FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG Geisteswissenschaften M I T T WO C H , 1 6 . D E Z E M B E R 2 0 1 5 · N R . 2 9 2 · S E I T E N 3 Ruhrgeschichten Wie ein gallisches Sprichwort sagt G steht, die Cäsar im Manuskript hinterlas- be, sans doute mal retranscrit, nous est ma . . .“, verbunden mit der Änderung der esprochene Worte fliegen daparvenu dans sa version approximative“). ersten Schlagzeile, die nun „Skandal. Cä- sen haben könnte. Aber Asterix meint mit von, Geschriebenes bleibt“, lau- Warum die deutsche Der lateinische Wortlaut wird dabei besar schreibt!“ lautet, was sachlich eindeu- den Souvenirs natürlich die Erinnerungen tet ein lateinisches Sprichwort, Übersetzung des neuen wusst unterschlagen. tig nicht der Vorlage entspricht. Es wäre je- an die im Papyrus dargestellten gallischen das die Überlegenheit der Dabei ist es genau umgekehrt: Das lateidenfalls kein Problem gewesen, die gesam- Siege. schriftlichen Tradition vor der münd- Asterix-Bandes „Der PaAuf Seite 18 wird vom Druiden ein an- nische Sprichwort ist Ursprung und Vorlate Seite 6 – vielleicht mit ein oder zwei lichen betonen soll. Die Gallier zur Zeit geblich „altes gallisches Sprichwort“ zi- ge des französischen und transportiert knapp erläuternden Anmerkungen – am des Asterix, so wissen wir, sahen das aller- pyrus des Caesar“ entden Sinn einer positiven Bewertung der tiert: „Les écrits s’envolent, les paroles Original entlang zu übersetzen. dings anders und bevorzugten ausschließ- täuscht: Der französirestent“ – das Geschriebene fliegt da- Schriftlichkeit: Das gesprochene Wort ist Das nächste Beispiel liefert Seite 13: lich die mündliche Weitergabe vom Mund flüchtig, vergeht schnell, ist unzuverlässig, Der nach dem Vorbild Julian Assanges ge- von, die gesprochenen Wörter bleiben zum Ohr des Druiden, zum Beispiel beim sche Comic fordert den nicht rückholbar, dagegen ist die schriftlida. Das ist exakt die Umkehrung der staltete Kolporteur Doublepolémix (auf Rezept des Zaubertranks. Vielleicht wäre Übersetzern sicher einisonst üblicherweise zitierten französi- che Fixierung dauerhaft und immer wieDeutsch nur Polemix) kommentiert die das gallische Verfahren der rein oralen der neu verfügbar. Dabei ist zuzugeben, schen Fassung („Les paroles s’envolent, entwendete Kopie des beschlagnahmten Tradition auch für die deutsche Version ges ab. Aber Sinn- und dass es bisher nicht gelungen ist, den Urles écrits restent!“) des zu Beginn dieses Kapitels mit den Worten: „Ce chapitre des neuen „Asterix“-Bandes vorteilhafter sprung dieses lateinischen Sprichworts sigenannten lateinischen vous concerne, regardez l’index!“ – das Ka- Artikels gewesen. Pointenverluste ganzer cher bis auf römische Anfänge zurückzuSpruchs. Dahinter steckt natürlich eine pitel betrifft euch, schaut im Index nach! Gewiss: Comics und insbesondere „AsDieser Index wird auch gleich danach ab- raffinierte Umwertung der ursprüngli- verfolgen. Man hat (ohne Erfolg) eine Anterix“ zu übersetzen ist anerkannterma- Passagen gehen eindeugebildet. Der illiterate Obelix kennt des- chen Sprichwortaussage in lokalpatrioti- bindung an Horaz versucht oder – das ist ßen ein hartes Brot, und diese Aufgabe ist tig zu weit. aber ziemlich sicher eine Wikipedia-Ente sen Bedeutung nicht, realisiert nur die ge- scher Absicht: Behauptet werden soll die bei den beiden jüngsten Bänden, die von wöhnliche medizinische Bedeutung „Zei- Überlegenheit der mündlichen Traditi- – an einen