CATH Y 'S R I NG CATH Y 'S R I NG Wenn du´s findest — ruf an: +49 (0)69 — 66 777 675 Stewart / Weisman / Brigg Stewart / Weisman / Brigg CATH Y 'S R I NG Wenn du´s findest — ruf an: +49 (0)69 — 66 777 675 Stewart / Weisman / Brigg Aus dem Amerik anischen von Barbara Lehnerer 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 © 2009 für die deutsche Ausgabe: Baumhaus Verlag GmbH, 20 Bergisch Gladbach & Köln 21 Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Cathy’s Ring« 22 bei Running Press Book Publishers, Philadelphia 23 www.runningpress.com 24 © 2009 by Sean Stewart and Jordan Weisman 25 All rights reserved under the Pan-American and International Copyright Conventions 26 27 Innenillustrationen und -design: Cathy Brigg 28 Gestaltung in Anlehnung an die amerikanische Originalausgabe: 29 Bosbach Kommunikation & Design GmbH 30 Covergestaltung: Götz Rohloff 31 Redaktion: Barbara Rumold/Harald Kiesel 32 33 ISBN 978-3-8339-3802-3 34 www.baumhaus-verlag.de 35 36 5 4 3 2 1 09 10 11 12 2013 37 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Giftbecher (Stunde meines fiesen Zwillings) Mom hatte Nachtschicht im Krankenhaus, und so war ich allein in unserem drückend heißen Haus. Sobald sie zur Arbeit gefahren war, schaltete ich die Klimaanlage aus, weil ich sparen wollte. Wenn man in heißen Nächten wie der heutigen ins Bett ging, kam es einem zwar so vor, als würde man ein Zelt in einem Backofen aufschlagen, aber angesichts der Tatsache, dass ich eklatant daran gescheitert war, meinen Anteil an der Hypothek zu zahlen, schien es mir das mindeste zu sein, was ich tun konnte. Der Sommer schritt voran und seit Monaten hatte die staubige Erde schon keinen Regen mehr zu spüren bekommen. Die Saison der Großflächenbrände hatte begonnen: In den Sierra Foothills erstreckte sich eine Feuersbrunst über eine Fläche von 8000 Hektar und bei Gilroy, Vacaville und Palo Alto, die näher an meinem Zuhause lagen, loderten große Grasfeuer. Dutzende kleiner Feuer hatten ganze Flächen geschwärzten Grases entlang der Autobahnen nach San Francisco hinterlassen. Ich hatte meinen leichtesten Schlafanzug angezogen, beschloss aber, den Glücksbringer, den mein Freund Victor mir geschenkt hatte – ein zartes Silberkettchen mit einer chinesischen Münze – nicht abzunehmen. Victor hatte mir gesagt, er hätte sie heute Vormittag im Geschenkladen des Krankenhauses gekauft. Die Kette pendelte mit ihrem ungewohnten Gewicht hin und her und stieß gegen mein Schlüsselbein, als ich mich ins Bad schleppte, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Die Augen, die mir aus dem Spiegel entgegenblickten, waren blutunterlaufen und sahen erschöpft aus. Ich trottete zurück in mein Zimmer und machte das Fenster weit auf. Kein Lüftchen, nur der Geruch von Verbranntem, als halte jemand in der Ferne ein Streichholz in die Dunkelheit und warte darauf, dass sie sich entzündete. Ich schob die Decken von meinem Bett, legte mich auf die Laken und wartete darauf, dass ich einschlief. Zehn Stunden war es erst her, seit ich mit angesehen hatte, wie ein Mann erschossen worden war. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn vor mir, wie er verwundert auf seine blutüberströmte Brust schaute, sah das rote Blut, das in den Teppich unter ihm sickerte und die Tapete hinter ihm voll gespritzt hatte. Die verbrannte Luft roch im Dunkeln wie Schießpulver. Der Tote hieß übrigens Tsao und seine letzten Worte waren: »Cathy, ich werde dich immer lieben.« Man sagt ja, dass die Liebe die Seele wärmt, aber gelegentlich verbrennt sie sie auch. Es war schon nach Mitternacht, als ich die Hoffnung auf Schlaf aufgab. Ich kroch aus dem Bett, machte Licht und schloss das Fenster. Dann zog ich eine kleine Parfumflasche aus meiner Hosentasche und setzte mich ans Bettende, um sie mir genauer anzusehen. Die Flasche war fast rund und hatte die Form einer kristallenen Frucht, eines Apfels oder Pfirsichs vielleicht. Der schwere Stöpsel war wie ein Stiel geformt, an dem noch ein Blatt hing, und die Flüssigkeit in dem Fläschchen hatte die Farbe von Sonnenlicht, in das man einen Teelöffel Blut gemischt hat. Ich hielt die Flasche dicht vor mein Gesicht und zog den Stöpsel heraus. Früher habe ich immer an etwas gerochen, indem ich mich leicht nach vorne gebeugt und die Luft mit der Nase eingeatmet habe, so wie es die meisten Leute tun, aber als ich im Einkaufszentrum als Parfum-Vorführerin geschult wurde, erklärte man mir, dass man Düfte besser einfangen kann, wenn man ganz normal mit leicht geöffnetem Mund atmet und die Luft mit der Hand zu sich hinfächelt. Ich ließ den Duft um mich herum wogen, ein süßlicher Pfirsichgeruch mit einem üblen Unterton von Formaldehyd und Rauch. Er roch nach hoffnungslosem Verlangen. Nach verbrennenden Engeln. Mein Telefon läutete und ich ging sofort dran, weil ich dachte, dass es jemand sein müsse, der in Schwierigkeiten war, Emma vielleicht oder Victor. Aber ich hatte nur halb Recht. »Du hast mein Parfum geklaut«, sagte eine ärgerliche Stimme in stark näselndem texanischem Tonfall. »Hey, das ist ja Jewel, mein fieser Zwilling.