Fragment einer Geschichte der Zukunft Gabriel Tarde (1843–1904) zählt zu den Gründer vätern der französischen Soziologie. Nach seiner Tätig keit als Richter und Leiter der kriminalistischen Abtei lung des Justizministeriums in Sarlat war er Professor für neuzeitliche Philosophie am Collège de France, wo er seine soziologische Theorie weiterentwickelte und lehrte. Gabriel Tarde Fragment einer Geschichte der Zukunft Aus dem Französischen von Horst Brühmann Konstanz University Press Übersetzt nach der ersten Buchausgabe: Gabriel Tarde, Fragment d’histoire future, Lyon: A. Storck, 1904 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Konstanz University Press, Konstanz (Konstanz University Press ist ein Imprint der Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) www.fink.de | www.k-up.de Einbandgestaltung: Eddy Decembrino, Konstanz Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-86253-060-1 Inhalt Die Blüte 9 Die Katastrophe 25 Der Kampf 33 Die Rettung 53 Die Erholung 63 Die Liebe 83 Das ästhetische Leben 93 Nachwort Eine soziologische Spekulation 113 (Eva Horn und Urs Stäheli) Es war gegen Ende des 25. Jahrhunderts des prähi storischen, damals christlich genannten Zeitalters, als bekanntlich jene unerwartete Katastrophe eintrat, mit der die neue Epoche begann, jenes glückliche Verhäng nis, das den überbordenden Strom der Zivilisation zum Wohle des Menschen verebben ließ. Ich habe kurz von diesem Untergang und der unverhofften Rettung zu berichten, die binnen weniger Jahrhunderte durch hel denhafte und siegreiche Anstrengungen gelang. Natür lich werde ich die Einzelheiten übergehen, die jedem bekannt sind, und mich auf die großen Linien dieser Geschichte beschränken. Doch zuvor mag es angebracht sein, mit ein paar Worten daran zu erinnern, bis zu welchem Grade die Menschheit in ihrer oberirdischen, oberflächlichen Periode am Vorabend jenes schwerwie genden Ereignisses fortgeschritten war. Die Blüte Es schien, als hätte die Entwicklung der Menschheit zu Wohlstand und Glück – in der flachen und oberflächli chen Bedeutung des Wortes – ihre höchste Blüte erreicht. Seit fünfzig Jahren hatte sich die große asiatisch-amerika nisch-europäische Föderation konsolidiert, und was hier und da, in Ozeanien und Zentralafrika, noch an unas similierbarer Barbarei geblieben war, stand unter ihrer unangefochtenen Vorherrschaft. Alle Nationen hatten sich in Provinzen verwandelt und an den Genuß eines allgemeinen und fortan beständigen Friedens gewöhnt. Freilich bedurfte es nicht weniger als einhundertfünf zig Jahre Krieg, um zu diesem glücklichen Ausgang zu gelangen. Doch all die Schrecken waren vergessen, all die grauenhaften Schlachten zwischen Armeen mit drei oder vier Millionen Soldaten, gepanzerten Zügen, die unter Volldampf aufeinander zu rasten und in alle Richtungen feuerten, U-Boot-Geschwadern, die einander mit elektri schen Stromstößen vernichteten, Flotten gepanzerter Bal lons, die, von Lufttorpedos harpuniert und aufgeschlitzt, aus den Wolken fielen, während ihre Mannschaften zu Tausenden an ihren aufspringenden Fallschirmen hingen und einander noch während des gemeinsamen Sturzes Fragment einer Geschichte der Zukunft beschossen – von all diesem kriegerischen Aberwitz blieb nur noch eine poetische und verworrene Erinnerung. Das Vergessen ist der Beginn des Glücks, so wie Furcht der Beginn der Weisheit ist. Einem einmaligen Umstand ist es zu verdanken, daß die Völker nach diesem gigantischen Aderlaß nicht in lähmende