nicht nachweisbaren Redner Jean-Yves Ferri und Didier Conrad erstellt der Römischen Republik nawurden („Asterix bei den Pikmens Gaius Titus (wenn ten“, 2013, „Der Papyrus des überhaupt, dann käme dafür Cäsar“, 2015), keineswegs sicher nur der Redner Gaius leichter, eher anspruchsvolTitius in Frage, den Cicero ler geworden. Die Fülle der bezeugt). Jedenfalls scheint Wort- und Klangspiele, die ein juristischer oder politimeist umgangssprachlichen scher Kontext für die Sinneridiomatischen Wendungen mittlung des Sprichworts und die zahlreichen inhaltliden größten Erfolg zu verchen Anspielungen – meist sprechen: Mündliche Abspraauf die aktuelle französische chen sind unsicher, dem VerWelt – machen den Text gegessen und Ableugnen anlegentlich unübersetzbar heimgestellt, dagegen sind und stellen jedenfalls Überschriftlich fixierte Verträge setzer vor das Problem, den und Protokolle dauerhaft richtigen Kurs zwischen und immer wieder nachprüfWerktreue und kaum verbar. meidbaren eigenen NeuanJedenfalls glaube ich sätzen zu wagen. nicht, dass die deutsche ÜberMan muss leider sagen, setzung – „Wie sagt das [es dass es, wie schon bei den fehlt das vieux] gallische „Pikten“, auch in „Der PapySprichwort: „Blätter verwerus des Cäsar“ nicht gelunhen, Gelerntes bleibt bestegen ist, diesen Kurs zu halhen!“ und die Anmerkung ten. Vielmehr ist es zu Un„Später wurde dieses Sprichgenauigkeiten, Missverständwort leicht verfälscht zu Panissen und nachteiligen Abpier gebracht und überlieweichungen vom Original gefert“ – die „Asterix“-Leser in kommen. den Stand setzt, die eben skizReiche Beute findet man zierten Zusammenhänge im gleich auf Seite 6 der franzöOriginal nachzuvollziehen. sischen Ausgabe des Comics: Es sei nochmals zugegeCäsar stimmt der Streichung ben, dass der Szenarist Ferri des Kapitels seiner Niederseine Übersetzer außerlagen gegen das gallische ordentlich fordert, sie geleDorf aus dem „Bellum Galligentlich sogar, vor allem in cum“ zu – unter der Bedinden „Pikten“, auch überforgung, dass sich diese Streidert, so dass es manchmal unchung nicht herumspricht. vermeidlich sein kann, von Dies sagt Promoplus, wie der der Vorlage abzuweichen. Berater Rufus Syndicus im Zum Beispiel wird im „PapyOriginal heißt, mit dem Hinrus“ auf Seite 13 das lateiniweis auf die Stummheit seische Wort „canalis“ des Originer Schreiber zu. Diese numinals, das dort witzigerweise dischen Schreiber (der Hinals antike Entsprechung für weis auf den heute noch in das französische tuyau Frankreich gebräuchlichen (Schlauch, aber auch ExkluBegriff nègre littéraire für sivmeldung) steht, zu Recht Ghostwriter wird in der im deutschen Album ersetzt, Übersetzung ohne Not unterdenn dieses Wortspiel ist unschlagen) erhalten eine Ausübersetzbar. Allerdings wird gangssperre (sont mis au sestattdessen eine lateinische cret), ihr Protest dagegen Neuprägung geboten: „plaga bleibt erfolglos, denn sie haversus“ für „Schlagzeile“, bei ben ja als Stumme keine der es den Lateiner gleich „Stimme“, also kein Stimmwieder schüttelt. oder Mitspracherecht in dieWas aber grundsätzlich ser Angelegenheit (avoir bei Neuvertextungen nicht voix au chapitre – mit eleganunterlaufen darf, sind Misster Anspielung auf das unterverständnisse über die Vorlaschlagene Kapitel Cäsars). ge, die dann zu UnklarheiTrotzdem gelingt es einem ten, SchwerverständlichkeiSchreiber, mit einem Exem„Nègre littéraire“ heißt im Französischen der Ghostwriter, der Verfasser eines Textes, der aber