Vorworte - Nitsch - Das Gesamtkunstwerk

Michael Karrer
Über das Buch
Hermann Nitsch (geb. 1938 in Wien/AT) ist Mitbegründer des Wiener Aktionismus und zählt
zu den wichtigsten Aktionskünstlern der Gegenwart. Sein Opus magnum, das Orgien Mysterien
Theater, ist eine neue Form des Gesamtkunstwerkes. Die Idee dazu entstand im Jahr 1957 und
führte bis dato zur Realisierung von 144 Aktionen, 70 Malaktionen und unzähligen Werken
in verschiedenen Kunstdisziplinen. Mit seinem Œuvre zählt der Künstler zu den internationalen
Pionieren der Performing-Art-Bewegung.
Die vorliegende Monografie ist das erste Nachschlagewerk zu allen Bereichen des Gesamtkunstwerks von Hermann Nitsch und enthält neben wesentlichen Textbeiträgen chronologische
Dokumentationen der Aktionen, Malaktionen, Schüttbilder, Konzerte und Inszenierungen. Neben
der Funktion einer substanziellen Werkdokumentation, gewissermaßen einer Bewahrungs- und
Vermittlungsfunktion, war es mir ein großes Anliegen, dass dieses Buch die redaktionelle und
grafische Handschrift des Künstlers mitträgt. Der Künstler Hermann Nitsch soll sein Nachschla­
gewerk mitgestalten und prägen, welches dadurch authentisch, unverfälscht und gänzlich im
Sinne des Künstlers sein Gesamtkunstwerk für die Nachwelt festhält. Nicht nur eine Monografie
über Hermann Nitsch, sondern eine Monografie über und von Hermann Nitsch stand im Zentrum dieses außergewöhnlichen Buchprojektes. Ein Opus magnum über das Opus magnum.
Das Orgien Mysterien Theater steht paradigmatisch für die persönliche Grundhaltung
von Hermann Nitsch. Ohne diese persönliche Grundhaltung und ohne eine über Jahre hinweg
entwickelte synästhetische Denkschule wäre die Entwicklung eines solch opulenten und vielschich­tigen Werkes unmöglich. Werk und Person, Leben und Kunst sind bei Hermann Nitsch seit jeher
untrennbar, sie existieren nicht nebeneinander. Sie sind eines, es ist eines, immerzu. Immer in
Bewegung, konsequent, ganzheitlich, detailverliebt, organisiert, opulent, kosmologisch, einzigartig. Es, das Werk, ist selbstverständlich und weise zugleich.
Im Zentrum des Gesamtkunstwerkes von Hermann Nitsch und dessen philosophischtheoretischer Grundlage steht das Seinsbewusstsein. Es geht um die Gegenwärtigkeit, das unmittelbare und sinnliche Erleben von realen Geschehnissen im Zuge der Aktionen. Es geht um das
Erreichen eines seinstrunkenen Zustandes, der das „fleisch der wirklichkeit“ (Hermann Nitsch)
mit Hilfe aller menschlichen Sinnesorgane bewusst und unmittelbar erfahrbar macht. Mit diesem
Konzept und den für viele als radikal empfundenen Aktionen revolutionierte Hermann Nitsch
den Theaterbegriff des 20. Jahrhunderts.
Seit jeher haben führende Philosophen und spirituelle Meister aller Kulturen auf die bewusste
Gegenwärtigkeit als Schlüssel zu einer spirituellen Dimension hingewiesen. In dieser Gegenwärtigkeit, im Jetzt, in jener so kostbaren Abwesenheit von Zeit, wird der gegenwärtige Moment
intensiv und der Mensch hellwach. Dieser Bewusstseinszustand ist ein Augenblick voller Lebendig­
keit und Leidenschaft, frei von Problemen des Alltages, losgelöst vom Konstrukt des Ver­standes.
Hermann Nitsch schafft mit seinem Orgien Mysterien Theater Momente und Er­fahrungen, die
mit dem Verstand nicht erfasst werden können. Im Zuge der Aktionen wechselt das Bewusstsein
vom Verstand zum Sein, von der Zeit zum Augenblick, es wird lebendig und spürt die Kraft der
Wirklichkeit und des Seins. Sein Werk, insbesondere seine Aktionen erreichen ein Gegenwartsbewusstsein befreit von Gedanken. Das Orgien Mysterien Theater führt vom Denken ins reine
Bewusstsein. Dies macht das Œuvre von Hermann Nitsch so unverwechselbar, so kostbar, stets
gegenwärtig und aktuell. Es ist Spiegelbild für unser Selbstbild und zeigt letztendlich nichts,
was nicht ist.