« Das letzte Mal, als wir uns gemeinsam in einem Zimmer aufgehalten hatten, hatte sie Tsao erschossen, ihm anschließend das Geld aus der Hosentasche gezogen und mich mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, ihr meinen Führerschein auszuhändigen. Eigentlich hatte ich gehofft, nie wieder etwas von ihr zu hören. So etwas nennt man Wunschdenken. »Mann, gut dich zu sprechen«, sagte ich. Im Hintergrund hörte ich Betrunkene reden, Flaschen klirren und das monotone Dröhnen von lauter, widerwärtiger Tanzmusik. »Von wo rufst du denn an?« »Vom Münzfernsprecher der Baptistengemeinde«, sagte Jewel. »Hör zu, du hast heute Nachmittag das Parfum aus meiner Tasche genommen.« »Nie und nimmer«, sagte ich, während ich die Kristallflasche in meinen Händen drehte. »Das wäre ja dann gestohlen.« Streng genommen handelte es sich bei der Flüssigkeit in der Flasche gar nicht um Parfum, sondern um eine ganz spezielle Art von Gift – einen komplexen chemischen Wirkstoff, der einem die Gabe der Unsterblichkeit nahm. In meinem Leben hatte es sehr plötzlich und sehr überraschend eine Heimsuchung von Unsterblichen gegeben: von meinem Vater, meinem Freund Victor und Urahn Lu, dem erbosten Ex-Boss meines Freundes, um nur ein paar zu nennen, weshalb es, ehrlich gesagt, etwas sehr Tröstliches hatte, diesen kleinen Giftbecher in den Händen zu halten. In einer sehr kleingeistigen und niederträchtigen Hinsicht tat es einfach gut sich vorzustellen, wie man diese göttergleichen Wesen mit ihren ewigen Leben, ihren blitzartigen Reflexen und ihrer übernatürlichen Gabe, die eigenen Wunden heilen zu lassen, mit einem gut abgepassten Spritzer in den Zustand normaler Menschen zurückversetzen konnte – dem Schmerz, der Zeit und dem Tod ganz genauso ausgeliefert wie der Rest der Menschheit auch. »Vielleicht hast du ja nur vergessen, wo du sie hingestellt hast«, sagte ich. »Ich kann zum Beispiel meinen Führerschein auch nicht mehr finden.« »Sehr witzig.« Ich hörte, wie Jewel eine Pause einlegte und etwas trank. »Sind die Bullen schon aufgekreuzt?« »Noch nicht.« Seit ich wieder zuhause war, hatte ich mich gefragt, ob ich wohl bald Besuch von den Gesetzeshütern bekommen würde. Wegen eines Zwischenfalls vor einigen Monaten hatte die Polizei nämlich meine Fingerabdrücke in ihren Akten, und falls sie einen brauchbaren Abdruck von mir im Hotelzimmer erwischt hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis mich ihre Computer als eine der Personen identifizieren würden, die ein Interesse an der Ermordung Tsaos haben konnten. Streng genommen war ich unschuldig, aber die Polizei anzulügen, ist immer gefährlich und ihnen die Wahrheit zu sagen – dass es nämlich der unsterbliche Vater meines Freundes auf mich abgesehen hatte, aber von meinem fiesen Zwilling erschossen worden war, nachdem der ihm ein geheimes Sterblichkeitsserum verabreicht hatte – das entbehrte jeglicher Aussicht auf Erfolg. Jewel nahm den Mund vom Hörer. »Barkeeper«, sagte sie. »Hey, du taube Nuss – ja, du. Gib mir noch ein Bier. Okay, bin wieder da. Keine Bullen also, ja? Kann ein gutes Zeichen sein, kann aber auch ein schlechtes sein.« Ich hörte, wie sie ihr Bier in sich hineinkippte. »Die gute Version wäre, dass du vielleicht kaum Fingerabdrücke hinterlassen hast.« »Und die schlechte?« »Na ja, Tsao hat mir mal erzählt, dass Urahn Lu ein paar echt gruselige Computerfreaks beschäftigt, die so was wie Polizeiakten einfach verschwinden lassen können. Vielleicht haben die ja deine alten Fingerabdruck-Dateien einfach gelöscht.« »Warum sollte ausgerechnet Urahn Lu mir einen Gefallen tun?« »Das würde er ja gar nicht«, sagte Jewel trocken. »Die schlechte Version ist nämlich, dass Lu dich selber kalt machen will und du leichter zu beseitigen bist, wenn du nicht schön geschützt in einer Gefängniszelle sitzt.« Ich schluckte. »Aha.« »Wie geht’s Denny?« fragte Jewel. »Hast du ihn zum Arzt gebracht?« Denny war Jewels Bruder, dem Tsao heute morgen noch den Arm gebrochen hatte. Und Jewels letzte Worte, bevor sie Tsao tötete, waren: »Außer mir krümmt keiner meinem Bruder ein Haar.« »Er liegt im Krankenhaus, ich war noch bis vor ein paar Stunden bei ihm. Klavier wird er in absehbarer Zeit nicht spielen können, aber er wird überleben.« »Hör zu, Cathy, du musst ihn dazu bringen, nach Texas zurückzufahren. Wenn er das nicht tut… keine Ahnung, was sein Bewährungshelfer dann mit ihm anstellt.« »Loyalität ist ein großes Thema bei deinem Bruder, Jewel. Er lässt dich nicht allein hier sitzen.« »Ich weiß. Und deshalb wirst du ihm auch sagen, dass du mit mir gesprochen hast und ich schon wieder zuhause bin.« Rap-Musik hämmerte und dröhnte mir vom anderen Ende der Leitung entgegen. »Und du rufst mich also aus einer Kirche an, ja?« sagte ich. »Wenn ich lüge, spürt er es genau, aber von dir ist er hin und weg. Er weiß es halt nicht besser.« »Jewel – « »Hey«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Du hast meinen Bruder in dieses Chaos mit reingezogen, Cathy. Jetzt ziehst du ihn auch wieder raus. Gleich morgen früh, als allererstes«, fügte sie hinzu. »Ich will sicher sein, dass er es von dir erfährt, bevor Urahn Lus Leute dich kalt machen.