unbekannt bleibt. Foto Egmont Comic Collection ten, ja sogar zu Sinn- und plar des gestrichenen TextPointenverlusten ganzer Pasteils zu entfliehen. Von dieon, die angebliche Beständigkeit und sagen führen. Überhaupt sollte stets der sem gut nachvollziehbaren Handlungsab- nicht zu fliehen brauchen. In der entspre- gefinger“ (auf Französisch auch index) Dauerhaftigkeit des gesprochenen im lauf ist in der Übersetzung kaum etwas ge- chenden Sprechblase der deutschen Ver- und blickt deshalb auf den Zeigefinger des Versuch gemacht werden, das elegante Vergleich zur Flüchtigkeit des geschriebe- Original, wenn es nur irgend geht, zu ersion wird ein neuer eigener Gag (die Solda- Kolporteurs, was Asterix korrigiert, dem blieben, weil die Wortspiele nicht bewahrt nen Wortes – ganz im Sinne der Bevorzuwerden konnten. Sie ist unklar und wider- ten heißen Datenflus und Antivirus) ver- beide Bedeutungen geläufig sind. Das Ganze ist ein witziges Spiel mit den bei- gung mündlicher Tradition in der galli- halten. Wie hatte schon Horaz in seiner sucht, der aber kaum vom Stuhl reißt und sprüchlich. „Ars poetica“ (385–390) gewarnt? Wenn schen Kultur. den Hauptbedeutungen des Wortes index. mit der Vorlage nichts zu tun hat. Weiter auf derselben Seite zum Panel 3: du etwas geschrieben hast, nimm es neun Der Erzähler setzt in seinem KommenDer Übersetzer hat stattdessen eine Weiter auf der Seite zu den ZeitungsEiner der beiden Wachsoldaten glaubt, eischwer nachvollziehbare und wenig über- tar sogar noch eins drauf: Die alte galli- Jahre unter Verschluss. Was du nicht hernen Numider auf der Flucht gesehen zu ha- schlagzeilen: In der „bereinigten“ Fassung ohne das Kapitel der Niederlagen wird Cä- zeugende neue Pointe konstruiert, die zu- sche (falsche) Version sei die frühere und ben. Der andere hält den Ausdruck „ein ausgegeben hast, kannst du immer noch sars Buch als Bestseller gefeiert, als Ver- dem noch gravierende inhaltliche Umbau- eigentlich echte, die moderne (richtige) In- ändern. Gibst du es trotzdem gleich herfliehender Numider“ für einen gelungenen version dagegen nur eine „version approxi- aus: nescit vox missa reverti – entfahrenes ten zur Folge hat. Obelix’ Frage „Ach? Witz. Das kann man aber nur nachvollzie- kaufsknüller (fait un malheur), und daher mative“, die durch falsches Abschreiben sei das Urteil der römischen Presse einhel- Fettfinger?“ lässt sich so verstehen, dass hen, wenn man weiß, dass das lateinische Wort kennt kein Zurück. WOLFRAM AX in der eben unzuverlässigen schriftlichen er unter den von Asterix zuvor erwähnten „numida“ auch „Nomade“ heißt und No- lig (unanimes) positiv. Die Übersetzung aber behauptet: „kennen nur noch ein The- Souvenirs offenbar Fingerabdrücke ver- Überlieferung entstanden sei („Ce prover- Der Verfasser lehrte Klassische Philologie in Köln. maden – sowieso stets in Bewegung – Rechtmäßig unterwegs im westgermanischen Sprachraum Das großangelegte „Deutsche Rechtswörterbuch“ ist seiner Vollendung noch etwas näher gekommen Es geht zur Sache in diesem Lexikon, ohne Umschweife: „Angelegenheit, Vorgang, Fall; insbesondere der rechtlich bewertete Lebenssachverhalt im Rechtsgang“, so definiert das „Deutsche Rechtswörterbuch“ jenen Begriff, entsprechend dem lateinischen „causa“. Es führt noch das altenglische „sacn“ und „socn“ an, womit die niedere Gerichtsbarkeit bezeichnet worden sei. Noch allgemeiner liest man im „Deutschen Wörterbuch“, „Sache“ bedeute ursprünglich „Streitigkeit“, und