Hans Reichenbach: Auszug aus Wahrscheinlichkeit und Induktion 1. Hans Reichenbach: Vita1 Hans Reichenbach wurde 1891 in Hamburg geboren und studierte von 1910 bis 1915 in Stuttgart, Berlin, München und Göttingen Ingenieurwissenschaften, Physik, Mathematik und Philosophie. Er promovierte 1915 über die philosophischen Grundlagen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. 1918 studierte er neben seinem Beruf in einer berliner Firma, die Radios produzierte, bei Einstein. Von 1920 bis 1926 war er Assistent und Privatdozent am physikalischen Institut in Stuttgart; 1926 bekam er mit Hilfe Einsteins eine außerordentliche Professur für Philosophie der Naturwissenschaften an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. 1933 gelang es ihm eine Berufung nach Istanbul zu erlangen, da er als «Halbjude» keine Chance auf einen Verbleib im Amt in Deutschland hatte. Schließlich erhielte er 1938 einen Ruf nach Los Angeles in Amerika, wo er bis zu seinem Tod 1953 lehrte. 2.1. Das Induktionsproblem Hans Reichenbach kommt einerseits über Probleme in der Wahrscheinlichkeitstheorie und andererseits über die Betrachtung der Kritik David Humes (1711 - 1776) zum Induktionsproblem. Für uns ist sein zweiter Zugang entscheidend. Er faßt die Kritik Humes in folgenden zwei Sätzen zusammen:2 „1. Es gibt keinen logischen Beweis für die Geltung des Induktionsschlusses. 2. Es gibt keinen aposteriorischen Beweis für den Induktionsschluß; jeder solche Beweis würde gerade das Prinzip voraussetzen, das er beweisen soll.“ [213/214] Reichenbach fügt hinzu: „Diese beiden Säulen der Humeschen Kritik des Induktionsprinzips sind zwei Jahrhunderte lang unerschüttert geblieben, und ich glaube, sie werden es so lange bleiben, wie es eine wissenschaftliche Philosophie gibt.“ Dann klagt er über die oftmals unzureichende Beachtung der Kritik Humes und beschreibt verschiedene - seiner Meinung nach unzureichende - Lösungsversuche des Induktionsproblems. Wichtig für Reichenbach ist stets die „Forderung der Nutzbarkeit“ [215] des Induktionsschlusses. Nach Reichenbach hat Hume das von letzterem erkannte Problem verschleiert [216]: Humes Theorie über den Induktionsschluß als Gewohnheit löst nicht die von ihm erkannten epistemologischen Schwierigkeiten, die das Induktionsproblem aufwirft. Eine Lösung ist aber äußerst wichtig, da ansonsten „die Arbeitsmethode der Wissenschaft zu einem bloßen Spiel herabsinkt und nicht mehr durch die 1 Entnommen aus: Andreas Kamlah, H Reichenbach: Prinzipien, Konventionen, Wahrscheinlichkeit, in: Grundprobleme der großen Philosophen / Philosophie der Neuzeit, hrsg. von Josef Speck, Göttingen 1992, S. 67. 2 Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate sind von Hans Reichenbach. Sie sind seinem Aufsatz im Reader für das Seminar entnommen. Die Ziffern in eckigen Klammern geben die jeweilige Seitenzahl an. -1- Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse beim Handeln begründet werden kann, wenn es keine Rechtfertigung des induktiven Schlusses gibt.“ Kurz: „Der Induktionsschluß ist unentbehrlich, weil wir ihn zum Handeln brauchen“, denn „wir müssen eine Wahl treffen, und wir treffen sie im Einklang mit dem Induktionsprinzip.“ [216] Für diese Notwendigkeit benutzt Reichenbach das folgende Bild: „Wir können unserer Situation mit der eines Menschen vergleichen, der in einem unerforschten Teil des Meeres fischen will. Es gibt niemandem, der ihm sagen kann, ob es dort Fische gibt. Soll er sein Netz auswerfen? Nun, wenn er an diesem Ort fischen will, würde ich ihm raten, das Netz auszuwerfen und wenigstens die Möglichkeit wahrzunehmen. Es ist besser, selbst bei Ungewißheit den Versuch zu machen, als nichts zu tun und sicher zu sein, daß man nichts erreicht.