicklung und Vielfalt der literarischen Handschriften — 328 Die wachsende Rolle experimenteller Prosa — 333 Formen und Leistungen zeitgenössischen Erzählens — 338 Der Erzähler Gerhard Meier — 339 Adolf Muschg als Repräsentant der mittleren Autorengeneration — 344 Die Stunde der Autorinnen — 349 Selbsterkundungen eines »Über-die-Grenzen-Gehers« – Walter Vogt — 355 Zwischen Komik und Groteske – Formen phantastischen Erzählens bei Serge Ehrensperger, Gerold Späth, Urs Widmer und Franz Hohler — 358 Schreiben als »lebensrettende oder –verlängernde Langzeitmaßnahme« – Hermann Burger — 365 Individuelle Erfahrung und Gesellschaftsbezug in der Prosa E. Y. Meyers, Gertrud Leuteneggers, Christoph Geisers und Franz Bönis — 370 Der Beitrag der jüngsten Generation zur Erzählliteratur der achtziger Jahre — 386 Versuche auf dem Feld der Dramatik – Bemühungen Deutschschweizer Autoren um das Theater seit den frühen sechziger Jahren — 392 Der Dramatiker und Erzähler Thomas Hürlimann — 399 Literatur und Gesellschaft »am Ende einer Epoche« — 407 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 9 Agonie und neue Blüte Die Mundartliteratur im Wandel (Dieter Fringeli) — 419 Das Verhältnis der Deutschschweizer Autoren zur Schriftsprache (Michael Böhler) — 442 Die Sprachsituation in der deutschen Schweiz — 444 Die Frage nach einer Schweizer Literatursprache — 446 Die Beziehungen der deutschschweizerischen zu den anderssprachigen Literaturen in der Schweiz (Manfred Gsteiger) — 455 Vom Helvetismus bis zur Geistigen Landesverteidigung — 456 Eigenständigkeit und Wechselbeziehungen der Literaturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts — 460 Anhang — 469 Autoren des Bandes — 469 Verzeichnis der Abkürzungen — 470 Anmerkungen und Zitatnachweise — 471 Personen- und Werkregister — 505 Bildnachweise — 528 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 10 Vorwort Die hier in durchgesehener und erweiterter Fassung wieder vorgelegte Literaturgeschichte erschien erstmals 1991 bei Volk und Wissen (Berlin). Die Unterstützung durch die Schweizer Kulturstiftung »Pro Helvetia« hatte es dem Verlag noch ermöglicht, das seit Ende 1989 vorliegende Manuskript zu veröffentlichen. Die damals bereits einsetzenden Veränderungen seiner Struktur und Arbeitsbedingungen führten jedoch dazu, daß er den Titel nur wenige Jahre im Programm halten konnte. Die Autoren der Literaturgeschichte sind daher dem Militzke Verlag Leipzig besonders dankbar für seine Entscheidung, ihre Arbeit nun in sein Programm zu übernehmen und sie so interessierten Lesern auch wieder auf dem Buchmarkt zugänglich zu machen. Die deutschsprachige Literatur aus der Schweiz hatte in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend Beachtung gefunden. Und dies nicht nur im deutschen Sprachraum, wie etwa die intensive Forschungsund Publikationstätigkeit von Literaturwissenschaftlern vor allem in den Niederlanden, in Großbritannien und Russland auf diesem Gebiet belegt. Auch in den literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen der Zeit wurde diesem Umstand auf verschiedene Weise Rechnung zu tragen versucht. Allerdings erwiesen sich dabei alle Varianten als problematisch, bei denen Schweizer Autoren mehr oder weniger direkt der Literatur der Bundesrepublik zugeordnet wurden, während gleichzeitig die Literatur in der DDR und zumeist auch die Österreichs gesondert abgehandelt wurde. Die hierüber geführten Debatten machten deutlich, daß deutschsprachige Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht durch die Beziehung zwischen einem Zentrum und verschiedenen Randbereichen zu definieren ist, sondern – um mit dem slowakischen Spezialisten für vergleichende Literaturwissenschaft Dýoniz Ďurišin zu sprechen – nur als »interliterarische Gemeinschaft« aller Literaturen deutscher Sprache. Daher erschien die zuerst in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart (Zürich/München 1974 ff.) praktizierte Lösung am überzeugendsten, bei der Betrachtung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die literaturgeschichtliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland, in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz als methodologisch gleichwertige Gegenstände zu behandeln. Denn erst auf der Grundlage einer Erforschung und Darstellung ihrer jeweiligen Spezifik wird es möglich, zu einem realen Be10 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 11 griff jener übergreifenden Einheit »deutschsprachige Literatur« zu gelangen und ihre inneren Zusammenhänge und Wechselbeziehungen erfassen zu können. Als eine Besonderheit der literarischen Situation in der Schweiz fällt von vornherein ins Auge, daß das Jahr 1945 für sie aus naheliegenden Gründen keine vergleichbare Bedeutung gehabt hat wie für die anderen Teile des deutschen Sprachgebiets. Parallel zu den Darstellungen innerhalb der zuvor schon im Verlag Volk und Wissen erschienenen Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart (Bd. 11: Literatur der DDR, Berlin 1976; Bd. 12: Literatur der BRD, Berlin 1983) eine Geschichte der deutschsprachigen Schweizer Literatur seit Ende des zweiten Weltkrieges zu schreiben, erschien daher wenig sinnvoll. Die Entscheidung, statt dessen einen literaturgeschichtlichen Überblick über das 20. Jahrhundert anzustreben (bei besonderer Akzentuierung der Literatur seit Frisch und Dürrenmatt), gründete auf folgenden Überlegungen: Die seit etwa 1960 in der Deutschschweiz entstandene Literatur (und zuvor schon das Werk von Frisch und Dürrenmatt) hat