« Dann legte sie auf. Es dauerte eine Weile, bis ich einschlafen konnte. Schere (Stunde, in der jemand kommt, um mich zu töten) Keuchend vor Angst wachte ich auf und starrte in die Tiefe meines dunklen Zimmers. Mein Herz hämmerte und ich horchte, hellwach und wie elektrisiert, als warte jeder Zentimeter meiner Haut auf irgendein Geräusch. Auf der Uhr auf meinem Nachttisch war es halb fünf. Da! Und noch einmal. Etwas nagte an meinem Zimmerfenster. Irgendjemand bearbeitete den Fensterrahmen mit einer Zange oder einem Schraubenzieher. Versuchte hinein zu kommen. Jemand kam da wegen mir, genau wie Jewel es vorausgesagt hatte. Ich brauchte Hilfe. Ich war allein im Dunkeln und keiner würde mich schreien hören. Seit mein Dad »gestorben« war, hatte es immer nur uns beide hier im Haus gegeben, meine Mom und mich, und Mom hatte heute Nachtschicht im Krankenhaus. Mein Handy lag noch auf der Kommode, wo ich es vergessen hatte, nachdem Jewel einfach den Hörer aufgelegt hatte. Wenn ich es mir schnappte und 9-1-1 wählte, würden die Bullen vermutlich gerade rechtzeitig auftauchen, um meine Leiche zu finden. Wenn alles gut lief, würden sie sogar noch meinen Mörder fassen und ins Gefängnis stecken, wo er irgendwann seine Fehler einsehen und anfangen würde, Kreuzworträtsel zu lösen oder zu stricken; Jahre später würde er dann in einer Doku als Beispiel für Knackis vorgeführt, die ihre Menschlichkeit im Knast wiederentdeckt hatten. Daraufhin würde er auf Bewährung freigelassen werden und einen halbwegs laufenden Laden für Strickmode im Knast-Style eröffnen – für mich allerdings ein ziemlich schwacher Trost, oder? Weil ich dann nämlich längst tot wäre. Ich wäre tot, und Mom würde alle sechs Monate zum Friedhof kommen und bitter auf zwei Gräber starren statt auf eins. Ritz, Ratz, Ritz-Ritz, Ratz. Das leise klagende Quietschen des metallenen Fensterrahmens, den gerade jemand in aller Ruhe aufbrach. Und dann hörte ich: • weich stampfende Fußtritte draußen, dann jemand, der heran lief, • gedämpfte Kampfgeräusche • das Klatschen eines harten Gegenstandes, der auf Fleisch einprügelte • ein Keuchen, dann Leute, die draußen vor meinem Fenster in mörderischem Schweigen miteinander kämpften • das Knacken eines brechenden Knochens • das schwache Klirren und Schlagen von Metall und dann • ein Prasseln, als würden Regentropfen gegen mein Fenster schlagen. Ich sprang aus dem Bett und kroch in Erwartung einer Glasfontäne, in der das Fenster hinter mir zerbersten und von Gewehrkugeln, die meinen Rücken durchlöchern würden, auf Händen und Knien über den Boden. Ich krabbelte um die Zimmerecke herum und weiter in den Flur hinein. • Und noch ein dumpfer Schlag, dann • das Geräusch von Körpern, die gegen die seitliche Hauswand krachten. Sobald ich mich außerhalb der Schusslinie meines Zimmerfensters befand, ging ich mühsam in die Hocke. Ich wollte schon auf den Lichtschalter im Flur drücken, ließ dann aber davon ab, weil es im Hellen noch einfacher sein würde, mich zu erschießen. Die Tatsache, dass ich das Haus auch im Dunklen gut kannte, war der einzige Vorteil, den ich dem Eindringling gegenüber hatte. Ich rannte ins Bad hinüber, riss die Schublade mit den Kosmetikutensilien auf und durchwühlte sie im Dunkeln: Kämme, die Haarbürste meiner Mutter, Haargummis, Make-up, Lippen- und Augenbrauenstifte flogen scheppernd durcheinander – Zeug, das ich nie mehr benutzte. Endlich fand meine Hand die kleine Schere, mit der Mom immer Dad’s Augenbrauen in Form geschnitten hatte. Ich schloss die Badtür, sperrte sie ab und kletterte leise, leise in die Badewanne. Dann zog ich den Duschvorhang zu, dessen Stahlringe über die Schiene klirrten und klackerten, und duckte mich unter den Duschkopf. Ich stellte mir vor, wie ein Killer die Tür aufbrach… und ich ihn mit der Schere so päzise wie möglich niederstechen musste, da ich nur diese eine Chance haben würde. So stand ich in der Badewanne, zitterte am ganzen Körper vor Angst und hielt die kleine Schere wie ein Spielzeug in der Hand. Stand da und wartete hinter der verschlossenen Tür wie Anne Frank auf ihrem Speicher und fragte mich, ob ich nun sterben musste. Wieder ein dumpfer heftiger Schlag gegen die Hauswand. Ein kurzer gurgelnder Schrei. Stille. Stille. Was zum Teufel ging da draußen vor? Warten. Warten. Warten, kaum atmen, kein Geräusch machen, kein Geräusch außer dem Hämmern des Herzens in meiner Brust. * Ich hatte das Gefühl, eine Ewigkeit dort unter der Dusche zu stehen, horchend und immer wieder horchend, doch nach dem letzten Schrei war nichts mehr zu hören. Schließlich stieg ich, die Schere nach wie vor fest umklammert, aus dem Duschbad heraus. Ich schlich mich in die Küche und ging durch die Hintertür ins Freie. Es dämmerte noch nicht, aber der nächtliche Himmel war blasser geworden, seine ölfarbene Schwärze hatte sich in transparentere Wasserfarbe verwandelt. Die Luft hatte sich endlich abgekühlt, schmeckte aber immer noch nach Asche. Ich hörte das endlose Brummen des Verkehrs von der Autobahn ein paar Blocks weiter entfernt. Mit einem stotternden Zischen setzte sich die Sprinkleranlage nebenan bei Johnsons in Bewegung. Fünf Uhr. Keine Kampfgeräusche mehr. Auch kein Geräusch mehr von jemandem, der versuchte, in mein Zimmer einzudringen. Langsam schob ich mich bis zur Hausecke vor, spähte nach allen Seiten und sah die zusammengekauerten Umrisse dreier Körper, die auf dem Boden vor meinem Fenster lagen. Ganz still lagen sie da, mit steifen und seltsam verdrehten Gliedmaßen, wie Puppen, die Kinder plötzlich hatten fallen lassen, weil man sie zum Essen nach Hause gerufen hatte. Sie waren alle drei tot – das war