das Wort werde „gern bezogen auf den vor dem richter zum austrag kommenden streit, den rechtshandel“. Ob Rechtssprache als eine reine Fachsprache aufzufassen sei, bleibt umstritten, der Bezug zum herkömmlichen Sprachgebrauch liegt auf der Hand, obgleich die jeweiligen Bedeutungshorizonte identischer Begriffe stark differieren können. Das erhellt in beispielloser Form das Großprojekt des „Deutschen Rechtswörterbuchs“ (DRW), das inzwischen auch online zugänglich ist (www.deutsches-rechtswoerterbuch.de). Historiker, Linguisten oder auch kulturhistorisch interessierte Laien zählen zum Nutzerkreis und sorgen dafür, dass die seit 1999 stetig ausgebaute Online-Fassung der bereits erstellten Lexi- konbände hohe Zugriffszahlen verzeichnet. Am Anfang der Artikel stehen allgemeine Definitionen, dann konzentrieren sie sich auf die Rechtssphäre und liefern Belege. Aus Rechtstexten stammen diese längst nicht nur, sondern ebenso aus religiösen, literarischen, historischen und linguistischen Quellen. Kein Fachwörterbuch ist das DRW, sondern eine weit ausgreifende Darstellung des rechtlich relevanten Wortschatzes insgesamt, seit Beginn der schriftlichen Überlieferung und bezogen auch auf die westgermanischen Sprachstufen und -varietäten. Kein geringer Anspruch, weswegen die Geschichte des Projekts weit zurückreicht und die Belege nur noch bis zum frühen neunzehnten Jahrhundert verfolgt werden können. Das neuere redensartliche „sich vom Acker machen“ verzeichnet der Artikel „Acker“ naturgemäß nicht, durchaus aber die veraltete Redeweise für landwirtschaftliche Feldarbeit, „zu Acker gehen oder fahren“. Und weil der rechtliche Aspekt besondere Berücksichtigung findet, hebt der in der Selbstdarstellung des Lexikons prominent erwähnte, aus heutiger Sicht freilich keinem naheliegenden Lexem gewidmete Artikel „Obenschwim- men“ größtenteils auf Gottesurteile ab: Bekanntlich sollten Hexen anhand ihres Schwimmens an der Wasseroberfläche zu identifizieren sein, während Unschuldige ertranken. Gegründet wurde das Lexikon 1897 von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, angeregt hatte es schon Leibniz in seinen Ausführungen anlässlich der Gründung der Akademie im Jahr 1700. Die erste Wörterbuchlieferung erfolgte 1914. Ihren Sitz hat die Redaktion seit jeher in Heidelberg, seit 1959 wird das Lexikon von der dortigen Akademie der Wissenschaften betreut. Vorgesehen ist der Abschluss für das Jahr 2035. Der Bearbeitungszeitraum für die gesamten 16 Bände mit rund 120 000 Artikeln läge damit noch anderthalb Jahrzehnte über demjenigen des von den Brüdern Grimm begründeten „Deutschen Wörterbuchs“. Die beiden Weltkriege bedeuteten erhebliche Zäsuren, in den zwanziger Jahren stand das Projekt ganz auf der Kippe. 1970 erfolgte eine Neukonzeption, um die Fertigstellung zu beschleunigen. Die zeitliche Begrenzung wurde dabei erst verfügt: Die Belege werden seitdem nur noch bis zu der Zeit weiterverfolgt, als das französische Recht in Gestalt des Code Napoléon seinen Einfluss geltend machte. Komposi- ta sollten gar nur noch bis ins Jahr 1700 untersucht werden. Doch Ausnahmen bestätigen die Regel: Der erst seit 1713 belegte „Schadensersatz“ wurde aufgrund seiner Relevanz dann doch berücksichtigt. Andererseits sah die Neukonzeption auch eine Erweiterung vor, Fremdwörter werden erst seitdem aufgenommen; das kürzlich im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar erschienene zweite Teildoppelheft zum 13. Band – der zwölfte