ein eigenes Traditionsverständnis entwickelt, das nachdrücklich auf Namen aus der ersten Jahrhunderthälfte wie Robert Walser, Albin Zollinger, Friedrich Glauser oder Jakob Bührer hinwies und der Literatur »zwischen Keller und Frisch« (Beatrice von Matt) zunehmend einen bedeutenden Platz im literarischen Leben der Gegenwart verschafft hat, woran Bemühungen der Schweizer Germanistik seit den siebziger Jahren einen wesentlichen Anteil gehabt haben. Diese im allgemeinen auch außerhalb der Schweiz wenig bekannte ›Vorgeschichte der Gegenwart‹ mit bewußt zu machen, erschien daher unumgänglich. Daß bei diesem notwendigen Rückblick auf das ganze 20. Jahrhundert nicht formal mit dem Jahr 1900 eingesetzt werden konnte, wurde in der Diskussion über das Projekt – nicht zuletzt auch mit Kollegen aus der Schweiz – schnell klar. Die eigentliche literaturgeschichtliche Zäsur lag in den frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts; der Tod Gottfried Kellers bot sich dafür als innerliterarischer Fixpunkt ebenso an wie die 600-Jahrfeier der Eidgenossenschaft als ein solcher unter historisch-gesellschaftlichem Aspekt. Ein vergleichender Blick auf die literarischen Zentren des deutschen Kaiserreichs (mit der Entfaltung des Naturalismus in Berlin) und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (mit dem Fin-desiècle in Wien) ließ die Besonderheit der Schweizer Situation in jener Zeit besonders deutlich hervortreten. Von da aus leitete sich der Versuch ab, drei größere literaturgeschichtliche Phasen der weiteren Entwicklung voneinander abzuheben: die Zeit bis Ende der 1920er Jahre, die Jahrzehnte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich die ›Gegenwart‹ seit etwa 1960, dazu – zwischen dem zweiten und dritten Teil stehend – ein Vorwort | 11 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 12 spezielles Kapitel, das den Weg von Frisch und Dürrenmatt zum Weltruhm nachzeichnet. Der für den letzten Teil ursprünglich gesetzte Schlußpunkt resultierte aus der Terminierung der Arbeit an der Literaturgeschichte, die im Herbst 1989 abgeschlossen sein sollte, und war damals mit »Ende der achtziger Jahre« des 20. Jahrhunderts nur sehr vage zu bestimmen. Bereits 1991, im Jahr ihres Erscheinens, zeichnete sich dann jedoch eine neue Situation auch für die Deutschschweizer Literatur ab, der weit eher der Charakter einer literaturgeschichtlichen Zäsur zuerkannt werden kann. Dem Tod Friedrich Dürrenmatts und Max Frischs kommt dabei eine ähnlich zeichenhafte Bedeutung zu wie hundert Jahre zuvor dem Tod Gottfried Kellers. Selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß hiermit das Ende der deutschsprachigen Schweizer Literatur angezeigt worden wäre – dieser voreiligen und oberflächlichen These in einigen publizistischen Beiträgen vor und nach den Solothurner Literaturtagen 1991 ist mit Recht von kompetenten Stimmen aus Literaturkritik und Literaturwissenschaft sofort widersprochen worden. Die Literatur der 1970er und 1980er Jahre war zwar keine nach, sondern immer noch eine mit Frisch und Dürrenmatt, aber beide waren, auch wenn ihr Gesamtwerk einen einmaligen Höhepunkt der Schweizer Literatur im 20. Jahrhundert darstellt, zu dieser Zeit schon nicht mehr in vergleichbarer Weise bestimmend für diese wie in den 1960er oder gar so allein repräsentativ wie in den 1950er Jahren. Für sich allein genommen, hätte ihr Tod also noch keine literaturgeschichtliche Zäsur bedeuten müssen. Doch fiel er mit einer veränderten welthistorischen Situation, dem Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« (Eric Hobsbawm), zusammen, was auch Konsequenzen für die Schweiz hatte und nicht zuletzt jene Autoren, die sich in ihrer Grundhaltung Frisch und Dürrenmatt verbunden fühlten, vor veränderte Bedingungen ihres Wirkens stellte. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas, die Beendigung des Kalten Krieges durch einen politischen und ökonomischen Sieg des Westens und der damit verbundene »Anschluß, der Beitritt genannt wurde« (Günter Grass) der DDR an die BRD kamen nicht nur überraschend, sondern schufen auch neue Realitäten, denen nicht mehr mit alten Denkmodellen beizukommen war. Eine für die Neuauflage möglich gewordene gewisse zeitliche Erweiterung der Literaturgeschichte bot Gelegenheit, diese widerspruchsvolle Situation zu Beginn der 1990er Jahre zumindest skizzenhaft zu erfassen und so die Darstellung zu einem organischeren Abschluß zu führen, als das 1989/ 1990 möglich gewesen ist. Außerdem konnten nun bei einzelnen Autoren noch wichtige Werke aus der Zeit des Übergangs zu den 1990er Jahren mit berücksichtigt werden. Bei der Erarbeitung der vorliegenden Literaturgeschichte als einem Pro12 | Vorwort © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 13 jekt universitärer Forschung hatten die Autoren in erster Linie die Studenten als Adressaten im Auge, dazu den interessierten Leser neuerer Literatur generell, der »alles mögliche liest« und der sich darüber informieren möchte, »was das Gelesene in einem größeren Zusammenhang bedeutet« (Werner Krauss). Dies verlangte, um eine nach wie vor gültige Unterscheidung zu bemühen, die Goethe 1806 in einer Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung getroffen hat, Geschichte nicht »für die Wissenden«, sondern »für die Nichtwissenden« zu schreiben: »Bei der ersten setzt man voraus, daß dem Leser das Einzelne bis zum Überdruß bekannt sei. Man denkt nur darauf, ihn auf eine geistreiche Weise, durch Zusammenstellungen und Andeutungen an das zu erinnern, was er weiß, um ihm für das zerstreute Bekannte eine große Einheit der Ansicht zu überliefern oder einzuprägen. Die andere Art ist, wo wir, selbst bei der Absicht, eine große Einheit darzustellen auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind.« Dies gilt für die Vielzahl der in ihrer Gesamtheit das literarische Leben eines Landes prägenden Autorinnen und Autoren und literarischen Werke ebenso wie für das, was der bedeutende Romanist Werner Krauss die »spezifisch literarischen Umweltverhältnisse« genannt hat, die verschiedenen Faktoren, die die komplexe Einheit von Produktion, Distribution und (vor allem innerliterarischer) Rezeption beeinflussen. Eine diffizile Analyse der wesentlichsten literarischen Texte kann demgegenüber von einer – zudem an einen begrenzten Umfang gebundenen – literaturgeschichtlichen Darstellung nicht erwartet werden. Jedoch versucht die hier vorliegende zumindest von ihrer Anlage her, die Aufmerksamkeit des Lesers auch auf besonders wichtige Einzelleistungen zu lenken und diese wenigstens ansatzweise in ihrer ästhetischen Eigenart zu würdigen. Die hier in durchgesehener und erweiterter Neuauflage wieder vorgelegte Literaturgeschichte entstand in den 1980er Jahren an der damaligen Sektion Germanistik und Literaturwissenschaft der Karl-Marx-Universität Leipzig. Sie war Ergebnis längerer gemeinschaftlicher Arbeit von Lehrkräften, Nachwuchswissenschaftlern und Doktoranden, an der die verantwortliche Redakteurin des auftraggebenden Verlages Volk und Wissen Hannelore Prosche aktiven Anteil hatte. Als Spezialist für die Literatur der zwanziger Jahre übernahm Wladimir Sedelnik vom Moskauer Gorki-Institut für Weltliteratur das entsprechende Kapitel der Literaturgeschichte. Auch haben zahlreiche unserer Studenten dieser Zeit mit ihren Diplomarbeiten einen Beitrag zu dem Projekt geleistet; genutzt werden konnten darüber hinaus – dank der Vermittlung von Michael Böhler – am Deutschen Seminar der Universität Zürich entstandene studentische Arbeiten. Zwei 1983 und 1988 in Leipzig veranstaltete wissenschaftliche ArbeitstaVorwort | 13 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 14 gungen boten die Möglichkeit, unsere Sicht auf die deutschsprachige Schweizer Literatur in der Diskussion mit Fachkollegen aus verschiedenen Ländern kritisch zu überprüfen. Besonders wichtig war dabei das Mitwirken der direkt als Verfasser von Spezialkapiteln bzw. als Konferenzteilnehmer beteiligten Schweizer Kollegen Michael Böhler, Dieter Fringeli, Manfred Gsteiger, Peter von Matt, Christoph Siegrist, Martin Stern und Hellmut Thomke – ebenso aber auch der Einsatz von Elsbeth Pulver, Peter André Bloch, Karl Fehr und Christiaan Hart Nibbrig, die unser Vorhaben damals durch Gastvorträge an der Universität Leipzig gefördert haben. Elsbeth Pulver hat darüber hinaus zusammen mit Dominik Müller im Mai 1991 an der Vorstellung unserer Literaturgeschichte bei den Solothurner Literaturtagen mitgewirkt, was für deren positive Aufnahme in der Schweiz sehr förderlich gewesen ist. Für all das schulden wir diesen Kolleginnen und Kollegen großen Dank. Klaus Pezold 14 | Vorwort © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 15 Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert Vom Tod Gottfried Kellers bis zum Ende der zwanziger Jahre Literatur und Gesellschaft (Klaus-Dieter Schult, Ilona Siegel, Wladimir Sedelnik) Tausende Schweizerinnen und Schweizer machten sich im Sommer des Jahres 1891 auf den Weg in das Städtchen Schwyz, um auf historischem Boden den 600. Jahrestag der Gründung der Eidgenossenschaft feierlich zu begehen. Dort, wo einst die Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden ihren Bund im Kampf gegen die Habsburger beschworen hatten, ließ man nun in einem großen Festspiel Geschichte wieder lebendig werden. Wenige Wochen später veranstaltete Bern, zugleich zurückblickend auf 700 Jahre Stadtgeschichte, eine viertägige Feier, die ebenfalls in einem Festspiel ihren Höhepunkt fand. Über 1.100 kostümierte Darsteller, 500 Sängerinnen und Sänger und ein hundertköpfiges Orchester boten dem Zuschauer eine Folge historischer Bilder, die zur Identifikation mit den heldenhaften Ahnen verführen konnten, die es vermochten, Gefühle von Größe und Erhabenheit zu wecken. Wie in Bern und Schwyz, so feierte man im ganzen Land. Erstmals wurde in diesem Jahr der 1. August als offizieller Bundesfeiertag begangen. Stolz und Selbstbewußtsein prägte die Reden, die historischen Umzüge und die Festspiel-Inszenierungen. Überall erhielt der nationale Gedanke belebende Impulse. Daß er nicht zu einem solch aggressiven Nationalismus entartete, wie man ihn zur gleichen Zeit in der Innen- und Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches und der k.u.k. Monarchie ÖsterreichUngarn beobachten konnte, war der Kleinstaatlichkeit der Schweiz, vor allem jedoch dem Vorhandensein starker demokratischer Traditionen und darauf gegründeter Gesellschaftsstrukturen geschuldet. Über 500 Jahre existierte die Schweizerische Eidgenossenschaft als oft sehr lockerer Staatenbund, in dem die kleinstaatlichen Interessen der Kantone zumeist über denen der Gemeinschaft standen. Erst 1847/48 – nachdem im »Sonderbundskrieg«1 die bürgerlich-liberalen Kräfte den entscheidenden Sieg über das konservative Lager errungen hatten – ging man mit Konsequenz an die Schaffung eines Bundesstaates. Am 12. September 1848 15 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 16 wurde eine Verfassung angenommen. Sie sicherte fortan nicht nur die zumeist