“ [227] So plausibel dieser Ansatz Reichenbachs aber für das Handeln auch ist, so wenig wird dadurch der eigentliche Punkt der Humeschen Kritik berührt. Auch Hume hat ja die Anwendung des Induktionsschlusses in der täglichen Praxis keineswegs verworfen, sondern gezeigt, daß wir diesen Schluß eben nicht beweisen können. Nun ist es aber laut Reichenbach „keine Rechtfertigung des induktiven Glaubens, wenn man [wie Hume] zeigt, daß er eine Gewohnheit ist. Er ist eine Gewohnheit; aber die Frage ist, ob er eine gute Gewohnheit ist.“ [217] Wenn man nicht zeigen kann, daß der Induktionsschluß eine gute Gewohnheit, also „nützlich für Handlungen, die sich auf die Zukunft richten“, ist, „sollten wir ihn entweder nicht mehr benutzten oder offen zugeben, daß unsere Philosophie auf dem Holzweg ist.“[217] Hier geht Reichenbach über Hume hinaus, denn er fordert rigoros, die Konsequenzen, die sich aus dem Induktionsproblem ergeben, im Handeln oder auch im Denken umzusetzen. Man täuscht sich selbst, wenn man den Induktionsschluß als unbeweisbar erkennt, die Wichtigkeit dieser Erkenntnis aber gleichzeitig dadurch überspielt, daß man irgendwelche anderen Erklärungen für die Rechtmäßigkeit des induktiven Schließens anbringt. Es ist also notwendig, eine unwiderlegbare Rechtfertigung für den Induktionsschluß zu finden. Diese sollte ebenso sicher sein, „wie die formalistische Rechtfertigung der deduktiven Logik.“ [217] Diese Rechtfertigung zu geben ist das Ziel Reichenbachs und damit sie in einem möglichst großen Bereich anwendbar ist, formuliert er das zu untersuchende Induktionsprinzip allgemeiner [212/213]: Es seien A und à (nicht-A) eine Folge von Ereignissen; n die Anzahl der Ereignisse, m die Anzahl der Ereignisse A unter ihnen. m n Annahme: „Für jede beliebige Verlängerung der Folge auf s Ereignisse (s > n) wird die relati- Dann ist die relative Häufigkeit hn gegeben durch: hn = ve Häufigkeit in einem kleinen Intervall um hn verbleiben, d.h.“ hn - hs hn + ,wo >0 eine kleine Zahl ist. „Diese Annahme formuliert das Induktionsprinzip […] in einer allgemeineren Form […]. Die Induktion ist die Annahme, daß ein Ereignis, das n mal eingetroffen ist, in Zukunft immer wieder eintreffen wird.“ Sie ist -2- also ein Spezialfall der obigen Formulierung mit hn = 1, da ja dann m = n gilt. Mit diesem Rüstzeug wendet sich Reichenbach nun der Rechtfertigung des Induktionsprinzips zu. 2.2. Die Rechtfertigung des Induktionsprinzips Zunächst stellt sich Reichenbach die Frage, was eigentlich durch Humes Einwände bewiesen worden ist und kommt zum Ergebnis, daß Humes Kritik die Voraussetzung macht, daß die Anwendung des Induktionsschlusses nur dann gerechtfertigt wäre, wenn man den Nachweis erbringen könne, daß die Konklusion wahr sei. Daß man diesen Nachweis nicht erbringen kann, zeigt die Kritik Humes. Man kann aber die Frage stellen, ob denn Humes Voraussetzung gültig ist. Das ist der Punkt, an dem Reichenbachs Rechtfertigung des Induktionsprinzips ansetzt: „Ist für die Rechtfertigung des Induktionsschlusses der Beweis notwendig, daß seine Konklusion wahr ist?“ [218] Nun ist natürlich richtig, daß der Induktionsschluß durch den Nachweis der Wahrheit seiner Konklusion gerechtfertigt wäre. Aber eine Rechtfertigung des Induktionsschlusses setzt nach Reichenbach nicht die Wahrheit seiner Konklusion voraus. Denn ein „Beweis der Wahrheit der Konklusion ist zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für die Rechtfertigung der Induktion.