Band liegt seit zwei Jahren vor – verzeichnet deshalb auch den „Sequester“ oder die „Separation“. Der lange Zeitraum bietet interessante Nebeneffekte, belegt Forschungsgeschichte, den Wandel von Perspektiven und Methoden. Die frühen Bände lieferten nur sehr knappe Erklärungen, dafür umso ausführlicher Belegstellen, weil darin offenbar der Hauptzweck des Lexikons gesehen wurde. Heute, da das Internet Fundstellen verschiedenster Art bereitstellt, erscheinen die Erläuterungen umso wichtiger. Eine Basis der lexikographischen Arbeit ist auch ein großes elektronisches Textkorpus, dessen Quellentexte oft eigens fürs DRW digitalisiert worden sind. Das eigentliche Fundament bilden indes 2,5 Millionen Belegzettel in klassischen Zettelkästen, wovon knapp die Hälfte schon in den Anfangsjahren beschriftet wurden, als einem Aufruf 250 Personen folgten, um als freiwillige Mitarbeiter und Sammler die Grundlage der lexikographischen Arbeit zu schaffen. Unter diesen Mitarbeitern war übrigens auch Horaz Krasnopolski aus Prag, der akademische Lehrer Franz Kafkas. Nicht ausgeschlossen, dass auch Kafka selbst zum Lexikon beitrug und sich in einem Kasten im Heidelberger Archiv ein Autograph des Weltautors verbirgt. Unter der Leitung des Rechtshistorikers Andreas Deutsch arbeiten heute, auf zusammen fünfeinhalb Personalstellen, zehn Wissenschaftler am DRW mit, Historiker, Linguisten, aber auch Philosophen. Pro Jahr gilt es, ein Doppelheft fertigzustellen, jeweils fünf davon ergeben einen Band. Von „selchen“ bis „Sittenrecht“ reicht das Spektrum des aktuellen Hefts, was die allgemeine Relevanz des Lexikons bestätigen mag. Wie sich die Bedeutungen und der Wortgebrauch wandeln, zeigt sich natürlich auch. Wer bei „Silberblick“ nur an leichtes Schielen oder die Mona Lisa denkt, stößt hier auf den metallischen Ursprung, einen Barren „von Blei geläutertem Rohsilber“, ein weiterer Beleg glänzender, repräsentativer THOMAS GROSS Wörterbucharbeit. Literatur und Region „Was lange Zeit für das Revier selbst galt, gilt noch mehr für seine Literaturlandschaft: Terra incognita“, schreibt der Germanist Dirk Hallenberger in seiner Studie „Industrie und Heimat“, der ersten – so der Untertitel – „Literaturgeschichte des Ruhrgebiets“, die zum Standardwerk geworden ist. Seine Darstellung endet 1961: Unmittelbar vor der „Gruppe 61“, die sich in Dortmund gründete, Jahre vor den „Bottroper Protokollen“ (1968) von Erika Runge oder der Geburt des Regionalkrimis, die Jürgen Lodemann mit „Anita Drögemöller und die Ruhe an der Ruhr“ (1975) einleitete, eine Generation vor „Stier“ (1991), dem ersten der vier Ruhrgebietsromane von Ralf Rothmann, der bedeutendsten Stimme aus der Region. Seit 1961 hat sich Europas größter industrieller Ballungsraum verändert. Schon 1958 hatte die Kohleförderung den Zenit überschritten, die Montanindustrie begann ihre Prägekraft zu verlieren, Zechensterben und Strukturwandel führten zu Verwerfungen und öffneten Räume – auch der Literatur. Paradoxerweise habe die „Gruppe 61“ zur Bildung eines regionalen Kommunikationszusammenhangs wie auch zu einem Anschluss an die Hochliteratur geführt, sagte der Germanist Rolf Parr von der Universität Duisburg-Essen, der gemeinsam mit Werner Jung in den kommenden drei Jahren ein von der DFG gefördertes Projekt leitet, das die Untersuchung von Hallenberger, der ebenfalls beteiligt ist, fortschreiben soll: „Die Literaturgeschichte des Ruhrgebiets seit 1960“. Welche Fragen der Gegenstand