Erschöpfung verfielen, sondern ihre wieder gewonnene Kraft in Ruhe genossen. Die Erklärung ist einfach. Seit etwa hundert Jahren wählten die Muste rungskommissionen – entgegen der blinden Routine der Vergangenheit – sorgfältig die gesündesten und leistungsfähigsten jungen Leute aus, um sie von einem völlig mechanisierten Militärdienst freizustellen, und schickten alle Unfähigen und Schwächlinge zur Armee, die den anspruchslosen Aufgaben des Soldaten und sogar des Unteroffiziers durchaus genügten. Es war dies eine kluge Selektion, und der Historiker kann nicht umhin, dankbar diese Neuerung zu rühmen, der sich letztlich die unvergleichliche Schönheit des heutigen Menschen geschlechts verdankt. In der Tat, betrachtet man heute in den Vitrinen unserer Museen für Alte Geschichte jene einzigartigen Sammlungen von Karikaturen, die unsere Vorfahren als photographische Alben bezeichneten, kann man das ungeheure Ausmaß des dadurch erzielten Fort schritts ermessen, wenn es denn wirklich zutrifft, daß wir von diesen Vogelscheuchen und Zwergen abstammen, wie eine sonst achtbare Tradition behauptet. 10 Die Blüte Aus dieser Epoche datiert die Entdeckung der letzten Mikroben, die von der neo-pasteurschen Schule noch nicht analysiert worden waren. Da die Ursachen aller Krankheiten bekannt waren, ließen die Heilmittel nicht lange auf sich warten, und von diesem Moment an wur de ein Schwindsüchtiger, ein Rheumatiker, überhaupt ein Kranker zu einem ebenso seltenen Phänomen, wie es einst eine Mißgeburt mit zwei Köpfen oder ein ehrlicher Weinhändler gewesen war; und seit dieser Zeit hat sich der lächerliche Brauch von Fragen nach der Gesundheit verloren, mit denen die Unterhaltungen unserer Vor fahren belastet waren: »Wie geht es Ihnen? Wie ist das werte Befinden?« Einzig die Kurzsichtigkeit setzte ihren bedauerlichen Siegeszug fort, verursacht durch die außer ordentliche Verbreitung der Zeitungen; nicht eine Frau, nicht ein Kind, die nicht vom Kneifer Gebrauch mach ten. Diese übrigens nur zeitweilige Beeinträchtigung wurde weitgehend durch die Fortschritte ausgeglichen, zu denen sie die Kunst der Optiker anregte. Mit der politischen Einheit, welche die Feindseligkei ten zwischen den Völkern beseitigte, gewann man die sprachliche Einheit, die rasch ihre letzten Verschieden heiten schwinden ließ. Schon ab dem 20. Jahrhundert war das Bedürfnis nach einer einzigen und gemeinsamen Sprache, vergleichbar dem Latein des Mittelalters, unter den Gelehrten der ganzen Welt so stark geworden, daß sie beschlossen, in all ihren Schriften ein einheitliches Idiom 11 Fragment einer Geschichte der Zukunft zu verwenden. Nach einem langen Wettstreit zwischen dem Englischen und dem Spanischen war es das Griechi sche, das sich nach dem Debakel des britischen Empire und nach der Rückeroberung Konstantinopels durch das hellenisch-russische Reich endgültig durchsetzte. Nach und nach oder vielmehr mit der Geschwindigkeit, die alle modernen Fortschritte kennzeichnet, sank sein Gebrauch stufenweise bis zu den einfachsten Gesellschaftsschichten hinab, und ab Mitte des 22. Jahrhunderts gab es zwischen der Loire und dem Amur kein kleines Kind mehr, das es nicht verstanden hätte, sich in der Sprache des Demosthe nes gewandt auszudrücken. Obgleich die Lehrer es den Schulkindern untersagten, hielten hier und da noch eini ge abgelegene Gebirgsdörfer hartnäckig daran fest, auf den alten Mundarten herumzukauen, die man früher das Französische, Deutsche oder Italienische nannte, doch