in den dreißiger Jahren bereits erstrittenen demokratischen Grundrechte und Freiheiten, sondern bot mit der Festschreibung des föderalistischen Prinzips auch die Rahmenbedingung, um dieses vielgestaltige und widersprüchliche Staatsgebilde mit seinen vier Sprachgebieten, mit seinen differenzierten wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Interessensphären zusammenzuhalten. Während die Kantone weiterhin in allen Belangen des Gerichtswesens, der Schulbildung, der Presse, in Kultur- und Kirchenangelegenheiten die Entscheidungshoheit behielten, sollte der Bund mit Bundesversammlung (Legislative) und Bundesrat (Exekutive) von nun an alle Grundsatzentscheidungen der Innen-, Wirtschaftsund Finanzpolitik treffen. In seinen Kompetenzbereich fielen auch, bei Pflicht zur Wahrung der auf dem Wiener Kongreß von 1815 völkerrechtlich verankerten »immerwährenden Neutralität« der Schweiz, die Belange der Außen- und Militärpolitik. Die Schweizerinnen und Schweizer haben ihr Land immer wieder als ›Willensnation‹ gesehen, als empfindlichen Mechanismus aus gegenseitigen Übereinkünften, geschaffen zum allgemeinen Nutzen. Dieser Mechanismus bedurfte der Veränderung und Vervollkommnung, sollte er, bei sich wandelnden inneren und äußeren Bedingungen, funktionstüchtig bleiben. Bereits 1874 verabschiedete man eine neue, total revidierte Verfassung, die sowohl den Interessen der erstarkenden Wirtschaft nach mehr Zentralisation wie den Forderungen der Bürger nach mehr Mitspracherecht (Einführung des Referendums) genügen sollte. Seitdem hat es zahlreiche Korrekturen – eine der wichtigsten betraf die Sicherung des Volksinitiativerechts –, jedoch keine neuerliche Totalrevision der Verfassung mehr gegeben. Das spricht für die Flexibilität der ursprünglichen Staatskonzeption, für ihre tatsächliche Liberalität, das spricht aber auch für ein gehöriges Maß an Konservatismus im politischen Leben der Schweiz. Die Sorge, der empfindliche Mechanismus ›Willensnation‹ könnte durch Unbedachtsamkeit zerstört werden, war immer groß. Sie zog eine teilweise übertriebene Bereitschaft zum Kompromiß nach sich, sie beförderte die Neigung, auf dem einmal Erreichten mit Selbstgenügsamkeit zu beharren. Gegen dies »plump zierliche Behagen im eigenen Felle«2 und die davon ausgehende Gefahr, an den Realitäten des Alltags wie an den Forderungen der Zukunft vorbeizusehen, haben sich nicht zuletzt zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Schweiz immer wieder ausgesprochen. So machte Gottfried Keller (1819-1890) noch in seinem Altersroman Martin Salander (1886) seine Landsleute darauf aufmerksam, daß sich die bürgerliche Gesellschaft bereits weit von ihren einstigen Idealen entfernt habe, daß – bei aller Demokratie – auch in der Schweiz Geldgier und 16 | Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 17 Profitsucht, politische Gesinnungslosigkeit und Gefühlskälte in zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr die Oberhand gewinnen könnten. Als KELLER 1890 starb, blieb die Position des politisch aufmerksamen Schriftstellers für Jahre unbesetzt. Und auch CONRAD FERDINAND MEYER (1825–1898), der ähnlich wie KELLER, jedoch mit einer akzentuierten Absage an die »brutale Aktualität zeitgenössischer Stoffe«3, in seinen Novellen einen wachsenden Widerspruch zwischen Politik und Sittlichkeit reflektiert hatte, fand keine Nachfolge. Für gut eineinhalb Jahrzehnte wurde die deutschsprachige Literatur des Landes von Autorinnen und Autoren repräsentiert, deren Romane und Erzählungen über das Niveau einer »biedermeierlichen Feierabendkunst«4 kaum hinausgelangten. Dominanz gewann die Heimatkunst, die sich durch ihre Einbindung in die national-patriotischen Aktivitäten im Umfeld der 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft ebenso legitimiert fühlte wie durch die Anerkennung, die ihr von der deutschen Heimatkunstbewegung gezollt wurde. So gingen Autoren wie ERNST ZAHN, JAKOB CHRISTOPH HEER oder ALFRED HUGGENBERGER immer wieder daran, die alpine Bergwelt mit ihren dörflichen Gemeinschaften als einen von den ›Krankheiten‹ der Zivilisation noch unberührten Lebensraum zu gestalten. So ›gesund‹ aber, wie in ihren und in den Büchern anderer beschrieben, war die gepriesene ›Heimat‹ durchaus nicht mehr. Längst war damit begonnen worden, die Schweiz in einen modernen Industriestaat zu verwandeln. Die Bauernschaft spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Allein zwischen 1888 und 1910 sank der Anteil der ländlichen Bevölkerung von 41 % auf 29 % (in Deutschland betrug er 1907 immerhin noch 34 %, in Frankreich 1911 sogar noch 41 %). Viele Bauern verließen das Land, um besonders in Amerika eine neue Existenzmöglichkeit zu suchen. Andere hofften, in der aufblühenden Industrie, in Städten wie Genf, Zürich oder Basel, ihr Glück zu finden. 