“ [218] Nach Reichenbach wäre das Induktionsprinzip durch folgenden Gedankengang zu rechtfertigen: Wir kennen die Wahrheit über die Zukunft nicht, es könnte aber eine beste Annahme darüber geben. Wenn das Induktionsprinzip uns diese Annahme liefert, ist es gerechtfertigt. Wenn man nur zeigen kann, daß das Induktionsprinzip eine notwendige Bedingung für den zukünftigen Erfolg einer Handlung oder Überlegung ist, wären alle Anforderungen erfüllt, „die man an eine Rechtfertigung der Induktion stellen kann.“ [218] Die Induktion wäre also gerechtfertigt, wenn es gelänge zu zeigen, daß sie eine nicht induktiv gerechtfertigte notwendige Bedingung für die beste Zukunftsaussage ist. Diesen Beweis hält Reichenbach für möglich. Dazu formuliert er die unscharfe Bestimmung des Zieles der Induktion - nämlich die Zukunft vorauszusagen - folgendermaßen um: „Das Ziel der Induktion ist, Ereignisfolgen zu finden, bei denen die Häufigkeit eines bestimmten Ereignisses einem Grenzwert zustrebt.“ [218] Damit betritt er wieder das Terrain der Wahrscheinlichkeitsrechnung und er rechtfertigt diese Formulierung ebenso wie seine allgemeine Fassung des Induktionsprinzips (s.o.) damit, daß sie allgemeingültig sei und „alle überhaupt möglichen Anwendungen“ [219] umfasse und als Spezialfälle enthalte. Nun kommt Reichenbach zu einer sehr wichtigen Voraussetzung: Um mit seinem Ansatz zur Rechtfertigung des Induktionsprinzips überhaupt arbeiten zu können muß er postulieren, daß die Welt „voraussagbar“ ist, soll heißen, daß sie genügend geordnet ist und überhaupt Folgen mit einem Grenzwert enthält. Zwar ist mit dieser Forderung lediglich gesagt, daß es Folgen mit einem Grenz-3- wert gibt, nicht aber, daß jede Folge genau einen Grenzwert hat; dennoch ist es eine weitreichende Voraussetzung, denn wir können „nicht wissen, ob unsere Welt voraussagbar ist.“ [219] Unter der Voraussetzung einer voraussagbaren Welt gilt aber, daß es Folgen mit einem Grenzwert gibt. Betrachten wir nun Ereignisfolgen (wie oben in 2.2.) und deren relative Häufigkeit hn, so gilt nach der in der Mathematik üblichen Formulierung des Grenzwerts einer Folge3: „Die Folge der Häufigkeiten hn hat den Grenzwert p, wenn es zu jedem vorgegebenen >0 ein n gibt, derart, daß hn innerhalb von p± liegt und für den Rest der Folge in diesem Intervall verbleibt.“[219] Im Vergleich mit der obigen Definition des Induktionsprinzips kommt Reichenbach nun zu dem Schluß: „Wenn ein Grenzwert existiert, dann gibt es ein Element der Folge, von dem aus das Induktionsprinzip zu diesem Grenzwert führt. In diesem Sinne ist das Induktionsprinzip eine notwendige Bedingung zur Bestimmung des Grenzwerts“ [219] In der praktischen Anwendung dieses Prinzips gibt es aber ein Problem: Wir können bei keinem n eines statistisch berechneten Werts hn wissen, ob es das n der Konvergenzstelle ist, also dasjenige n, ab dem es keine Abweichung von p mehr gibt, die größer als ist. Allerdings können wir das Verfahren fortsetzen und stets das letzte n als unseren besten Wert ansehen. Falls der Grenzwert p existiert, müssen wir ihn mit dieser Methode irgendwann einmal erreichen; „die Anwendbarkeit dieses Verfahrens überhaupt ist eine notwendige Bedingung für die Existenz eines Grenzwertes p.“ [219/220] Da- mit hat Reichenbach die gesuchte notwendige Bedingung für die Bestimmung eines Grenzwertes und damit die Bedingung für seine Rechtfertigung der Induktion gefunden. Man muß nicht die einzelne Annahme, sondern die ganze Folge von induktiven Annahmen in Betracht ziehen. „Die Anwendbarkeit dieser Methode ist die gesuchte notwendige Bedingung.