Insbesondere danke ich Rita Nitsch, Julia Kuon, Clemens Kopetzky, Andreas Soller
und den vielen Personen und Institutionen, die dieses Buchprojekt unterstützt, gestaltet und
ermöglicht haben.
Unendlicher Dank gilt dem Freund, dem Künstler und dem Menschen Hermann Nitsch,
für alles, immerzu!
Hermann Nitsch
danksagung
ein werk wie meines kann man nicht allein verwirklichen. man braucht dazu mitarbeiter aus allen
bereichen des lebens. daher erlaube ich mir an dieser stelle eine sicher unzulängliche danksagung.
wir müssen übersichtlich ordnen zwischen der danksagung für alle, die das werk insgesamt unterstützt haben, und jenen, die dieses buch möglich gemacht haben. wobei sich das aber nicht unbedingt trennen lässt. alle haben sie dieses buch möglich gemacht, und letztlich gilt dies auch für den
umstand, dass wir sind.
ich darf mich vorerst bedanken bei den wichtigen frauen, die mein leben geteilt haben,
besonders bei meiner mutter, bei rita nitsch, die seit jahrzehnten unersetzliche dokumentationsund archivarbeit leistet, und bei beate könig, der ich das schloss prinzendorf, die stätte meines
orgien mysterien theaters, verdanke. meinen lehrern, allen voran dem bildhauer karl nieschlag
gilt mein dank, und meinen kollegen, die mir vorbild waren! zeitweise waren die freundschaft mit
und die anregungen von günter brus unüberbietbar. peter kubelka war und ist in vieler hinsicht
lehrer und väterlicher freund. er hat mich in die abgründe der kunstwelt eingeführt. mein freund
jonas mekkas hat mir das sprungbrett in die internationalität gebaut. auch meinen galeristen
und wichtigen museumsleitern ist zu danken! kurt kalb, ursula krinzinger und heike curtze haben
mich auf internationalen messen präsentiert. fred jahn hat mir schon früh unter die arme gegriffen, er hat unter anderem eine monumentale grafikedition verlegt. harald szeemann, rudi fuchs
und johannes gachnang haben mich auf die documenta gebracht. lóránd hegyi hat viele internationale museumsausstellungen organisiert. ich bedanke mich auch bei allen nitsch-sammlern, sie
haben dadurch mein orgien mysterien theater gefördert. karlheinz essl, graf duerckheim, giuseppe
morra, erika hoffmann und rainer neumann haben museale sammlungen aufgebaut. francesco
conz hat mein werk in italien eingeführt, er war mein erster italienischer sammler und verehrer
meiner arbeit und hat den asolo raum beauftragt. die familie gadenstätter hat nach dem tod
meiner frau beate könig mein werk sehr unterstützt, viele ausstellungen gemacht und die spiele
in prinzendorf mitorganisiert. der komponist clemens gadenstätter hat mit zwei subdirigenten
das 6-tage-spiel des orgien mysterien theaters in prinzendorf an der zaya dirigiert. der verleger
gerhard jaschke hat viele bücher von mir herausgebracht. wolfgang tunner war als wissenschaftler ein liebenswerter, gleichgesinnter, philosophisch gebildeter freund. gary todd hat die musik
des 6-tage-spiels dokumentiert und herausgebracht. den videokünstlern peter kasperak und
rolf leitenbor verdanke ich unzählige filmdokumente meiner aktionen. mein dank gebührt auch
wieland schmied, er hat mich an die salzburger sommerakademie berufen, um in der nachfolge
von kokoschka und emilio vedova aktionsmalerei zu unterrichten, darüber hinaus hat er wunder­
bare, meine arbeit verstehende texte geschrieben. danielle spera hat meine schöne und erfolg­
reiche biographie „leben und werk“ herausgebracht.
ich bedanke mich auch bei meinen mitarbeitern, allen voran bei meinem sohn leo kopp und
giuseppe zevola und den akteuren, besonders dem passiven starakteur und fotografen heinz
cibulka, sowie hanel köck, vroni schwegler, inesa und barrington de la roche. zu dank verpflichtet bin ich auch meinen assistenten, darunter der unersetzbare wolfgang wunderlich, und
allen musikern und meinem dirigenten andrea cusumano. otmar rychlik hat die malaktion in
der secession möglich gemacht und mein theater immer unterstützt.