ganz offensichtlich. An einigen Körperstellen konnte ich, bleich und verschwommen, bloße Knochenteile sehen. Ich wandte mich ab und übergab mich. Irgendwo in der Dunkelheit fing eine Spottdrossel an zu singen. Der Morgen dämmerte. Rückblick Okay, ich weiß: grauenhaft. Tut mir leid. Aber ich kann dazu nur sagen: Stellt euch vor, wie ich mich gefühlt habe. Für diejenigen von euch, deren Aufmerksamkeit in der Schule auch gerne abschweift – so wie meine -, sollte ich hier vielleicht kurz unterbrechen und die Erinnerung daran auffrischen, wie es dazu kommen konnte, dass ein völlig normales Mädchen, dessen gravierendste Probleme sich im allgemeinen zwischen schlecht sitzenden Haaren und sarkastischen Arbeitskollegen bewegen, plötzlich ein paar Leichen unter ihrem Zimmerfenster fand. Meine beste Freundin Emma sagt, dass die Menschen Informationen auf ganz unterschiedliche Weise verarbeiten, weshalb ich diesen Handy Chart für euch vorbereitet habe: Wieder auf dem Laufenden? Gut. Dann kehren wir jetzt zu unserem planmäßigen Programm zurück. Als wir unsere Heldin vorhin verließen, war sie gerade dabei, sich im Garten zu übergeben, nachdem sie drei Tote auf ihrem Rasen entdeckt hatte… Stunde des überhöhten Adrenalins Ich rannte in mein Zimmer zurück und riss mein Handy an mich, aber meine Hand zitterte so stark, dass ich es fallen ließ. Es landete scheppernd auf dem Boden, das Rückteil sprang auf und der Akku flog heraus. Ich hockte mich auf den Boden und setzte es fluchend und zitternd wieder zusammen. Der plötzliche Ärger beruhigte meine Hände etwas, weshalb ich ihn noch ein bisschen anstachelte. »Scheiß-Handy!«, fauchte ich es an, in feinster Emma-Imitation. Doch dann ließ ein grauenhafter Gedanke meine Hände starr werden. Was, wenn ich nicht die einzige war, die heute Nacht Besuch bekommen hatte? »Oh Gott«, flüsterte ich. Ich drückte die Schnellwahltaste für Emmas Nummer. Einmal Läuten. Oh Gott, bitte geh dran. Zweimal Läuten. Geh dran, Emma. Ich verspreche dir auch, ein besserer Mensch zu werden, wenn du nur abhebst. Ich drückte ganz fest die Augen zu, um dieses plötzlich auftauchende Bild von Emma nicht sehen zu müssen: wie sie bewegungslos in ihrem Zimmer lag, aus dem Mundwinkel blutete und rote Einschusslöcher wie hässliche Blumen mitten auf ihrem Hello-Kitty-T-Shirt prangten, das sie nachts immer trug. Dreimal Läuten. Bitte geh’ dran und ich sage nie wieder etwas Gemeines zu dir, so lange ich … »Hallo?« krächzte eine vertraute britische Stimme schlaftrunken. »Wird aber auch langsam Zeit, dass du drangehst«, zischte ich sie an. »Was ist los mit dir, hast du die Schlafkrankheit?« »Hä? Cathy? Bist du das?« »Du musst auf der Stelle deine Wohnung verlassen. Jemand war heute Nacht hier und wollte mich umbringen.« »Umbringen …« Ich hörte ein kurzes Keuchen, gefolgt von einem plötzlichen spitzen Schrei und einem heftigen dumpfen Schlag. »EM M A !« schrie ich. Ich hörte Kampfgeräusche, Fluchen, dann eine Männer- stimme und ein Geräusch, das wie ein Schuss in meinem Ohr klang, als jemand gegen das Handy trat. »EM M A! BIST DU OK AY ?« »Alles super, danke!« knurrte Emma. Ich hätte weinen können vor Erleichterung. »Ich bin nur gerade aus dieser bescheuerten Hängematte rausgefallen.« Ich kniff die Augen halb zu. Aus der Hängematte? »Herrgott noch mal, Cathy, es ist fünf Uhr morgens.« Es waren also keine Kampfgeräusche gewesen. Sondern Emma, die in der Dunkelheit eines ihr nicht vertrauten… Bootes aus einer Hängematte geflogen war? Und die Männerstimme … »Emma, bist du bei Pete? Hast du mit Pete geschlafen?« »Cathy!« »Emma!« »Ich habe geschlafen … nicht mit ihm geschlafen«, sagte sie hastig. »Pete hat mich gestern Abend angerufen, um mir zu sagen, dass irgendwelche verdächtig aussehenden Typen um meine Wohnung herumschleichen. Und da hab ich gedacht, ich bin auf seinem Boot sicherer.« »Sag Pete, er ist ein Gott«, sagte ich. »Sag ihm, ich huldige ihm mit dem fetten Schaf, dem Weihrauch und Geschenkgutscheinen, denn in meinen Augen ist er heilig und hat Lob und Preis verdient.« Emmas Stimme klang dumpf, als sie den Hörer vom Mund nahm. »Cathy sagt, du bist ein Idiot und sollst gefälligst mal Licht in dieser verfluchten Kabine machen.« »ICH LI EBE DICH, PETE! « schrie ich ins Telefon. »DU BIST EI N G OLDEN ER G OT T !« »Außerdem will sie, dass du mir eine heiße Schokolade machst«, sagte Emma. Sie sprach jetzt wieder in den Hörer: »Was soll das heißen, jemand war da und wollte dich umbringen?« Ich erzählte ihr alles so schnell wie möglich. Selbst am Telefon konnte ich praktisch hören, wie das Emma-Hirn zu sprudeln anfing. »Gott sei Dank ist dir nichts passiert, Cathy! Mann! Wer, glaubst du, hat diese Typen kaltgemacht?« »Victor, vermute ich.« »Um dich dann mit dem Abwasch allein zu lassen. Wie ausgesprochen ritterlich von ihm.« Ich ging in die Küche hinüber und warf einen Blick aus dem Fenster. Im Osten war der erste blasse Streifen Tageslicht zu sehen. Die Leichen neben dem Haus würden jetzt von Minute zu Minute deutlicher sichtbar werden. »Cathy, hast du die Polizei angerufen?« »Was kann ich denen denn schon sagen? Dass ich einen zweitausend Jahre alten Mann namens Urahn Lu verärgert habe und der ein paar Miet-Ninjas zu mir geschickt hat, um mich auszuschalten, die aber leider von meinem unsterblichen Freund um die Ecke gebracht worden sind, bevor er den Schauplatz fluchtartig verlassen hat?