stellt, wurde in einem Workshop in Essen sondiert, der Seitenblicke nach Wales, Schweden und Brasilien berücksichtigte. Schon ihn abzustecken scheint schwierig. Welche Autoren gehören dazu, welche nicht? Peter Rühmkorf ja, weil er in Dortmund geboren und bei Hamburg aufgewachsen ist; Ralf Rothmann nein, weil in Schleswig geboren und in Oberhausen aufgewachsen? Oder nicht eher umgekehrt? Nur Texte aus oder auch Texte über oder sogar Texte für das Ruhrgebiet? Zugrunde gelegt wird ein Verständnis von „Literatur als Form sozialen Handelns unter spezifisch regionalen Bedingungen“; Anspruch ist ein Konzept, das auf globale Prozesse Bezug nimmt und zugleich ein Modell regionaler Literaturgeschichtsschreibung entwirft. Und dabei einem Ballungsraum Rechnung trägt, der (nicht erst seit 1961) so stark von Migrationskulturen und transnationalen Beziehungen geprägt ist, dass er die Gegensätze von Metropole und Provinz, Zentrum und Peripherie aufhebt und in sich vereint. Wie heterogen, bunt und zersplittert das literarische Feld bestellt ist, zeigten Beiträge schon durch ihre Themen auf. Ausgehend von Jürgen Links tausendseitigem Collage-Roman „Bange machen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee“ (2008), kam Tobias Lachmann (Dortmund) in seinen diskurstheoretischen Überlegungen zu dem Befund, dass sich die Ruhrgebietsliteratur als Konglomerat unterschiedlicher Materialitäten und paradigmatisches Experimentierfeld erweist. Britta Caspers (Duisburg-Essen) deutete die Legitimierung und (durchaus problematische, wie man heute weiß) Authentifizierung der „Bottroper Protokolle“ durch die regionale Presse als Beispiel dafür, wie die Literatur zur „Regionalisierung der Region" beitragen kann. Steffen Stadthaus (Berlin) stellte das „Literarische Informationszentrum“ in Bottrop, wo Josef Wintjes von 1969 bis 1990 die Alternativzeitschrift „Ulcus molle“ herausgab, als einen Ort der Gegenkultur vor, der gerade wegen seiner Distanz zu den Zentren und unbeeindruckt vom Feuilleton wie von akademischen Diskursen überregionales Interesse gewann (F.A.Z. vom 11. November). Stephanie Heimgartner (Bochum) skizzierte eine literarische Karte des Ruhrgebiets, in der Schauplätze und Themen markiert werden – die Grabstätte des dichtenden Bergmanns Heinrich Kämpchen ebenso wie der fiktive Ort der Kneipe „Die Zornige Ameise“ in Lodemanns Krimi oder eine Lesung von Frank Goosen. Zunächst geht es um eine Bestandsaufnahme von Materialien und Informationen, wie sie Walter Gödden (Münster) in seiner „Chronik der westfälischen Literatur 1945 – 1975“ erstellt hat, die auf mehr als neunhundert Seiten registriert, was im Land an Literatur passiert ist. Methodisch ein Vorbild, inhaltlich von nur halbem Wert: Mitten durchs Ruhrgebiet verläuft die Grenze zwischen Rheinland und Westfalen. Eine Literatur, vielfältig und disparat, abseits des Etablierten. So der erste, vorläufige Eindruck. Was für das Ruhrgebiet, das erst mit der Industrialisierung entstanden und, mangels eines starken Bürgertums und dessen Traditionsbewusstsein, spät Ansätze zu einer kulturellen Eigenständigkeit entwickelt hat, charakteristisch ist, sind Positionen, die seine Literatur der Geringschätzung wie auch Klischees aussetzen, aber mehr noch dazu herausfordern können, diese zu befragen. Ebendas dürfte das Projekt bedeutend machen: Auf ausgetrampelten Pfaden lässt sich terra incognita nicht erschließen. ANDREAS ROSSMANN
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