in den großen Städten hätte dieses Kauderwelsch Heiterkeit ausgelöst. Alle zeitgenössischen Dokumente belegen überein stimmend die Geschwindigkeit sowie den tiefgreifen den und umfassenden Charakter des Wandels, der sich infolge dieser sprachlichen Vereinheitlichung vollzog: in den Sitten, in den Ideen, in den Bedürfnissen, ja in sämtlichen Formen des sozialen Lebens, die sich auf einem mittleren Niveau ausglichen. Es schien, als wäre die Zivilisation in ihrem Lauf bis dahin eingedämmt gewesen und als dehnte sie sich nun, nach dem Wegfall 12 Die Blüte aller Hemmnisse, mit Leichtigkeit über den Globus aus. Es waren nicht mehr Millionen, es waren Milliarden, die die geringste Verbesserung in der Industrie ihrem Erfinder einbrachte; denn nichts hielt mehr die Ver breitung irgendeiner irgendwo geborenen Idee auf. Aus dem gleichen Grund wurden die Auflagen eines Buches nicht mehr nach Hunderten, sondern nach Tausenden gezählt, mochte es den Geschmack des Publikums noch so wenig treffen, mochten die Vorstellungen eines Stücks noch so wenig Beifall finden. Die Rivalität der Autoren untereinander hatte deshalb einen schrillen Ton ange nommen. Ihre Verve konnte sich freie Bahn schaffen, denn die erste Folge dieser Flut eines universalisierten Neuhellenismus hatte darin bestanden, daß die vorgebli chen Literaturen unserer grobschlächtigen Vorfahren für immer untergingen. Sie wurden unverständlich bis hin zum Titel ihrer sogenannten klassischen Hauptwerke, bis hin zu jenen barbarischen, heute vergessenen Namen Shakespeare, Goethe, Hugo, deren holprige Verse unsere Gelehrten mit so viel Mühe entziffern. Diese Leute, die nun fast niemand mehr lesen konnte, zu plündern hieß, ihnen einen Gefallen zu tun, ihnen fast zuviel Ehre zu erweisen. Man versagte ihnen diesen Dienst nicht, und der Erfolg der dreisten Pastiches, die für Neuschöpfun gen ausgegeben wurden, war märchenhaft. Der Stoff, der sich derart nutzen ließ, war in Fülle vorhanden, unerschöpflich. 13 Fragment einer Geschichte der Zukunft Zum Unglück der jungen Schriftsteller waren seit vie len Jahrhunderten tote antike Dichter, Homer, Sopho kles, Euripides, zu neuem Leben erwacht, hundertmal mehr vor Gesundheit strotzend als zur Zeit des Perik les selbst; und diese unerwartete Konkurrenz brachte die Neuankömmlinge in arge Verlegenheit. Vergeblich brachten Originalgenies sensationelle Neuheiten auf die Bühne – Athalias, Hernanias, Macbethes –, doch das Publikum schätzte sie häufig gering und ging lieber in Vorstellungen von Oedipus Rex oder Die Vögel. Und Nanaïs, die immerhin kraftvolle Schilderung eines inno vativen Romanciers, scheiterte völlig, gemessen am stür mischen Erfolg einer Volksausgabe der Odyssee. Den mit klassischen, romantischen oder sonstigen Alexandrinern übersättigten Ohren, zermürbt von den kindischen Spie lereien mit Zäsur und Reim – dem Wechsel zwischen Verknappung und Fülle, Verbergen und Wiederfin den –, sollten der schöne, freie und ergiebige Hexame ter Homers, die sapphische Strophe, der sophokleische Jambus für unaussprechliche Genüsse sorgen, sehr zum Nachteil der Musik eines gewissen Wagner. Überhaupt fiel die Musik in der Hierarchie der schönen Künste auf den zweiten Rang zurück. Dafür bot diese philologische Erneuerung des menschlichen Geistes der Dichtung Gelegenheit zu einer unverhofften literarischen Blüte; auf diese Weise konnte sie ihren legitimen, das heißt den ersten Rang wieder einnehmen. In der Tat wird die Poe 14
© Copyright 2024 ExpyDoc