« »Ah! Da liegt das Problem. Oh, meine heiße Schokolade«, fügte sie hinzu. »Danke!« »Ich rufe Victor an und sage ihm, er soll seinen Arsch wieder hierher bewegen und mir beim Saubermachen helfen. Und in der Zwischenzeit …« Ich verstummte. In der Zwischenzeit… Was war denn in der Zwischenzeit? Emmas Preis dafür, dass sie sich immer als meine beste und beständigste Freundin bewährt hatte, war, dass Urahn Lu sie nun direkt in seiner Schusslinie hatte und ich keine Möglichkeit sah, sie zu beschützen. »Oh Gott«, sagte Emma plötzlich. »Ich muss meinen Vater anrufen.« »Du kannst ihm ja sagen, dass du bei mir übernachtet hast, wenn du nicht willst, dass er von Pete erfährt.« »Ich mache mir keine Sorgen, dass ich Ärger kriegen könnte, Cathy. Ich muss nur wissen, ob es ihm gut geht.« Blitzartig stellte ich mir vor, wie Mr. Cheung aufwachte und einen Pistolenlauf zwischen seinen Zähnen spürte. Und was war übrigens … wenn noch drei weitere von diesen Typen in der Tiefgarage des Krankenhauses herumstanden und darauf warteten, dass meine Mom, ihre Schicht beendete? Solange ich in der Nähe war, befand sich jeder, den ich liebte, in Gefahr. »Okay«, sagte ich und versuchte klar zu denken. »Zum Glück hat Pete dich gestern Abend angerufen. Du kriegst raus, was mit deinem Vater ist. Sag mir Bescheid, wenn …« Die Worte blieben mir im Hals stecken. »Emma, es tut mir so leid.« »Nur keine Panik, Cathy. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich muss jetzt auflegen.« »Bye«, sagte ich, aber die Leitung war bereits tot. Emma wurde von Killern belauert. Denny lag mit zerschmettertem Arm im Krankenhaus. Tsaos Blut versickerte in dem teuren Teppich seines Luxushotels… ich war kein menschliches Wesen mehr, ich war eine Katastrophe, ein Grasfeuer. Alles, was ich anfasste, wurde schwarz und verbrannte. Schlecht sitzende Haare Ich ging ins Bad und starrte mein Spiegelbild an. Mein Haar sah aus, wie sich mein Herz anfühlte. Ich überlegte, ob ich es zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden sollte. Ich überlegte, ob ich es komplett wegrasieren sollte. Cathy, du schindest Zeit. Du musst was mit den Leichen anstellen. Ich scheitelte mein Haar auf der einen Seite, steckte eine Haarspange hinein und ging in den Garten. Dort spähte ich um die Hausecke. Die Leichen lagen immer noch da. Ich ging zurück ins Bad, nahm die Spange wieder aus dem Haar und rief Victor an. Trotz der lächerlich frühen Stunde ging er schon beim ersten Läuten ans Telefon, als habe er auf meinen Anruf gewartet. Seine Stimme klang schneidend: »Cathy? Was ist passiert?« »Das weißt du nicht?« Victor schwieg auf eine Art, mit der mich die Leute häufig anschweigen, so als zählten sie bis zehn, bevor sie irgendetwas sagen können, das sie dann später vielleicht bereuen. »Jemand hat vor ungefähr einer Stunde drei Leute unter meinem Zimmerfenster getötet. Ich dachte, du wärst das gewesen.« »Wie bitte??« »Ich weiß nicht, was ich mit den Leichen machen soll. Wertstofftonnen hab ich nur für Papier und Plastik.« Selbst in meinen eigenen Ohren klang meine Stimme jetzt allmählich hysterisch. »Rühr dich nicht von der Stelle«, sagte Victor streng. »Ich komme zu dir rüber.« »Dann warst du es also nicht?« Ich konnte hören, wie er eilig durch sein Haus ging, wie es raschelte, als er nach seiner Lederjacke griff, wie seine Autoschlüssel klimperten. »Bis vor einer halben Stunde saß ich noch vor meinem Computer, um rauszukriegen, wie Urahn Lu es geschafft hat, mein ganzes Geld verschwinden zu lassen.« »Oh.« Mir fiel wieder ein, was Jewel über die erschreckend fitten Computerfreaks gesagt hatte, die für Urahn Lu arbeiteten. Offenbar konnten sie noch mehr verschwinden lassen als nur Fingerabdrücke. »Cathy, hast du die Bullen angerufen?« »Nein.« »Gut.« Ich hörte das Quietschen der Vordertür, als Victor das Haus verließ und das Klackern seiner Absätze, als er die Stufen der Veranda hinunterging. »Victor, bist du sicher, dass du niemanden umgebracht hast?« Seine Füße liefen knirschend den Kiesweg vor seinem Haus hinunter. »Noch nicht.« Er legte auf und ließ mich allein in einem leeren Haus mit drei Leichen auf der einen Seite des Gartens und keiner weiteren Beschäftigung, als der zu warten. Ich versuchte, meine Haare auf der anderen Seite zu scheiteln, aber auch das half nicht. Spieglein Spieglein an der Wand Ich ging zurück in mein Zimmer, zog mir etwas an und versuchte den Blick aus dem Fenster zu vermeiden. Dann setzte ich mich hin und starrte meine Haare im Spiegel des Toilettentischs an. Ich hatte sie jetzt eine ganze Weile schon nicht mehr gewaschen und mein Pony hing schlapp und mutlos herunter. Ich überlegte, ob ich schnell noch duschen sollte, während ich auf Victor wartete, aber ich ging davon aus, dass ich ihm dabei helfen musste, die Leichen wegzuschaffen und danach würde ich mich säubern wollen. Ich schämte mich dafür, wie sehr ich mir wünschte, dass Victor alles in Ordnung brachte und fragte mich, ob sich das wohl je ändern würde. Obwohl Victor immer noch wie ein junger Mann Anfang zwanzig aussah, hatte er bereits mehr als ein Jahrhundert Lebenszeit hinter sich. Und ganz gleich, wie alt, wie weise, wie reif ich werden würde, verglichen mit ihm wäre