wolfgang denk hat viele grosse ausstellungen von mir veranstaltet und das grosse mis­
telbach museum zusammen mit bürgermeister christian resch unter der patronanz von landes­
hauptmann erwin pröll aufgebaut. überhaupt hat letzterer ein klima geschaffen, welches einem
avantgarde-künstler das leben lebenswert macht. der galerist und verleger peppe morra begleitet mich und mein werk seit 1972, er eröffnete 2008 sein nitsch museum in neapel. er besitzt eine
authentische sammlung von relikten, beginnend mit der ersten gemeinsamen aktion 1974 bis
heute. er hat meine arbeit grosszügig gefördert, viele meiner bücher verlegt und wichtige aktionen und ausstellungen veranstaltet.
die nitsch foundation mit dem gründer michael karrer und seinem partner rudolf
kratochwill bemüht sich mit grösstem erfolg um meine arbeit durch didaktische veranstaltungen, wichtige ausstellungen, vorträge und konzerte allerorts.
besonderer dank gilt michael karrer, der 2012 die direktion des mistelbacher museums
übernahm und nun diese rund 1000-seitige monografie beim verlag walther könig herausbringt. mein dank gilt selbstverständlich auch ganz besonders allen, die an diesem buch mit­
gearbeitet haben!
Rudi Fuchs
Nitsch Gesänge
So überreich ist das große Buch (ein wahres Kompendium von allem, was Nitsch jemals in all
diesen Jahren mit so viel Glauben und Hingabe in Angriff genommen hat), dass ich mich frage,
was Worte dieser mitreißenden Flut ritueller Formgebung und dampfender Farben eigentlich
noch hinzufügen sollten. Und dann ist da auch noch die Musik, die mit ihren mächtigen, donnernden Wogen dieses schäumende Werk begleitet und dramatisch in Bewegung setzt. In dem architektonischen Übermaß einer barocken Kirche können wir schon allein durch das Betrachten
der schweren und zugleich schwungvollen Formen auch die Musik hören. So ergreifend fließen
in den Werken von Nitsch Klänge und Farben zusammen – einander umarmend, Motive, die
sich verflechten. In diesem Buch sehen wir das Werk als einen Raum sinnlicher Erfahrung, so
ausgedehnt und auch voller Echos wie eine Kathedrale.
Als ich es Ende der siebziger Jahre zum ersten Mal sah (in Spuren und Fragmenten), erschien es mir als ein eigenartiges, mitreißendes und geheimnisvolles Unterfangen. Schon der
Name sagte es: Orgien Mysterien Theater – das war in seinen biegsamen, süßen Klängen schon
ein ganz anderes Wort als das strenge Minimal Art. Im Kontext dieses Gegensatzes (der auch
bestimmte künstlerische Verhältnisse von damals widerspiegelte) war es zunächst unvermeidlich,
dass Kunst wie die von Nitsch aus der fernen Mitte Europas als geheimnisvoll und unergründlich
angesehen wurde. Wie anders konnte man solche nur schwer greifbaren Verflechtungen überhaupt beurteilen. Außerordentlich klar war dagegen rechteckige Abstraktion wie Minimal Art,
die als messbar und übersichtlich galt. Es kann also sein, dass die überbordende Kunst von Nitsch
(und mit diesem Überborden meine ich: alles durcheinander und gleichzeitig) schwer zu begreifen war – diese übervollen Aktionen, es hörte einfach nicht auf. Und dennoch, irgendwann, mit
Sicherheit nachdem ich mehr gesehen und mehr Zeit bei den Schüttbildern verbracht hatte, erkannte ich nach und nach, dass eine solche Malerei nicht änigmatischer ist als beispielsweise
ein streng lineares Werk von Donald Judd. Ich vermute, dass Nitsch und Judd in der heutigen
Kunstauffassung als unvergleichbar gegensätzlich angesehen werden. Judd gilt hier als klar und
übersichtlich. An der Formgebung seiner Werke kann man ablesen, wie durch ein wenig Herum­
probieren ihre expressive Rechteckigkeit zusammengesetzt wird. Diese Lesbarkeit vermittelt
einen Eindruck von Begreifbarkeit. Nun sehen wir uns auch ein Schüttbild von Nitsch an. Es wurde
produziert, indem flüssige Farbe auf ein Stück Leinwand geworfen wurde, in der Regel irgendwo
oben.