“[220] Mit anderen Worten: Wenn man Reichenbachs Methode der iterierten Setzung von n als besten Wert für eine Aussage über ein zukünftiges Ereignis anwenden kann, dann gibt es offensichtlich eine Ereignisfolge und diese kann einem Grenzwert zustreben. Kann man die Methode nicht anwenden, existiert auch der Grenzwert nicht; denn wenn er existiert, muß es eine Folge geben und diese Folge kann durch Reichenbachs Methode erfaßt werden. Also gibt aber erst das gesamte Verfahren, die gesamte Folge induktiver Annahmen, die notwendige Bedingung für die Bestimmung eines Grenzwerts. Im Einzelfall kann man nicht wissen, wie groß der Abstand des gerade betrachteten Folgenglieds vom Grenzwert ist. Damit ist diese Methode aber im Einzelfall eben nicht sinnvoll anwendbar. Dem begegnet Reichenbach durch den Begriff der Set3 Vgl. dazu Harro Heuser, Lehrbuch der Analysis / Teil 1, 101993 B.G. Teubner, Stuttgart, Seite 144: Definition Die Zahlenfolge (an) konvergiert gegen a, wenn es zu jeder positiven Zahl einen Index no( ) gibt, so daß für a l le n > n0( ) stets |an - a| < ist. a heißt Gre nzwer t oder Limes der Folge (an). -4- zung. Dieser wird folgendermaßen erklärt: „Wenn wir eine Häufigkeit hn beobachten und sie als Annäherung an den Grenzwert betrachten, so ist das für uns keine wahre Behauptung; es ist eine Setzung, wie wir sie bei einer Wette machen. […] Wir wissen, daß hn unsere beste Wette ist, und darum setzen wir sie.“ [220] Sind in einer solchen Wette alle möglichen Wettausgänge bekannt (wie zum Beispiel beim Werfen eines idealen Würfels sechs Ausgänge, bei einer idealen Münze zwei), so ist das Gewicht der Setzung durch die Wahrscheinlichkeit gegeben (z. B. beim idealen Würfel auf die Wette einer geraden Zahl ist das Gewicht ½) und dies nennt Reichenbach eine qualifizierte Setzung. Ist es nicht möglich, das Gewicht einer Setzung zu ermitteln, spricht er von einer blinden Setzung. Das dürfte meistens der Fall sein, wenn wir hn setzen; wir wissen dann nur, daß dies unsere beste Setzung ist, aber wir wissen nicht, wie gut sie ist. Diese blinde Setzung kann dadurch verbessert werden, daß „wir unsere Folge fortsetzen“ [220] und jeweils den letzten der damit neu erhaltenen Werte hn setzen. Dieses Vorgehen wird irgendwann einmal zum Erfolg führen, wenn es überhaupt einen Grenzwert gibt. Dem Einwand, es könne auch noch andere Methoden geben, die „ebenfalls den Grenzwert erkennen lassen würden“ [221] begegnet Reichenbach damit, daß erstens das Konvergenzverhalten dieser ande- ren Methoden (z. B. der Hellseher) von uns nur durch die induktive Methode überprüft werden könnte. Und daß, zweitens, im Falle der Konvergenz der anderen Methoden, die induktive Methode diejenige sei, die das geringste Risiko mit sich bringt. Dies illustriert Reichenbach folgendermaßen: Wenn der Grenzwert p existiert findet ihn die induktive Methode auf jeden Fall, d. h. der Grenzwert für n gegen Unendlich von hn ist p. Für eine beliebige Folge cn, welche nur der Bedingung genügt, daß ihr Grenzwert für n gegen Unendlich gleich 0 ist, gilt dann: Der Grenzwert von hn ± cn für n gegen Unendlich ist p. Allerdings kann dabei cn die Konvergenz beschleunigen - wenn es gut gewählt ist -, oder aber verlangsamen - wenn es schlecht gewählt ist. Für das reine Induktionsprinzip wäre cn identisch 0 in allen Gliedern; daher ist das Induktionsprinzip der Weg mit dem niedrigsten Risiko, weil sich dabei keine unbekannten Faktoren cn einmischen. Also kann Reichenbach folgern: „Wenn es irgendeine Methode gibt, die zum Grenzwert der Häufigkeit führt, dann […] tut es das Induktionsprinzip auch; wenn es einen Grenzwert der Häufigkeit gibt, ist die Anwendung des Induktionsprinzips eine hinreichende Bedingung dafür, ihn zu finden.