ich immer noch ein Baby. Der einzige Nutzen, den ich aus meinen Geburtstagen ziehen würde, wären Jahr für Jahr ein paar Falten mehr. Ich nahm die Parfumflasche noch einmal vom Toilettentisch. Sie lag in meiner Hand wie der vergiftete Apfel, den die böse Königin Schneewittchen gibt. »Spieglein, Spieglein an der Wand«, murmelte ich und betrachtete mein Spiegelbild dabei. Ich bin immer schon fasziniert davon gewesen, wie Gesichter altern und konnte aufgrund langer Praxis in meinen eigenen Gesichtszügen erkennen, an welchen Stellen mich die Jahre einholen würden: sah die Krähenfüße, die sich aus meinen Augenwinkeln herausknittern und die Oberlippenfalten, dich sich bei mir bilden würden, wenn ich in den Vierzigern war, sah die Geheimratsecken, die mit den Jahren immer sichtbarer werden würden. Von all den miesen Jobs, an denen ich gescheitert war, hatte ich am allerwenigstens bedauert, den als Parfumverkäuferin aufgeben zu müssen. Selbstverständlich habe ich dem stellvertretenden Bürgermeister nicht absichtlich Parfum ins Auge gespritzt, aber ich kann auch nicht behaupten, besonders traurig gewesen zu sein, als man mich daraufhin feuerte. Die Teenager, die zu uns in die Kosmetikabteilung des Einkaufszentrums kamen und versuchten, uns auszutricksen, indem sie sich von unseren Vorführern schminken ließen, haben mich nicht gestört, wenn man mal von denen absieht, die auch noch eine große Klappe hat- ten, als ich sie beim Ladendiebstahl erwischte. Die Kundinnen, die mir richtig auf die Nerven gingen, waren die Frauen im Alter meiner Mutter – harte oder wild entschlossene oder verzweifelte Frauen – immer noch auf der Suche nach Ehemännern oder darum bemüht, die ihren zu halten. Wir verkauften ihnen Lippenstifte und Lotionen, Duschgels, Feuchtigkeits- und Faltencremes, aber im Grunde nichts weiter als eine einzige große Lüge, denn Männer wollen nun mal Zwanzigjährige anschauen, und das lässt sich nicht in Tiegel abfüllen. Meine Mutter war 38, als ihr Mann sie sitzen ließ. Es ist traurig, aber wahr, doch man muss nicht unbedingt mit einem Unsterblichen verheiratet sein, damit einem das passiert. In zwanzig Jahren würde Victor immer noch einen Body haben, den man in einer Werbung für Unterwäsche zeigen konnte, ich dagegen würde das »Vorher«-Foto auf der Web-Seite eines Schönheitschirurgen abgeben. Meine Hüften würden dann ausladender und meine Brüste nicht mehr so selbstbewusst sein, und keine noch so große Menge Feuchtigkeitscreme würde meine Hände so weich machen können, wie sie es heute sind. Wenn meine Mutter es nicht geschafft hatte, meinen Vater zu halten, wie konnte ich mir dann einbilden, dass Victor bei mir blieb? Das hatte mein Vater zu mir gesagt, in dieser Direktheit. War ich denn wirklich so viel spezieller als sie? So viel strahlender und reizvoller als all die anderen Frauen, deren Durchschnittsmänner sie für ein neueres Modell verließen? Ich habe hier noch nicht viel über Sex geschrieben, einfach, weil es peinlich ist. Aber für mich hat Begehren viel damit zu tun, dass man sich selbst begehrt fühlt. Das Verlangen des anderen ist das Streichholz, das die Zündschnur entzündet. Aber es schien so, als sei das Verlangen eines der Dinge, die man aufgeben musste, wenn man unsterblich war. Tsao hatte gesagt: Tausend Jahre lang war mein Blut zu Asche geworden. Und wenn ich zurückdenke, dann fing er tatsächlich erst an, die Kontrolle zu verlieren und zu spüren, wie ihm das scharfe Messer der Gefühle die Haut abzog und ihn wieder verwundbar machte, nachdem Jewel ihm eine Dosis des Sterblichkeitsserums verabreicht hatte. Was war, wenn meine Gefühle für Victor – nicht die freundschaftlichen, sondern die anderen, die kribbelnden, elektrisierenden, gefährlichen Gefühle – sich am Ende doch nur als kleines Grasfeuer entpuppten? Als eine Flamme, die sich innerhalb von ein, zwei Jahren selbst auslöschen und ihn unruhig und rastlos machen würde, während ich auf sein Verlangen wartete wie eine Kerze auf das Streichholz, das sie nie anzündet? Ganz ehrlich, würde es nicht genauso laufen? Im Augenblick, heute mochte er noch sagen, er liebe mich für immer. Vielleicht glaubte er sogar wirklich da- ran, dass wir die nächsten 1000 Jahre zusammen sein würden, aber die bittere Wahrheit war, dass ich neunhundertunddreißig davon in einem Aschenbecher auf seinem Kaminsims zubringen würde. Vielleicht hatte ich Victor unter anderem auch deshalb nicht erzählt, dass ich im Besitz des Sterblichkeitsserums war. Er würde immer ein hübscher Prinz bleiben, aber meine Tage als Prinzessin brannten mit jeder einzelnen Geburtstagskerze dahin. Ich nahm die kleine Parfumflasche und verstaute sie wieder in meiner Tasche. Jede Frau weiß, dass ihr der Spiegel früher oder später sagen wird, dass sie nicht mehr die Schönste im Lande ist. Wenn dieser Tag kommt, ist es nützlich, eine vergiftete Frucht zur Hand zu haben. Victor läuft ein (Stunde des ewigen Freundes) »Das hat aber gedauert«, sagte ich, als Victor endlich durch die Vordertür ins Haus kam. Ich bemühte mich, nicht vorwurfsvoll zu klingen, aber es gelang mir nicht so ganz. Er nahm mein Gesicht in seine Hände. »Alles okay?« Meine Haut prickelte und errötete unter seiner Berührung. So unfair. Ich zog den Kopf zurück. «Nein, gar nichts ist okay«, sagte ich. »Nicht mal ansatzweise.