Schmerz und Psyche – "Ich hab es doch im Rücken und nicht im Kopf!" 13.10.2015 Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernhard Klasen Algesiologikum MVZ Zentrum für Schmerzmedizin und psychische Gesundheit 1 "Ich hab es doch im Rücken und nicht im Kopf!" Re[3]: Können Rückenschmerzen auch psychisch bedingt sein? Antwort von: Henry Lange Zeit lebte ich auch mit Rückenschmerzen, kein Arzt konnte die Ursache finden. Bis ich dahinter kam, dass es an dem Stress auf der Arbeit lag. Aufgrund von Umstrukturierungen kam es in unserer Firma zu vielen Entlassungen, ich hatte natürlich auch Angst, meinen Job zu verlieren. Ich war dermaßen verspannt, erst Massagen und regelmäßige Entspannung haben bei mir geholfen. Kick-Off 2013 2 "Ich hab es doch im Rücken und nicht im Kopf!" „Hallo sweeta, vielleicht ist ja auch bei der Blinddarmoperation irgendwas nicht ganz ok gelaufen und du hast jetzt Schmerzen an der Stelle. Haben die Ärzte das schon ausgeschlossen? Ich würde mich an deiner Stelle keinesfalls auf die Psychoschiene abschieben lassen bevor nicht definitiv alle anderen Möglichkeiten abgeklärt sind. Ich würde dem Internisten gegenüber auch nicht erwähnen, dass du einen Termin beim Psychologen hast. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ärzte Fehler machen und dann argumentiert wird, der Patient hätte psychische Probleme. LG Anna „ 3 Ausgangssituation auf Seiten des Patienten Schmerz ist ein lokales Geschehen Schmerz ist immer ein Zeichen eines körperlichen Defektes Der Arzt ist der Experte Ich kann selbst nichts an meiner Situation verändern Skepsis bis Ablehnung gegenüber möglichen psychischen Begleitfaktoren Eine detaillierte medizinische (=apparative) Diagnostik ist erforderlich Kick-Off 2013 4 Prozentsatz der Patienten mit einem krankhaften Befund in mindestens einer Etage bei der lumbalen Kernspintomographie Bildgebende Verfahren in der Diagnostik & Therapie von Schmerzen (??) 100,0% 90,0% Kernspinbefunde der Lendenwirbelsäule bei 67 freiwilligen beschwerdefreien Menschen 93,0% 79,0% 80,0% 70,0% 61,7% 62,0% 59,0% 60,0% 56,0% BS-Vorfall Stenose Protrusion Degeneration 50,0% 50,0% 40,0% 36,0% 34,0% 30,0% 26,3% 22,0% 21,0% 21,0% 20,0% 10,0% 7,3% 1,0% 0,0% 20-39 0,0% 40-59 60-80 alle 5 „Befund“ ist nicht gleich „Befinden“ Kick-Off 2013 6 Chronischer Schmerz in Europa Auftretenshäufigkeit 46.394 Erwachsene (>18 Jahre) Computer-unterstütztes Telefoninterview Definition Chronischer Schmerz: Mehr als 6 Monate Schmerzen Mehrfach während der letzten Woche Letzter Schmerz: Schmerzstärke ≥ 6 (NRS 0-10) 7 Chronischer Schmerz in Deutschland und... in München 17 % aller Einwohner in Deutschland haben chronische Schmerzen (ca. 15 Mio). Davon weisen ca 10 % (1,5 Mio) Schmerzen mit erheblichen körperlichen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen auf. Das entspricht ca. 221.000 chronischen Schmerzpatienten in München und 22.100 schwerst beeinträchtigte Schmerzpatienten. Ein nicht unerheblicher Anteil davon wird bisher nicht adäquat und damit auch nicht nachhaltig versorgt. Die Diagnostik und Behandlung erfolgt oft nicht interdisziplinär, nach Behandlungsstandards oder mit nachhaltigem Erfolg. Viele Schmerz-Patienten haben lange Behandlungskarrieren. 8 Schmerzerkrankungen in den Algesiologikum Schmerzzentren München Schmerzarten bei 4647 Patienten der Algesiologikum Schmerzzentren München zwischen 09/2009 und 09/2013 3,3% 0,2% 1,7% 11,0% 22,9% 2,4% 0,2% 9,6% Kopfschmerz Gesichtsschmerz Schmerz bei Gefäßerkrankung Neuropathischer Schmerz Rückenschmerz 48,8% Schmerzen des muskuloskelettalen Systems Viszeraler Schmerz Akuter perioperativer/posttraumatischer Schmerz Schmerz ohne somatische Ursache 9 Das Bio-Psycho-Soziale Schmerzmodell • Gewebeverletzung • Nervenschaden • Sympathisch unterhaltener Schmerz • Veränderung der somatosensorischen Verarbeitung • Nozizeptiver Schmerz • Neuropathischer Schmerz Bio • Arbeitsplatz • Rentenverfahren • Familie • Freunde Psycho • Hilflosigkeit • Fehlende Bewältigungsstrategien • Angst-Vermeidungs-Verhalten • Durchhaltestrategien • Traumata Sozial 10 Rückkehr an den Arbeitsplatz 11 Psychologische Risikofaktoren für die Chronifizierung von (Rücken-)Schmerz Stress, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Depression bzw. Depressivität Schmerzbezogene Gedanken (z. B. Durchhalten, ängstlicher Umgang mit Schmerz) Ausgeprägtes Schon- und Vermeidungsverhalten Durchhaltendes Schmerzverhalten 