1880 lebten in Zürich 24.400 Menschen, zwanzig Jahre später waren es, auch durch Eingemeindungen, etwa 150.000. In Basel wuchs die Einwohnerzahl im gleichen Zeitraum von rund 64.000 auf 112.000. Der Prozeß der Verstädterung vollzog sich überall recht schnell, zwischen 1850 und 1910 vervierfachte sich die Anzahl der Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern.5 Mitbestimmt wurde diese Zahl durch die für die Schweiz typische Dezentralisierung der Produktion. Kleine und mittlere Unternehmen behaupteten lange Zeit ihren Platz im wirtschaftlichen System, sicherten doch gerade sie den für das rohstoffarme Land so notwendigen hohen Verarbeitungs- und Veredlungsgrad in der Industrie. Die spezialisierte ›Fabrik im Dorf‹ war überall zu finden. Nicht selten gehörte zu ihrer Belegschaft eine große Zahl von Heimarbeitern. Um 1900 waren noch 14,3 % aller abhängig Arbeitenden mit Heimarbeit beschäftigt. Literatur und Gesellschaft | 17 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 18 Die besondere Struktur der Schweizer Wirtschaft hat auf den Formierungsprozeß der Arbeiterklasse einen gravierenden Einfluß ausgeübt. Bevor sie als eigenständige politische Kraft in Erscheinung treten konnte, waren stark differenzierte berufliche, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Interessen auszugleichen. Hinzu kam, »daß in der Demokratie die Kapitalisten zwar die Wirtschaft«, anscheinend aber nicht »die Politik beherrschten [...] In den Räten dominierte der Mittelstand, und da auch der Arbeiter an den politischen Rechten und Freiheiten vollen Anteil hatte und an der Wahlurne und in der Gemeindeversammlung seinem Arbeitgeber gleichberechtigt gegenüberstand, fühlte er sich nie so entrechtet und von der Gesellschaft ausgestoßen wie in den autoritär regierten Ländern«.6 Die stets vorhandene Neigung der schweizerischen Arbeiterbewegung zum Reformismus hat in eben diesem Sachverhalt ihren tieferen Grund. Schon der 1838 gegründete Grütli-Verein – »ein patriotisch-demokratischer Verein der ›kleinen Leute‹, anfänglich hauptsächlich der Gewerbetreibenden [...], später mehr und mehr der Arbeiter«7 – suchte das Wohl der Werktätigen auf friedlich-reformistischen Wegen zu erreichen. So war er an der Durchsetzung zahlreicher sozialer Errungenschaften maßgeblich beteiligt – etwa am Kampf um das Fabrikgesetz von 1877 (Festsetzung des Arbeitstages auf 11 Stunden, Verbot der Kinderarbeit u. a.) –, seiner Existenz ist es aber auch mit geschuldet, daß sich die Gründung einer schweizerischen Arbeiterpartei nur nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten realisieren ließ. Ein erster Versuch 1870 scheiterte, erst 1887/88 gelang es, die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) ins Leben zu rufen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war sie (seit 1893 in »Kampfgemeinschaft« mit den Grütli-Verein, der 1925 dann in der Partei aufging) eine »sozialistische Partei reformistischer Prägung« mit einer »durchaus positiven Einstellung zum Staat«.8 Das angestrengte Ringen um eine politische und organisatorische Einheit hatte zur Folge, daß Fragen einer eigenständigen proletarischen Kultur erst sehr spät auf die Tagesordnung der Arbeiterbewegung rückten. Als einer der ersten bemühte sich der aus Kirchberg bei Zwickau stammende, 1870 in die Schweiz emigrierte ROBERT SEIDEL (1850–1933) darum, zumindest der Literatur einen bescheidenen Platz in den sozialdemokratischen Zeitungen Arbeiterstimme und Volksrecht einzuräumen. Eine intensivere Kultur- und Bildungsarbeit entwickelte die schweizerische Sozialdemokratie erst in den Jahren vor dem Weltkrieg. 1912 rief sie ihre Arbeiterbildungszentrale ins Leben. Da weder die (wenigen) Arbeiterdichter noch die bürgerlichen Autoren mit ihrer Ausrichtung auf die Heimatkunst der veränderten Realität im Lande mit Aufmerksamkeit begegnen konnten oder wollten, blieben 18 | Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 19 wesentliche Problemfelder der Schweizer Gesellschaft am Übergang zum 20. Jahrhundert von der Literatur unreflektiert. Die »Schweiz der raschen Industrialisierung, des expandierenden Fremdenverkehrs, des Alkoholund Tuberkuloseproblems in den Vorstädten und verstädterten Landgemeinden, die Schweiz der Auswanderer und Söldner in fremden Diensten, der Verdingkinder und der zu langen und schlecht bezahlten Fabrik- und Büroarbeit«9 – in der Literatur gab es sie nicht. Die vom Bund nach 1880 mit größerer Intensität betriebene Kulturpolitik beförderte derartige Entsagungshaltungen, war sie doch vorrangig auf Aktivitäten zur Vertiefung des vaterländischen Bewußtseins gerichtet. Die Arbeit der 1887 geschaffenen eidgenössischen Kunstkommission, die über einen jährlichen Kredit von 100.000 Franken verfügen konnte, »ließ eine gewissermaßen amtlich abgesegnete nationale Kultur entstehen. Besonders in der Malerei manifestierte sich, nach dem Durchbruch Ferdinand Hodlers, dessen Fresken im Landesmuseum noch zu vehementen öffentlichen Auseinandersetzungen geführt hatten, eine gesellschaftspolitisch verdichtete Nationalkunst, geprägt von pathetischem Idealismus und kriegerischem Patriotismus«10. Ergänzt wurden diese Aktivitäten durch die Gründung der »ersten großen Kulturinstitutionen des Bundes, dem 1898 in Zürich eröffneten Landesmuseum und der 1900 in Bern errichteten Landesbibliothek«11. Mit den Bemühungen des Bundes gingen zahlreiche Versuche einher, auch in den Kantonen und Gemeinden das geistig-kulturelle Leben zu befördern. Beispielhaft gelang dies mit dem »Lesezirkel Hottingen«. Gegründet 1882 als Lesemappen-Verleih im Zürcher Vorort Hottingen, entwickelte sich der Zirkel zu einer literarischen Vereinigung, die ab 1896 regelmäßig der Literatur und Kunst gewidmete Abende durchführte und 1902 zudem noch einen »Literarischen Club« ins Leben rief. Im »Lesezirkel Hottingen« vortragen zu dürfen galt als Ehre; das Gästebuch verzeichnet die Namen von CARL SPITTELER, ROBERT WALSER, PAUL VALERY, RAINER MARIA RILKE, THOMAS MANN, ARTHUR SCHNITZLER, HUGO VON HOFMANNSTHAL, KARL KRAUS und anderen. Eher bieder verliefen die Kränzchen im Muraltengut und die Dichterfeiern an historischen Stätten, die aber von vielen Mitgliedern als die eigentlichen Höhepunkte des Vereinslebens