« Ich führte ihn nach draußen zu dem schmalen Gartenstreifen zwischen meinem Fenster und dem Zaun, der unseren Garten von dem der O’Malleys trennt. Es war jetzt helllichter Tag, und das gedämpfte Brummen des Verkehrs auf der Autobahn ein paar Blocks entfernt schwoll an. Von der Straße aus war die Sicht auf die Leichen zum größten Teil durch unsere Klimaanlage verdeckt, aber wenn man genau hinsah, konnte man ein paar herausstakende Beine und ein verschwommen-fahles Gesicht erkennen; ich hatte deshalb die Schubkarre aus der Garage geholt und sie in den Vorgarten gestellt, um die Stelle abzuschirmen. Victor ging um die Klimaanlage herum und hockte sich neben die Leichen, zwei Männer und eine Frau. Der erste Mann war ein Weißer, Anfang zwanzig mit Bürstenschnitt, ein ehemaliger Soldat, dem Marine-Tattoo auf seinem Unterarm nach zu schließen. Er lag da mit gebrochenem Genick. Der zweite Mann war ein Latino, Mitte vierzig, pockennarbig und muskulös. Die Frau war Chinesin, etwa Mitte dreißig und von stämmiger Statur. In einer Hand hielt sie eine Waffe mit einem Schalldämpfer, der auf den Lauf geschraubt war. Die Finger dieser Hand waren gebrochen. Victor tastete alle drei ab und nahm ihnen je eine Waffe und ein Kampfmesser ab. Er sah munter und energiegeladen aus und ich fragte mich, wie oft er dergleichen schon getan hatte. Ich spürte so etwas wie eine gläserne Distanz zwischen den Toten und meinem Herzen: Ich werde mich um all das hier nicht kümmern. Ich bin nicht hier. Ich fühle nichts. Victor griff vorsichtig unter den Blusenkragen der toten Frau und zog eine Seidenkordel hervor. Eine chinesische Münze baumelte an ihrem Ende und glitzerte im frühen Morgenlicht. »He, die sieht ja genauso aus wie die Kette, die du mir gestern im Krankenhaus geschenkt hast!« Ich blinzelte. »Und du hast behauptet, sie wäre ein Glücksbringer.« Jetzt sah Victor aus, als ob ihm unbehaglich wäre. »Hm.« Ich griff unter mein Hemd und zog meine Kette heraus. Die Münze war genau die gleiche. »Die hast du doch nicht im Geschenkladen des Krankenhauses gekauft, oder?« »Nicht wirklich.« Ich sah auf die Körper der Toten und dann schnellte meine Hand nach hinten in meinen Nacken und tastete nach dem Verschluss der Kette, um ihn aufzumachen: Ich fühlte mich plötzlich, als ob ich eine Spinnenkette tragen würde. »Oh, wie ekelhaft.« Angewidert warf ich Kette und Münze ins Gras. »Was, bitte schön, ist das?« Victor seufzte. »Lucky Joy Cleaners. Es ist ihr Firmenzeichen.« »Eine Reinigungsfirma?« Victor hockte sich wieder hin und sah sich die beiden identischen Münzen genau an. Er nahm eine der kleinen bronzefarbenen Scheiben vom Boden hoch und hielt sie in seinen braunen Fingern. »Nicht die Art von Reinigung.« »Oh.« Langsam dämmerte mir, was er meinte. »Verstehe.« Victor steckte die Ketten in die Hosentasche. »Gestern habe ich einen ihrer Mitarbeiter im Krankenhaus erwischt, einen Typen, den ich aus Urahn Lu’s Restaurant kenne. Ich bin zu ihm hingegangen und habe ihn, hm, überredet, zu gehen«, sagte er. »Daher stammt deine Kette.« »Und wieso wolltest du mir so etwas schenken?« »Du sahst so aus, als würde dir ein Geschenk gut tun«, sagte Victor. »Außerdem habe ich mir gedacht, wenn sie dich finden und sehen den Anhänger, dann tun sie dir vielleicht erst einmal nichts oder vertun zumindest Zeit damit, die Zentrale anzurufen, um sich Anweisungen geben zu lassen.« Er ließ seine Augen über die Leichen wandern. »Normalerweise machen diese Typen ihren Job sehr gut. Eigentlich müsstest du jetzt schon in einem Plastiksack auf dem Grund der Bucht liegen …« »Nur dass ihnen jemand zuvorgekommen ist.« Victor nahm den schallgedämpften Revolver, entriegelte ihn und ein Magazin glitt aus seinem Griff. Er zählte die Kugeln. »Es wurden keine Schüsse abgegeben. Wer auch immer ihnen das angetan hat, hat es schnell getan.« »Wie ein Unsterblicher.« »Ja, oder ein superschneller Bulle«, stimmte er mir zu. »Jun vielleicht?« In meinem Kopf drehte es sich. Jun war Urahn Lu’s Tochter. Das letzte Mal, als wir uns begegnet waren, hatte sie mich fast umgebracht, obwohl ich fairer Weise sagen muss, dass es nicht persönlich gemeint war. Eigentlich wollte sie Little Sister töten, Urahn Lu’s zehnjährige sterbliche Tochter. Jun war nämlich der Meinung, dass Lu’s Liebe zu seinem Kind ihn zu allen möglichen vernunftwidrigen Dingen verleitete, und hatte sich deshalb mit der den Unsterblichen eigenen Logik überlegt, dass sie das Problem genauso gut gleich im Keim ersticken konnte, indem sie das Kind einfach beseitigte. Alles sehr kopfgesteuert und psychotisch zugleich, ein Markenzeichen der Unsterblichen, wie ich allmählich glaubte. »Im Grunde ist sie wahrscheinlich sogar auf unserer Seite, aber auch wenn sie das, was ihr Vater tut, verabscheuenswert findet, so kann ich mir trotzdem nicht vorstellen, dass sie gestern Nacht meinen Bodyguard gespielt haben soll.« »Ich habe sie gebeten, auf dich aufzupassen«, sagte Victor, aber er sah mich nicht dabei an. Irgendein Scherzkeks hatte offenbar Feueralarm in der Kantine meines Herzens ausgelöst, denn plötzlich wurde es da sehr laut und es war schwierig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Du hast mit Jun gesprochen?