“ [222] Läßt man nun auch noch die Voraussetzung fallen, daß ein Grenzwert der Häufigkeit existiert, kann man immer noch sagen, „daß die Anwendbarkeit des Induktionsprinzips eine notwendige Bedingung für die Existenz eines Grenzwerts der Häufigkeit ist“, da das Induktionsprinzip Element einer Klasse äqui- valenter Bedingungen für die Existenz eines Grenzwerts der Häufigkeit ist. -5- Da nun zusätzlich eine jedesmal richtige Voraussage ein viel speziellerer Fall als die Angabe des Grenzwerts der Häufigkeit ist und jede Voraussagemethode ohnehin zu einer Folge mit einem Grenzwert der Häufigkeit führt, kann Reichenbach die Anwendbarkeit des Induktionsverfahrens als eine notwendige Bedingung für Voraussagbarkeit überhaupt bezeichnen. „Da die Anwendbarkeit des Induktionsverfahrens eine notwendige Bedingung für die Voraussagbarkeit ist, macht diese Methode unsere beste Wette ausfindig.“[226] Damit hat Reichenbach sein Ziel erreicht: „Obwohl die Induktionsregel keine Tautologie ist, stützt sich der Beweis, daß sie zur besten Setzung führt, nur auf Tautologien.“ [224] Und gegen Hume gewandt, sagt er: „Hume glaubte, eine Rechtfertigung der Induktion sei nicht möglich, weil man nicht wisse, ob man Erfolg haben wird; richtig müßte man sagen, eine Rechtfertigung der Induktion wäre nicht möglich, wenn man wüßte, daß man keinen Erfolg haben wird.“[226] Reichenbach schließt seine Rechtfertigung des Induktionsprinzips mit folgenden Sätzen: „In dieser Analyse erblicken wir die Lösung des Humeschen Problems. Hume forderte zuviel, wenn er für die Rechtfertigung des Induktionsschlusses den Beweis verlangte, daß die Folgerung wahr sei. Seine Einwände zeigen nur, daß ein solcher Beweis nicht möglich ist. Wir ziehen aber keinen induktiven Schluß mit dem Anspruch, zu einer wahren Aussage zu kommen. Wir kommen zu einer Setzung, und es ist die beste Wette, die wir eingehen können, weil sie einem Verfahren entspricht, dessen Anwendbarkeit die notwendige Bedingung für die Möglichkeit von Voraussagen ist. Die Erfüllung von Bedingungen, die zur Erlangung wahrer Voraussagen hinreichend wären, liegt nicht in unserer Macht […].“ [223] 2.3. Zwei Einwände gegen Reichenbachs Rechtfertigung der Induktion Diese zwei Einwände beziehen sich beide auf das Postulat der Existenz des Grenzwerts der Häufigkeit. Der erste behauptet, daß damit zu viel gefordert sei: „Die Welt könne voraussagbar sein, auch wenn die Häufigkeiten keinen Grenzwert hätten.“ [223] Dagegen führt Reichenbach den Begriff der Reduzierbarkeit von Folgen ein; damit ist die mathematische Möglichkeit der Beschreibung von Folgen durch deren konvergente Teilfolgen gemeint. Ein Beispiel: Man Betrachte für wachsendes n die Folge an := (-1)n. Diese divergente Folge an läßt sich durch zwei konvergente Teilfolgen beschreiben: Greift man sich jeweils die geraden n heraus, ist der Grenzwert 1, bei den ungeraden ist er -1. Auch wenn nun die Welt aus reduzierbaren Folgen besteht, läßt sich Reichenbachs Methode anwenden und dieses Induktionsverfahren führt dann automatisch zu den Folgen mit Grenzwert. Außerdem stellt Reichenbach noch einmal dar, warum in seiner induktive Methode alle anderen möglichen Methoden für Zukunftsaussagen enthalten sind: Weil sich alle diese Methoden auf eine Folge mit einem Grenzwert zurückführen lassen müssen, wenn wir sie denn überprüfen und einschätzen wollen. Der zweite Einwand richtet sich gegen die Infinitesimalität in Reichenbachs induktiver Methode: Da das menschliche Leben endlich ist, kann man auch nur endliche Folgen wirklich beobachten; es -6- gibt also Folgen, deren tatsächliche Konvergenz wir nicht bemerken, da diese zu spät beginnt oder zu langsam voranschreitet. Aber Reichenbach hat seine induktive Methode als notwendige Bedingung für erfolgreiche Zukunftsvoraussagen formuliert: „Wenn wir des Erfolgs nicht sicher sind, sollten wir wenigstens seine notwendigen Bedingungen erfüllen“ [226] Außerdem behauptet Reichenbach, bei der Rechtfertigung der Induktion nicht vorausgesetzt zu haben, daß es Folgen mit einem Grenzwert gibt. Die von uns nicht bemerkte Konvergenz wäre dann für uns also ein Fall von Nicht-Konvergenz. Da dieser Fall aber bei der Rechtfertigung der Induktion nicht ausgeschlossen wurde, kann auch dieser zweite Einwand kein Problem darstellen. 