Bericht - Benevol Schweiz

10 SCHWEIZ
30. D E Z E M B E R 2015
D I E Z E I T No 1
Fotos: Fabian Biasio für DIE ZEIT
Herr Kull aus Chur und Biniam aus Eritrea:
Beim Fußballtraining, bei den Hausaufgaben
B
iniam und Herr Kull: Das passt. Es ist
Montag, kurz nach 15.30 Uhr. Herr
Kull sitzt an einer Schulbank, als Biniam
hereinkommt. Der Junge nimmt einen
Block und ein Etui aus seinem Rucksack
und legt sie auf den Tisch. Der pensionierte Heil­
pädagoge aus Chur und der Achtjährige aus Eritrea
machen zusammen Hausaufgaben. Immer am Mon­
tag, immer an der Stadtschule Türligarten, wo Biniam
die zweite Klasse besucht.
Biniam hat große Augen und einen wachen Blick.
Er begrüßt seinen Nachhilfelehrer. Herr Kull hat ein
schmales Gesicht, weiße Haare. Biniam spricht laut.
In akzentfreiem Hochdeutsch. Ist voller Erwartung.
Herr Kull antwortet ruhig. In Lehrerhochdeutsch. Ist
voller Geduld.
Theo Kull ist einer von Tausenden freiwilligen
Helfern, die derzeit in der Schweiz Flüchtlinge
unter­stützen. Beim Deutschlernen. Beim Telefo­
nieren mit Ämtern. Beim Wohnungssuchen. Beim
Hausaufgabenmachen. Beim Fußfassen im neuen
Land. Die Anfragen von Leuten, die Flüchtlingen
helfen möchten, hätten »massiv zugenommen«, sagt
Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe.
Der Verband musste eine neue Stelle schaffen, um
den Ansturm zu bewältigen. Auf der Website der
Flüchtlingshilfe sind unzählige Projekte aufgelistet
zur Unterstützung von Asylsuchenden und vorläufig
Aufgenommenen in der ganzen Schweiz. Wer Platz
hat, kann ein freies WG-Zimmer anbieten. Wer Zeit
hat, kann Deutsch-Nachhilfe geben. Wer Kleider,
Schuhe, Geld hat, kann spenden.
Theo Kull hat Zeit. »Ich wollte nach meiner Pen­
sionierung weiterhin etwas in der Schule machen, mit
Kindern«, sagt er. Deshalb meldet er sich im Sommer
2014 beim Roten Kreuz. Ein Freund hat ihm vom
Projekt »eins zu eins« erzählt. Sechzig Freiwillige unter­
stützen den kantonalen Sozialdienst. Sie helfen Flücht­
lingen, den Alltag in der Schweiz zu bewältigen. Tun
das, wofür die Sozialarbeiter keine Kapazitäten und
keinen Auftrag haben. Dabei werden sie von RotKreuz-Mitarbeitern betreut.
Herr Kull trifft Biniam in der Schule, weil er
nicht zu ihm nach Hause möchte. »Dort hätten wir
keine Ruhe«, sagt er. Der Bub lebt mit fünf Ge­
schwistern und seinen Eltern in einer kleinen Woh­
nung. Deshalb hat Herr Kull eine Lehrerin gefragt,
ob es möglich sei, hier zweimal in der Woche Haus­
aufgaben zu machen.
Biniam reiht Buchstaben aneinander, wie es Pri­
marschüler tun, wenn sie lesen lernen. Buchstaben,
die ohne Betonung, ohne Punkt und Komma wenig
Sinn geben. »Usa«, liest Biniam. »U-S-A«, korrigiert
Kull. »Weißt du was, finden wir einen Atlas?« –
»Was ist das?«, fragt Biniam. »Ein Buch, in dem alle
Länder aufgezeichnet sind.« Herr Kull beginnt, in
den Bücherregalen zu suchen. Biniam auch. Sie wer­
den fündig, setzen sich wieder an die Schulbank.
»Das ist Afrika. Da ist Italien. Schau. Und wir sind?«
– »In der Schweiz.« – »Jetzt müssen wir noch die
USA suchen. – »Das ist New York«, sagt Biniam.