gesehen wurden. In seinem 1906 veröffentlichten Roman Imago hat CARL SPITTELER diese Biedermeierei mit viel Ironie bedacht, zugleich Kunde gebend davon, daß sich nun offensichtlich neben der weiterhin dominierenden Heimatkunst eine vorrangig epische Literatur zu entwickeln begann, die sich der veränderten Wirklichkeit stellen wollte. Bestätigung fand diese Ahnung in den folgenden Jahren, als Autoren wie HEINRICH FEDERER, PAUL ILG, FELIX MOESCHLIN, JAKOB Literatur und Gesellschaft | 19 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 20 SCHAFFNER oder ROBERT WALSER nun Arbeiten – zumeist Debüts – vorlegten, in denen zum Teil »schon eindrückliche sozialkritische Gegenpositionen aufgebaut«12 wurden. Was diese ›Robert-Walser-Generation‹ einte, war die Einsicht – von Walser selbst am überzeugendsten im Roman Der Gehülfe (1908) dargeboten –, daß »das denkende und fühlende Individuum seine gesellschaftliche Geborgenheit verloren hatte und das besitzbesessene Bürgertum seines seelischen Sinns und seiner inneren Selbstgewißheit beraubt war«13. Neuansätze gab es zeitgleich auch im Bereich des Buchmarktes, der Literaturvermittlung und -förderung. 1906 wurde der Paul Haupt Verlag gegründet, 1908 folgte der Verlag Rascher & Cie. mit Sitz in Zürich und Leipzig. Gerade dieser Verlag machte sich um die Förderung der schweizerischen Literatur verdient – etwa mit dem von KONRAD FALKE (1880–1942) betreuten Jahrbuch Schweizer Art und Kunst (1910/12); er widmete sich aber auch der europäischen Literatur. Dies besonders in den Jahren des Krieges. Um unbeeinflußt von reichsdeutschen Stellen agieren zu können, gründete Rascher 1917 ein zweites Verlagshaus nur in Zürich, in dem die von RENÉ SCHICKELE (1883–1940) betreute Reihe »Europäische Bücher« ediert wurde. Hier erschienen ANDREAS LATZKOs Menschen im Krieg, LEONHARD FRANKs Der Mensch ist gut, YVAN GOLLs Requiem für die Gefallenen von Europa und viele andere bedeutende Werke dieser Kriegsjahre. Mit seinem zweigeteilten Programm bot der Rascher-Verlag im Grunde ein getreues Bild des literarischen Lebens, das Bild »eines weitgehenden Nebeneinanders von schweizerischer und deutscher ›moderner Literatur‹ in diesem Land, eine Gleichzeitigkeit in getrennten Lagern«14. Neben den neuen existierten zahlreiche traditionelle Verlagshäuser weiter; zumeist besaßen sie nur regionale Bedeutung. Deshalb suchten deutschsprachige Autorinnen und Autoren immer wieder den Anschluß an die großen, leistungsstarken Verlage im benachbarten Deutschland, hoffend, dort auch eine größere Leserschaft zu finden. Für Unterhaltungsschriftsteller wie HEER und ZAHN erfüllte sich diese Hoffnung in einem überraschenden Maße, aber auch andere Autoren wußten durchaus Erfolge zu verbuchen. Ganz besonders interessiert an Schweizer Literatur zeigte sich der Leipziger Grethlein Verlag, der nach dem Krieg sogar eine Filiale in Zürich eröffnete und Autoren wie JAKOB BÜHRER, ROBERT FAESI, MEINRAD INGLIN, FELIX MOESCHLIN, MAX PULVER, REGINA ULLMANN oder ALBIN ZOLLINGER betreute. 1929 wurde aus der Filiale ein selbständiges Unternehmen, aus dem 1935 dann der Morgarten Verlag entstand. Als bedeutende Vermittlungsinstanz zwischen Autor und Leser fungierten zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften. Dabei nahm das von JOSEPH 20 | Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 21 VICTOR WIDMANN (1842–1911) zwischen 1880 und 1910 geleitete Sonntagsblatt der Berner Tageszeitung Der Bund eine herausragende Stellung ein. WIDMANN, selbst Schriftsteller, setzte sich mit viel Sachverstand für die zeitgenössische Literatur ein. Bei ihm kamen die Naturalisten zu Wort, als einer der ersten erkannte er die Größe IBSENs, er würdigte die Arbeiten von NIETZSCHE, SPITTELER und WALSER, er veröffentlichte Texte von GORKI und TOLSTOI, bot aber durchaus auch Schweizer Unterhaltungsschriftstellern eine Publikationsmöglichkeit. Stark an der Förderung einheimischer Literatur interessiert zeigte sich EDUARD KORRODI (1885–1955). Als Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung agierte er über Jahrzehnte (1915/50) »nicht nur als Kritiker post festum; er versuchte, den Kurs der Schweizer Literatur zu steuern, indem er Autoren auf bestimmte Themen ansetzte und den Jungen beizubringen trachtete, was als Literatur Gültigkeit habe«15. Gefördert wurden von ihm unter anderen ROBERT WALSER, KARL STAMM, CÉCILE LAUBER, TRAUGOTT VOGEL, ALBIN ZOLLINGER und der junge MAX FRISCH. Nicht selten aber hat KORRODI auch restriktiv auf die Literaturentwicklung gewirkt. Das stets vorhandene »Mißtrauen gegen politisch orientierte Autoren«16 ließ ihn besonders in den dreißiger und vierziger Jahren zum Exponenten einer konservativen Literaturauffassung werden. Über wichtige Ereignisse des literarischen Lebens konnte sich der Leser aber nicht nur in den Feuilletonspalten der Tageszeitungen, sondern auch anhand verschiedener kultureller Zeitschriften informieren. Am Ende des ersten Weltkrieges gab es davon in der deutschsprachigen Schweiz mehr als zwanzig, bei nicht wenigen arbeiteten Schriftsteller in den Redaktionen verantwortlich mit: MARIA WASER bei der in Zürich erscheinenden renommierten Monatsschrift Die Schweiz (1897/1921), FELIX MOESCHLIN bei Schweizerland (1914/21) in Chur, HEINRICH FEDERER bei Alte und Neue Welt (1867 ff.) in Einsiedeln.17 Dabei war es zumeist nicht allein das Interesse an Kultur und Literatur, was diese und andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller veranlaßte, journalistisch zu arbeiten. Es standen