2.4. Zusammenfassung der Argumentation Reichenbachs Reichenbach gibt die Stringenz der Kritik Humes am Induktionsschluß zu, verwirft aber dessen Lösung, den Induktionsschluß einfach als eine sinnvolle Gewohnheit gelten zu lassen. Er will wissen, wie gut diese Gewohnheit ist. Wenn man nicht-induktiv zeigen könnte, daß es sogar die beste Gewohnheit ist, falls man Voraussagen über die Zukunft machen will, wären alle Anforderungen, die man an eine Rechtfertigung des Induktionsprinzips stellen kann, erfüllt. Um diesen Beweis anzutreten formuliert Reichenbach zunächst das Induktionsprinzip in einer allgemeineren Form: Bei der Betrachtung einer Ereignisfolge, bei der ein bestimmtes Ereignis im n-ten Folgenglied die relative Häufigkeit hn hat, behauptet das Induktionsprinzip, daß für jede beliebige Verlängerung der Folge auf s Ereignisse (s > n) die relative Häufigkeit in einem kleinen Intervall um hn verbleiben wird. Mit anderen Worten: Wenn wir beispielsweise eine Reihe von Beobachtungen machen, bei der dasselbe Ereignis immer wieder auftritt, können wir mit Recht vermuten, daß es wahrscheinlich auch in Zukunft auftreten wird. Weiter formuliert Reichenbach das Ziel der Induktion allgemein als die Aufgabe, Ereignisfolgen zu finden, bei denen die Häufigkeit eines bestimmten Ereignisses einem Grenzwert zustrebt. Unter der Voraussetzung, daß die Welt voraussagbar - also genügend geordnet - ist, kommt Reichenbach zum Schluß, daß es, wenn ein Grenzwert existiert, ein Element der Folge gibt, von dem aus das Induktionsprinzip zu diesem Grenzwert führt. Will man also diesen Grenzwert ermitteln, muß man die Induktion anwenden - denn alle anderen Methoden, den Grenzwert zu ermitteln sind nach Reichenbach entweder nur Varianten des Induktionsprinzips, oder aber so unsicher, daß wir deren Ergebnisse erst ernst nehmen können, wenn wir sie mit Hilfe des Induktionsprinzips kontrolliert haben. Da nun das Induktionsprinzip durch fortschreitende Annäherung an den Grenzwert auch noch stets unseren besten Schätzwert liefert, führt kein Weg an ihm vorbei, will man überhaupt Aussagen über die Zukunft machen. Selbst wenn man nicht weiß, ob überhaupt ein Grenzwert existiert, stellt die Anwendbarkeit des Induktionsprinzips eine notwendige Bedingung für die Existenz -7- eines Grenzwertes dar. Kurz: das Induktionsprinzip ist die notwendige Bedingung für Aussagen über die Zukunft. 3. Kritik Ich denke, daß es Reichenbach höchstens gelungen ist, eine recht exakte pragmatische Rechtfertigung der Humeschen Gewohnheit zu liefern - am Fundament der epistemologischen Kritik Humes aber rüttelt seine Rechtfertigung der Induktion nicht. Da ist zunächst die Voraussetzung, daß die Welt voraussagbar ist; wenn Hume vorausgesetzt hätte, daß die Welt gleichförmig ist, wären seine Zweifel an der Induktion schnell verflogen; aber genau das war ja das Problem bei Hume: „Wir sagten, daß […] alle unsere Erfahrungsschlüsse von der Voraussetzung ausgehen, daß die Zukunft mit der Vergangenheit gleichförmig sein werde. Wer den Beweis dieser letzteres Voraussetzung durch wahrscheinliche Gründe, d. h. durch Gründe, welche das Dasein betreffen, zu führen versucht, muß sich ersichtlich im Kreise drehen […].