12 Stress-Muskelspannung-Schmerz-Modell • Unzufriedenheit am Arbeitsplatz Stress • Konflikte in der Familie Schmerz Muskelspannung 13 Stress-Muskelspannung-Schmerz-Modell Experimentelle Anordnung IEMG Microvolt OberflächenElektromyographie (EMG) Muskelgruppe Anstieg des IEMG von Ausgangslage zur Stressorphase (einminütiger Bericht über individuelle Belastung) 14 Psychologische Risikofaktoren für die Chronifizierung von (Rücken-)Schmerz Stress, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, Depression Schmerzbezogene Gedanken (z. B. Durchhalten Schon- und Vermeidungsverhalten Durchhaltendes Schmerzverhalten 15 Akuter Schmerz Bewältigungsstrategie Was wird aus dem Schmerz? 16 Akuter Schmerz Vermeidungsverhalten • Dies geht einher mit • „Hoffentlich ist das nicht schlimmes!“ • Niedergeschlagenheit • weniger Bewegung • Verabredungen absagen • körperlicher Schonung • Schwächung der Muskeln • Furcht/Angst Schmerzen werden chronisch 17 Akuter Schmerz Durchhalteappel Dieser geht einher mit: • „Stell Dich nicht so an!“ • gereizte/niedergeschlagene Stimmung • weniger Bewegung • körperlicher Schonung • Schwächung der Muskeln Schmerzen werden chronisch 18 Widerstreitende Gedanken in der Schmerzverarbeitung Ach, das ist nicht so schlimm. Jetzt beende erst einmal die Aufgabe… Ich hab Schmerzen, ich brauche eine Pause Herunterspielen Durchhalten Signal, auf sich acht zu geben 19 Widerstreitende Gedanken in der Schmerzverarbeitung Jetzt nicht, später! Es tut so weh, ich brauche eine Pause! Signal, auf sich acht zu geben Durchhalten!!! 20 Widerstreitende Gedanken in der Schmerzverarbeitung Nun stell Dich nicht so an, das wirst Du schon noch durchhalten! Was ist, wenn die Schmerzen noch schlimmer werden? Katastrophengedanken Durchhalten 21 Widerstreitende in in der Schmerzverarbeitung Widerstreitende Gedanken Kognitionen der Schmerzverarbeitung Ich kann nicht mehr! Es ist so schlimm! Es muss jetzt sofort etwas geschehen! Du stellst Dich ganz schön an! Durchhalten Katastrophengedanken!!!!!!! 22 Akuter Schmerz Durchhaltestrategien Diese gehen einher mit: • „Das wird schon nichts bedeuten!“ • Fröhliche Stimmung • viele Aktivitäten • Überbeanspruchung der Muskulatur • Verabredungen auf jeden Fall einhalten Schmerzen werden chronisch 23 Akuter Schmerz Wechselseitige Be- und Entlastung Diese geht einher mit: • „Jetzt schau‘ ich erst mal, was mir bei meinen Schmerzen am besten tut.“ • An das jeweilige Schmerzgeschehen angepasste Aktivitäten, im Sinne von flexibler Be- und Entlastung Schmerzen können zurückgehen 24 Akuter Schmerz Durchhalteappell Vermeidungsverhalten Schmerzen werden chronisch © Hasenbring, M. (2000). Wechselseitige Be- und Entlastung Durchhaltestrategien Schmerzen werden chronisch Schmerzen werden chronisch Schmerzen können zurückgehen 25 Ziele der psych. Schmerztherapie aktiv etwas zur Linderung der Schmerzen unternehmen den Schmerz beherrschen lernen Umstellung und/oder Verringerung der Schmerzmedikamente mögliche Verschlechterung vermeiden 26 Elemente der psych. Schmerztherapie - I Information zur Schmerzverarbeitung Information über das jeweilige spezifische Schmerzsyndrom Auslöser von Schmerz/Stress aufdecken und Einfluss darauf nehmen 27 Elemente der psych. Schmerztherapie - II Schmerzlinderung durch Anwendung verschiedener Methoden und Techniken Förderung des allgemeinen Wohlbefindens (geniessen und entspannen lernen) Information über Medikamente (Zusammenarbeit mit medizinischen Schmerztherapeuten) 28 Multimodale Schmerztherapie Das Anti-Chronifizierungsmodell Psychologischer Psychotherapeut Externer psychologischer Psychotherapeut als Coach Ärzte versch. Fachrichtung Sozialpädagoge Physiotherapeut Med. Trainingstherapeut Vermittlung eines einheitlichen Schmerzmodells Chronischer Schmerzpatient • Intensive Schulung • ständige Supervision • Patientenorientierte Teambesprechung SchwerpunktPflegepersonal als Kotherapeuten „Basis“-Pflegepersonal 29 Multidisziplinäres Assessment bei chronifizierten Patienten ärztl. Gespräch und Untersuchung Re-Assessment? Physio-/ sporttherapeutische Untersuchung Psychologisches Erstgespräch Teambesprechung Diagnose Diagnostik- und Therapieplan Weitere Diagnostik Medikamentöse Therapie Interventionelle Verfahren Spinale Neuromodulation Multimodale Therapie offene Gruppe geschlossene Gruppe 30 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 31
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