Das Tuch hängt an der Wand. Zuerst klatscht die nasse Farbe darauf, mit Spritzern nach allen
Seiten; danach läuft und tropft die übrige Nässe nach unten. Anfangs verwendete Nitsch vor allem
rote Farbe. Das Farbwerfen wurde so lange fortgesetzt, bis das Auge des Künstlers urteilte, dass
die Bilddichte ausreichte. Aber manchmal musste - mit Händen und großen Pinseln - noch weiteres
nasses Farbschmierzeug hinzugefügt werden, bevor die Arbeit fertig war. Das Produzieren eines
Schüttbildes war ein energiegeladener, erregter Malprozess. Das Bild, das daraus entstand, sah
impulsiv und chaotisch aus. Verglichen mit der umsichtigen Konstruktion von Judds Werk scheint
die Malerei von Nitsch voller zufälliger Effekte und Expressivität. Diese Art Durcheinander bezeichnen wir als rätselhaft – aber wenn wir die Bewegungen in einem Schüttbild mit geduldiger
Genauigkeit ansehen, erkennen wir dessen Verlauf. Ein solches Bild ist dann (wie alle Kunst) voller
Wunderlichkeiten, doch gleichzeitig glasklar. Natürlich sind Verwobenheiten von Rot und Rotbraun in ihrer bebenden Oberfläche unergründlich – aber sind denn die Schatten im Inneren einer
Konstruktion Judds nicht ebenfalls geheimnisvoll? Kunstwerke werden immer Schritt für Schritt
gemacht. Möglicherweise sind die Eingriffe und Gebärden bei dem Einen, wie etwa bei Judd,
sparsamer als bei einem Künstler wie Nitsch, der geradezu maßlos ist in seinem Tun, weil er in
seinem großen Gesamtkunstwerk alles gleichzeitig in Szene setzen will. Aber vergessen wir nicht:
Die großen Musikwerke von Mahler oder Bach, schwebend wie prächtige Wolken aus Klang, sind
letztlich detaillierte Arrangements weniger Noten. Und das Wunder ist, dass sie dann - und das
ist bei allen großen Kunstwerken so - eine unvergleichliche Klarheit schaffen. Die Bilderzählung
in diesem Buch ist deshalb so übersichtlich, weil das Werk von Hermann Nitsch (wie es sich in
einer Flut von Bildern offenbart) klar ist in seinem Ausdruck und seiner Formulierung. Doch auch
und vor allem in der reichen Regie von Klängen und Farben. Mit erstaunlicher Beständigkeit ist
es im Laufe der Jahre zu einem stolz sich wiegenden großen Baum geworden, einer unverkenn­
baren Architektur. Der Baum wuchs sich zu einer weiten, rauschenden Landschaft aus. Da schien
die Sonne über die reichen Äcker und duftenden Weinberge. Die Sonne war warm wie Blut. Von
weit her, oben vom Himmel erklang der Gesang der Musik. Alles wogte unaufhörlich. Gemälde
sind Fragmente eines Strömens von Farbe, das von ihnen aufgefangen wird. So wichtig ist Nitsch
die warme Energie der Schöpfung (die Farbenergie, wie Blut in den Adern klopfend), dass er sie
nie durch Figuratives hat stören oder dämpfen lassen. Deshalb hören wir auch in seiner Musik
keine melodischen Figuren, denn die würden ablenken von dem Strömen, unaufhörlich wie das
Meer.
Unaufhaltsam wie ein Gletscher aus glutvollem Klang ist diese Musik. In umfangreichen Zeich­
nungen wird die Architektur seines wogenden Theaters (auch die Mise-en-Scène des „Letzten
Abendmahls“) wie das biegsame Schlängeln von Därmen und Eingeweiden wiedergegeben, die
in dem großen Organismus auch die Ikonographie der Aktionen bestimmen. Därme schlängeln
sich, glibbern, Blut strömt, und alles ist immer wieder Flut und Wogen und Wärme und intensive
Strahlung. Alles gleitet durcheinander – aber die Klarheit dieses Pandämoniums ist für Nitsch
grenzenlos wie das wogende Sternensystem im unermesslichen Weltall. Bei solchen Erlebnissen
hat er die großen Mise-en-Scènes gefunden, die Farben und die Klänge. Man schaue nur in das
Buch!