Und zeigt mit dem Finger auf die Karte. Er hat die
Freiheitsstatue entdeckt.
Im Sommer 2014, als Kull sich beim Roten
Kreuz meldet, gibt es gerade kein Kind und keinen
Jugendlichen, der seine Unterstützung braucht. Also
hilft er einer tamilischen Familie. Sie liegt mit dem
Wohnungsvermieter im Streit. Kull vermittelt. Aber
eigentlich hatte er sich die Arbeit als Freiwilliger
anders vorgestellt. Ein paar Monate später kommt
eine Anfrage, ob er einer 17-Jährigen aus Eritrea
Nachhilfeunterricht geben könnte. Endlich, denkt
er. Es ist Biniams Schwester Zula. Kull trifft sich mit
ihr in der Schule. »Ich habe sie schon gekannt, sie
war an der Oberstufe, wo ich als Heilpädagoge ge­
arbeitet habe«, sagt er Kull und ergänzt: »Es war
schwierig, sie war nicht bei der Sache.«
Bei einer Sitzung mit einem Sozialarbeiter erfährt
Kull, dass die Familie seiner Nachhilfeschülerin eine
neue Wohnung sucht. »Das war ihnen eigentlich wich­
tiger als Unterricht für die Tochter.« Die Familie wohnt
am Rande der Stadt. Eine neue Wohnung für acht
Personen suchen? Kull willigt ein: »Ich probiere es.«
Heute sagt er: »Diese Aufgabe wollte ich eigentlich nie
übernehmen.« Aber er habe gedacht: So schwierig kann
das nicht sein. Freunde machten ihm Mut: »Das geht
schon, du musst nur bei der Caritas fragen oder beim
Bistum.« Rasch habe er aber gemerkt, dass von überall
nur Absagen kommen.
Kull ist enttäuscht. Die Familie meldet sich nicht
mehr bei ihm. Der Kontakt zur Tochter bricht ab,
weil sie an eine andere Schule versetzt wird. »Es hat
mich geplagt, weil ich gemerkt habe: Es klappt nicht.
Aber es war mir nicht egal.« Trotzdem sieht er keine
Herr
Kull will
helfen
Theo Kull aus Chur ist einer
von Tausenden Freiwilligen,
die Flüchtlinge in der Schweiz
unterstützen wollen.
Bald aber merkt er: Das ist
schwieriger als gedacht
VON ALINE WANNER
Möglichkeit weiterzumachen. »Ich habe beinahe auf­
gegeben«, sagt Kull. »Ich habe gesagt, dass es so keinen
Sinn macht.«
Die Familie, sein Scheitern, lassen ihm jedoch
keine Ruhe. Eine Sozialarbeiterin an der Schule sagt
ihm: »Es wäre doch schade, wenn du aufhörst.« Kull
tut, was vielen anderen Freiwilligen zu anstrengend ist:
Er bleibt dran. Er tauscht sich mit der Verantwortlichen
des Roten Kreuzes aus. Und macht sich darüber Ge­
danken, unter welchen Umständen er die Familie
weiterhin begleiten könnte. Da hat er die Idee, eine
zweite Freiwillige dazuzuholen. »Ich dachte, eine Frau
würde vielleicht einen besseren Draht finden zu M
­ utter
und Schwester.«
Eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes findet eine
Freiwillige, die den Auftrag annimmt: Doris, Mutter
von zwei kleinen Kindern. »Sie gab mir eine gewisse
Sicherheit zurück«, sagt Kull. Die Lösung sei ideal
gewesen. »Doris hatte Kontakt zur Mutter, zur Familie,
ich habe die Tochter wieder dabei unterstützt, Deutsch
zu lernen.«
Der Sozialarbeiter, die Freiwilligen und Zulas Fa­
milie tauschen sich regelmäßig an Sitzungen aus. Ein­
mal, kurz vor den Sommerferien 2015, sind alle Fami­
lienmitglieder mit dabei. Auch Biniam. Herr Kull und
er lernen sich kennen. Biniam sagt, dass er gern Fußball
spielen würde. Herr Kull schlägt ihm vor, in den UniHockeyverein in der Nähe der Schule zu gehen. Biniam
will aber Fußball spielen.