dahinter auch immer ökonomische Zwänge. Vom Schreiben allein konnte – bis auf wenige Ausnahmen und bis weit in die Gegenwart – in der Schweiz kaum jemand leben. Man betrieb die Schriftstellerei als ›Nebenbeschäftigung‹ und ging damit zugleich dem Mißtrauen aus dem Weg, mit welchem das schweizerische Bürgertum im allgemeinen dem künstlerisch Tätigen zu begegnen pflegte. Wie sehr solch Mißtrauen auch verinnerlicht worden ist, wird aus einer Aussage von CARL SPITTELER deutlich: »Wir schämen uns alle im Grunde unseres Dichternamens, wohlverstanden nicht etwa der Dichtertätigkeit oder gar der Dichtkunst, wohl aber Literatur und Gesellschaft | 21 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 22 der landläufigen Vorstellung, die an dem Dichternamen haftet. Dieser Vorstellung nicht zu entsprechen, ihr vielmehr zu widersprechen, einen kräftigeren, männlicheren und von dem übrigen arbeitsamen Volke weniger verschiedenen Typus darzustellen, ist unser aller eifrige, ja ängstliche Sorge. Keine willkommenere Schmeichelei, als wenn man uns versichert, daß man uns den Dichter nicht ansehe, noch anmerke.«18 Der Schweizer Literatur mehr Anerkennung im gesellschaftlichen Leben des Landes zu sichern, war in Anbetracht derartiger Umstände ein vordringliches Anliegen der Autoren selbst. Um ihre Interessen besser durchsetzen zu können, gründeten einige von ihnen – CARL ALBERT LOOSLI, HEINRICH FEDERER, HERMANN AELLEN und andere – im Jahre 1912 den Schweizerischen Schriftstellerverein (SSV). Das Auftreten der ›Robert-Walser-Generation‹ in der »epischen Dekade« nach 1905, die Verlagsgründungen, die Intensivierung von Literaturkritik und -diskussion, die Suche nach neuen Organisationsformen im literarischen Leben – all das waren wichtige Ansätze, um der Schweizer Literatur den Charakter einer »Gau- und Lokalliteratur [...], darin die Kantonsfähnlein in allen Farben flatterten oder gar der Gockel auf dem Kirchturm den Ton angab«19, zu nehmen. Sie endgültig aus den Fesseln der Heimatkunst zu befreien, dazu bedurfte es stärkerer Impulse. Insel im Sturm – die Schweiz in den Jahren des Ersten Weltkriegs Die Hochstimmung, mit der die europäischen Völker den Kriegsbeginn geradezu feierten, machte auch vor den Grenzen der neutralen Schweiz nicht halt. Mobilmachung und Grenzbesetzung wurden begrüßt als Aufbruch zu neuen Ufern, man zeigte sich inspiriert von demselben »Gefühl, das die jubelnden Scharen der beiden Kriegsparteien und deren ›Sänger‹ beherrschte: Nun geschah endlich Großes; nun kam Bewegung in die europäische Geschichte; nun war der Alltag mit seinem lähmenden Einerlei aufgehoben; [...] nun war wieder Gemeinschaft, wenn auch angesichts des Todes«.20 Der Erneuerungsgedanke, überall zum Ausdruck gebracht, lief in der deutschsprachigen Schweiz letztendlich darauf hinaus, es dem »vermeintlich im Aufbruch befindlichen nördlichen Brudervolke«21 irgendwie gleich22 | Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 23 tun zu wollen. Mit unverhohlener Sympathie und ungeachtet der Sorge, mit der man in der französischsprachigen Schweiz an Frankreich dachte, feierte man die anfänglichen Erfolge des deutschen Heeres im Westen. »Die geistige, kulturelle und stammesmäßige Verbindung mit den Deutschen schien vielen wichtiger als die geschichtlich-vertragliche zu den anderssprachigen Miteidgenossen.«22 Ein tiefer Graben tat sich auf, der empfindliche Mechanismus ›Willensnation‹ drohte zu zerbrechen. Mahnende Stimmen wurden kaum gehört. Bereits im Oktober 1914 appellierte KONRAD FALKE in der Neuen Zürcher Zeitung, die Gemeinsamkeiten nicht aus den Augen zu verlieren. Am 14. Dezember dann trat CARL SPITTELER in Zürich ans Rednerpult, um Vernunft, Menschlichkeit und nationale Einheit einzufordern: »Bei aller herzlichen Freundschaft, die uns im Privatleben mit Tausenden von deutschen Untertanen verbindet, bei aller Solidarität, die wir mit dem deutschen Geistesleben pietätvoll verspüren, bei aller Traulichkeit, die uns aus der gemeinsamen Sprache heimatlich anmutet, dürfen wir dem politischen Deutschland, dem deutschen Kaiserreich gegenüber keine andere Stellung einnehmen als gegenüber jedem anderen Staate: die Stellung der neutralen Zurückhaltung und freundnachbarlicher Distanz diesseits der Grenzen.«23 Was von SPITTELER als Unser Schweizer Standpunkt formuliert wurde, fand vorerst nur ein geringes Echo, erst 1915/16 konnte die akute Gefahr einer Spaltung der Eidgenossenschaft allmählich beigelegt werden. Die Informationen und Bilder vom millionenfachen Sterben ringsum wirkten ernüchternd, Selbstbesinnung setzte ein. Der Patriotismus wurde in »Wahrheit und Dichtung wieder eine wirkliche Macht«24. Am auffälligsten artikulierte er sich in der ›Grenzbesetzungsliteratur‹ dieser Jahre, in welcher das »Heer […] zu einer Art Sinnbild der Eidgenossenschaft«25 stilisiert wurde. 1915 gab der SSV das Sammelbuch Grenzwacht heraus, von KARL STAMM und MARCEL BROM erschienen die Gedichte Aus dem Tornister (1915), von KONRAD BÄNNINGER der Band Stille Soldaten (1917). Großen Erfolg erzielte ROBERT FAESI mit Füsilier Wipf. Eine Geschichte aus dem Schweizer Grenzdienst (1917), die man zwanzig Jahre später, den Zweiten Weltkrieg bereits vor Augen, dann auch verfilmte. Zahlreiche Erlebnisberichte von Soldaten, gedruckt in Zeitungen und Zeitschriften, ergänzten das breite Spektrum der »Grenzbesetzungsliteratur«, mit deren Hilfe nun nicht nur vaterländisches Bewußtsein aktiviert, sondern auch ein aufbrechendes soziales Spannungsfeld eingeebnet werden sollte. Immer sichtbarer wurde, daß »Hochkonjunktur, Kriegslieferungen und SchiebergeschäfLiteratur und Gesellschaft | 23 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 24 te die Profite steigerten und eine hauchdünne Schicht maßlos bereicherte«, während auf der anderen Seite »die Teuerung, der Lebensmittelmangel und verhängnisvolle Fehler der damaligen Kriegswirtschaft und Ernährungspolitik [...] die Arbeiterschaft in Not und Elend (stürzte). Die Einrichtung der Lohnausgleichskassen für die sich im Militärdienst befindlichen Lohnbezüger fehlte damals, ebenso die Institution der Preiskontrolle, die Rationierung war mangelhaft, ungerecht und unsozial.