“4 Man könnte dem entgegenhalten, daß die Voraussetzung, daß die Welt voraussagbar ist, oder auch, daß sie wahrscheinlich gleichförmig ist, eine wesentlich schwächere Forderung ist, als das für Hume notwendige Postulat ihrer Gleichförmigkeit. Das ändert aber nichts daran, daß wir diese Voraussetzung weder durch Erfahrung - denn sonst befinden wir uns wieder in Humes Zirkel -, noch unabhängig von der Erfahrung wissen können, denn ihre Negation ist nicht widersprüchlich. Damit aber bleibt diese Säule der Humeschen Kritik bestehen. Des weiteren sagt Reichenbach, daß das Induktionsprinzip bereits gerechtfertigt wäre, wenn es uns die beste Annahme über die Zukunft liefere. Das halte ich für falsch. Denn dieser Nachweis würde lediglich zeigen, daß es in jedem Fall sinnvoll ist, das Induktionsprinzip anzuwenden; aber das hat Hume auch gar nicht bestritten. Er nannte diese Anwendung eben - zugegebenermaßen recht schwammig - eine Gewohnheit; dennoch war Hume die Tragweite und Wichtigkeit dieser Gewohnheit durchaus bewußt5. Aber selbst wenn bewiesen werden kann, daß man ohne das Induktionsprinzip keinerlei sinnvolle Aussage über die Zukunft zu machen in der Lage ist, hat man den Induktionsschluß nicht epistemologisch gerechtfertigt. Natürlich zeigt ein solcher Beweis, daß es vernünftig ist, induktiv zu schließen, aber eben nicht, daß es richtig ist. Es wäre aber Letzteres zu zeigen, wenn man die Geltung des Induktionsschlusses logisch beweisen will. Schließlich halte ich Reichenbachs Begriff der Setzung und was mit diesem verbunden ist, für problematisch, vor allem das Gewicht, diesen „Schätzwert einer relativen Häufigkeit“,6 diese subjektive Wahrscheinlichkeit. In einem abgeschlossenen Ereignisraum ist es oft recht leicht, alle möglichen 4 Zitiert nach dem Reader zum Seminar aus D. Hume, Skeptische Zweifel in betreff der Verstandestätigkeiten, S.46. 5 Vgl. dazu a. a. O., S.57/58 6 Andreas Kamlah, H Reichenbach: Prinzipien, Konventionen, Wahrscheinlichkeit, in: Grundprobleme der großen Philosophen / Philosophie der Neuzeit, hrsg. von Josef Speck, Göttingen 1992, S. 103/104 -8- Ausgänge der Ereignisse zu beschreiben und ihnen eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen. Wenn wir aber diesen abgeschlossenen Raum verlassen, wird es kompliziert: „Wir haben eine Menge von Aussagen zu identifizieren, die sozusagen die ›möglichen Ergebnisse‹ der Untersuchung der Welt beschreibt, und ihnen Wahrscheinlichkeiten zuzuschreiben. Und dabei ist zu beachten, daß diese AnfangsZuordnung sich auf keinerlei Erfahrung der Welt gründet.“7 Es könnte also gleichberechtigte jedoch verschiedene Setzungen geben, da man kaum in der Lage ist, die zugehörigen Gewichte zu bestimmen. In einem solchen Fall ist eine Setzung wirklich eine „blinde Setzung“. Jede andere wäre genauso möglich und es gibt keinen Grund, die eine der anderen vorzuziehen. Reichenbach illustriert seine Rechtfertigung der Induktion mit dem Bild des Fischers, der in einem unbekannten Teil des Meeres fischen will und sich nun also fragt, ob er denn das Netz auswerfen solle. Es ist sicherlich ein vernünftiger Ratschlag, ihm zu sagen, daß er, wenn anders er Fische fangen will, sein Netz auf jeden Fall auswerfen müsse - denn dies ist die notwendige Bedingung für den Fang von Fischen -, aber wir können ihm auf keinem Fall garantieren, daß er Fische fangen wird. Und sollte der Fischer uns befragen, bevor er in See sticht, sollten wir bei unserer Antwort das Risiko, das er eingeht, nicht vergessen: Er könnte sonst ertrinken. 7 Alan Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, übersetzt von Hans und Gretl Albert, Tübingen 1993, S. 169 -9-
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