Nach den Sommerferien geht Kull über die Fuß­
ballplätze des FC Chur und sucht die Mannschaft,
in der Biniam trainieren könnte. Er merkt: Das
Team hat gar keinen richtigen Trainer mehr. Einer
hat aus beruflichen Gründen aufgehört. Der andere,
ein Chauffeur, kommt meist zu spät, wenn er lange
arbeiten muss. Kull macht einen Vorschlag: Er selbst
übernimmt die Leitung des Trainings, bis der richti­
ge Coach kommt, dafür bringt dieser Biniam nach
dem Training nach Hause. Denn ein Bus fährt am
Abend nicht mehr an den Stadtrand.
Nun fehlen Biniam nur noch Fußballschuhe und
Schienbeinschoner. Kull sucht im Internet nach einem
Bild der Utensilien, druckt es aus und gibt es dem
Buben mit, damit er es dem Vater zeigen kann. Eines
Tages kommt die Schwester zur Schule und teilt Herrn
Kull mit, dass der Vater Biniam »dieses Zeugs« be­
stimmt nicht kaufen werde. »Wir haben kein Geld.«
Kull denkt, das kann es nicht sein. »Ich habe versucht,
mich daran zu erinnern, wie ich es bei den eigenen
Kindern gemacht habe.« Er merkt, eine Sportkleider­
börse gibt es nicht mehr. Und in den Brockenhäusern
gibt es kaum Tschuutschuhe. Die Zeit drängt. Ein
Turnier steht an. Biniam möchte mitspielen. Schließ­
lich habe er etwas getan, von dem er bis heute nicht
wisse, ob es gut sei. »Ich ging in den Laden und habe
Schuhe und Schoner für Biniam gekauft.«
Das Fußballtraining hat Kull unterschätzt, sagt er.
»Ich bin danach wirklich auf der Schnorre.« Er müsse
aufpassen mit seinen Gelenken. Aber sein Kopf lasse
es nicht zu, einfach aufzuhören. Und seine Familie,
seine Frau? »Die hat gar keine Freude daran, dass ich
wieder Fußballtraining gebe. Mein Sohn hat auch sehr
ungläubig dreingeschaut.« Es sei schwierig, zu ver­
mitteln, was und warum er all das tue.
Auch Biniams Eltern scheinen nicht wirklich zu
begreifen, was Kull da eigentlich tut. Was seine Rolle
ist. »Die Mutter und der Vater haben wahrscheinlich
nicht verstanden, dass ich das freiwillig mache. Wäh­
rend einer Sitzung sagten sie, ich werde ja dafür be­
zahlt.« Wie geht er damit um? »Wenn ich so etwas höre,
das ist im Moment dann schon hart«, sagt er. Warum,
weil er Dankbarkeit erwartet? Kull lacht. »Ich weiß, ich
darf keine Dankbarkeit erwarten, sonst brenne ich aus.
Und, was soll ich sagen? Irgendwann erwartest du dann
halt trotzdem einen Dank.«
Ans Aufgeben hat Kull seit seiner Krise im Früh­
jahr aber nicht mehr gedacht. Obwohl Doris, die
andere freiwillige Helferin, wieder ausgestiegen ist.
Obwohl der Kontakt zu den Eltern harzig ist. Er habe
schon in der Schule, als Heilpädagoge, festgestellt,
dass es sich lohne, weiterzumachen, auch wenn es
schwierig wird. Und dabei so frei von Erwartungen
zu bleiben wie möglich. Deshalb sucht er noch immer
nach einer Wohnung für die Familie. Macht Haus­
aufgaben. Gibt Fußballtraining. Aber nur noch bis
zum Ende der Saison.
Kull weiß, der Kontakt zu Biniams Familie könn­
te jederzeit abbrechen. Er hat gehört, dass sie viel­
leicht nach Landquart ziehen möchten. »Natürlich
wäre das schade«, sagt er. »Aber: Wenn es aufhört,
hört es auf.«
Plagen würde es ihn trotzdem.
Die Namen der eritreischen Kinder wurden geändert
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