«26 Zahlreiche Demonstrationen und Streiks waren besonders in den letzten Jahren des Krieges eine deutliche Antwort der Arbeiter auf die rigorose Beschränkung ihrer Lebensmöglichkeit. An die Spitze des Kampfes stellte sich neben die Gewerkschaften (1880 war mit nur 133 Mitgliedern der Schweizerische Gewerkschaftsbund gegründet worden, der sich aber nach der Jahrhundertwende sehr schnell zu einer Massenorganisation entwickelte) auch die Sozialdemokratische Partei, die 1914 noch vorbehaltlos für die Landesverteidigung und ein entsprechendes Vollmachtenregime des Bundes gestimmt hatte. Zwar favorisierte die SPS weiterhin einen reformistischen Weg, schloß aber angesichts der Lage im Land und unter dem Eindruck der internationalen Arbeiterkonferenzen in Zimmerwald (1915) und Kiental (1916) eine Gesellschaftsveränderung mittels Revolution nicht mehr prinzipiell aus. Inwieweit LENIN, der sich seit Kriegsbeginn in der Schweiz aufhielt, auf diesen Wandlungsprozeß Einfluß gehabt hat, ist kaum zu beantworten. Zwar gab es eine intensive Zusammenarbeit mit WILLI MÜNZENBERG, FRITZ PLATTEN oder FRITZ BRUPBACHER, die dem linken Flügel der Partei angehörten, die um ROBERT GRIMM vereinte zentristische Mehrheit aber wahrte Distanz. Nicht zuletzt die Debatten in Zimmerwald machten das deutlich. Wie im politischen, so gab es auch im geistig-kulturellen Leben bemerkenswerte Tendenzen einer Distanzierung von fremden Einflüssen. Zwar bot die Schweiz, anders als zwanzig Jahre später, den Kriegsgegnern aus ganz Europa großzügig Asyl, um eine Integration der Pazifisten, Sozialisten, avantgardistischen Künstler, die da ins Land gekommen waren, bemühte sich nur eine Minderheit von Schweizern. Dazu gehörten der Verleger MAX RASCHER, der Arzt und Schriftsteller CHARLOT STRASSER und der Sozialdemokrat FRITZ BRUPBACHER, der neben seiner Tätigkeit als Mediziner von Januar 1915 bis August 1916 die Zeitschrift Der Revoluzzer herausgab, für die er auch selber Texte schrieb. HUGO BALL (1886– 1927) veröffentlichte darin sein beeindruckendes Antikriegsgedicht Totentanz 1916. Im großen und ganzen aber lebten Emigranten und Schweizer unbeachtet voneinander; RICHARD HUELSENBECKs (1892–1974) Bonmot »Schweizer sind damals in Zürich gar nicht vorhanden gewesen« veranschaulicht 24 | Der schwierige Weg ins neue Jahrhundert © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe 001-217_korr3 01.02.2007 18:03 Uhr Seite 25 die Situation recht deutlich. Die Emigration blieb unter sich, das Café Odeon in Zürich avancierte zu einem Zentrum der europäischen Moderne. Dort saß man zusammen, dort wurden Pläne geschmiedet für eigene Zeitschriften und künstlerische Aktionen. Dort, oder vielleicht im Café Terrasse, könnte auch der Plan einer Künstlerkneipe mit eigener Bühne entstanden sein. Am 5. Februar 1916 jedenfalls wurde sie in der Spiegelgasse 1, in der ehemaligen »Holländerschen Meierei«, nur wenige Schritte von Lenins Zürcher Domizil, eröffnet. Das abendliche Programm im »Cabaret Voltaire«, wie die Kneipe bald hieß, bestritten hauptsächlich HUGO BALL und EMMY HENNINGS (1885–1948), TRISTAN TZARA (1896–1963), MARCEL JANCO (1894–1984), HANS ARP (1887–1966), RICHARD HUELSENBECK. Vorgetragen wurden eigene Texte, dazu deutsche und französische Chansons, russische Volkslieder, Gedichte, Lieder und Szenen von WEDEKIND, RIMBAUD, SCHICKELE und anderen. Mit dem Leitgedanken, den Bürger zu verblüffen und zu provozieren, löste man sich allerdings bald von traditionellen Formen und Inhalten. In den Vordergrund rückten experimentelle Aktionen mit Tanz, Musik, Rezitation, Maskenspiel. Dada war geboren. Am 13. Juli 1916 gab es die erste Dada-Soiree, schon außerhalb der »Meierei« im Zunfthaus zur »WAAG«, sieben weitere öffentliche Veranstaltungen folgten bis zum April 1919. Zunehmend wandte man sich auch der bildenden Kunst zu, in der Bahnhofstraße entstand die »Galerie Dada«. Jahre später bilanzierte ARP: »Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen wollte«27. Der Anteil der Schweizer an Dada war gering. Allein einige bildende Künstler, etwa die mit Arp befreundete Kunsterzieherin SOPHIE TAEUBER (1889–1943), auch der Zürcher Komponist HANS HEUSSER (1892–1952), stellten einen engeren Kontakt zu den Dadaisten her. Der junge FRIEDRICH GLAUSER gelangte über die Bekanntschaft mit dem Wiener Maler MAX OPPENHEIMER (1885–1954) in diesen Kreis. Im »Cabaret Voltaire« bereitete er hin und wieder »Sprachsalat«, übernahm Statistenrollen und betätigte sich als Hilfskassierer. Auf seine späteren literarischen Arbeiten – sieht man einmal ab von einigen autobiographischen Aufzeichnungen, die von Oktober 1931 bis 1935 in lockerer Folge im Schweizer Spiegel erschienen28 – hat die Begegnung mit Dada-Zürich keinen Einfluß mehr gehabt. Literatur und Gesellschaft | 25 © Militzke Verlag GmbH – Leseprobe
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