« »Sie opponiert gegen ihren Vater. Sie findet, dass die Art und Weise, wie er das Sterblichkeitsserum einsetzt, kriminell und falsch ist und Schande über ihre Familie bringt«, sagte Victor. »Und ehrlich gesagt, fand ich, dass wir jede Hilfe annehmen sollten, die wir kriegen können.« »Wir? Wer ist denn dieses ‚wir’« fragte ich. »Bin ich etwa Teil dieses ›wir‹, das sich dazu entschlossen hat, Jun mit einzubeziehen? Daran kann ich mich nämlich nicht erinnern.« Victor ging zu den beiden Männern hinüber und nahm ihnen die Lucky Joy Cleaners-Münzen vom Hals. »Cathy, weder sind wir verheiratet noch unterschreibst du meinen Gehaltsscheck. Ich werde dir nicht jedes Mal eine Mitteilung schicken, wenn ich mich in deiner Abwesenheit mit jemandem unterhalte.« Er steckte die Münzen in seine Hosentasche. »Ich würde meinen«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Leichen, »das hier sollte doch Beweis genug sein, dass wir Juns Hilfe brauchen können. Was hast du eigentlich gegen sie?« Sie ist schön, sie ist unsterblich und sie ist offensichtlich und unübersehbar geeigneter als ich deine Freundin zu sein. »Sie hat die perfekten Haare«, murmelte ich. Victor sah mich ungläubig an. Männer sind so dumm. Die Schubkarre Mit der Schubkarre beförderten wir die Toten in unsere Garage. Es war schwierig, die Körper im Gleichgewicht zu halten und die Schubkarre kippte immer wieder um. Darüber möchte ich nicht schreiben. Zeit für schlechtes Benehmen Victor bat mich um ein paar Plastiktüten und eine Flasche Bleichmittel und sagte, ich solle im Haus warten, während er die Leichen ins Auto schaffe. Eine Viertelstunde später klopfte er leise an die Küchentür. »Bin fast fertig.« Unsere Blicke trafen sich. Für einen unsterblichen Mann mit grenzenlosen Heilkräften sah er fürchterlich müde aus. »Du solltest dich umziehen«, sagte er. »Du hast ja die Leichen mit weggeschafft, wahrscheinlich sind Spuren auf deinen Sachen.« Spuren bedeutete: Hautzellen oder Textilfasern oder blutverschmierte Haare. »Okay«, sagte ich. Ich fragte Victor, ob er mich zum Krankenhaus fahren könne, da ich nach meiner Mom sehen wolle. Das stimmte zwar nicht ganz, aber andererseits hatte er sich hinsichtlich der chinesischen Münzenkette auch nicht gerade wie ein George Washington benommen, weshalb ich es für einen gerechten Ausgleich hielt. In Wahrheit musste ich von der Bildfläche verschwinden. Das schien mir eindeutig zu sein, denn ab jetzt war jeder, den ich liebte, in Gefahr, solange ich mich in seiner Nähe aufhielt. Ich hatte jedoch weder das Geld für ein Flugticket noch konnte ich meiner Mutter das Auto klauen und damit in die Territorien durchbrennen. An dieser Stelle kam Denny ins Spiel. Jewel hatte völlig Recht, wenn sie mir vorwarf, dass ich ihren Bruder in mein Leben verwickelt hatte. Ich dachte, das mindeste, was ich tun konnte, war, ihn nach Texas zurückzubringen, wo er in Sicherheit sein oder zumindest so sicher sein würde, wie man es in einem Bundesstaat sein konnte, in dem das Klima der Oberfläche von Quecksilber gleicht und man Salat im Wackelpudding isst. Die richtige Entscheidung würde sein, Denny auf eine Autobahn zu bugsieren, die ihn so schnell wie möglich aus diesem Staat herausbrachte. Ich würde gemeinsam mit ihm die halbe Strecke nach Texas fahren und dann irgendwann nachts einfach verschwinden, während er schlief. Weder er noch Jewel noch irgendeiner von meinen Freunden oder meiner Familie würde auf diese Weise jemals wieder von mir hören. Der andere Mann Es war zwanzig vor sieben, als Victor mich am Krankenhaus absetzte. Nicht gerade Besuchszeit, aber die Krankenschwestern kannten mich und ich punktete gewaltig als Tochter, als ich ihnen erzählte, ich sei vorbeigekommen, um meine Mom abzuholen, deren Schicht um sieben Uhr zu Ende ging. Sie sagten, was für ein gutes Kind ich doch sei und wie sehr sie sich wünschten, dass ihre Töchter auch so wären wie ich. Wenn die gewusst hätten. Bis dahin hatte ich genau zwanzig Minuten, um mich nach oben zu schleichen und Denny zu besuchen; zwanzig Minuten, um die Grundlage für mein Verschwinden zu schaffen. Als ich die Nase in sein Zimmer steckte, stand er in einem blauen Krankenhaushemd aus Papier, das seine behaarten Waden frei ließ, am Fenster. Mit seinen 1.74 und knapp 98 Kilo – gedrungen, vierschrötig, zerschrammt und ramponiert wie er war – sah Denny aus, als sei er als Baby auf einem Schrottplatz ausgesetzt und von wilden Kühlschränken aufgezogen worden. An seinem linken Arm trug er einen langen weißen Gips, der vom Handgelenk bis zu dem Tattoo unter seinem Bizeps reichte. Auf dem Tattoo stand ›Die Trying‹, und wenn er sich noch länger in meiner Nähe aufhielt, dann würde genau das eintreten. »Wenn Modedesigner in die Hölle kommen«, sagte ich, »dann sehen alle ihre Laufstegmodels aus wie du.« Denny drehte sich zu mir um. Sein zerschrammtes Gesicht sah atemberaubend aus, verquollen und fleckig wie ein Bund Bananen eine Woche nach dem Verfallsdatum. Sein zerknautschtes Grinsen hinterließ eine Delle in seinem angeschwollenen Gesicht. »Au, verflucht noch mal! Bring mich doch nicht zum Lachen.« »Hast du immer noch vor, morgen nach Hause zu fahren?« »Hängt davon ab, wie schnell du hier aus diesem Raum wieder verschwindest. Jedes Mal, wenn ich – egal wie lang – in deiner Nähe bin, taucht irgendeiner auf und schlägt mich krankenhausreif.« Ich zuckte zusammen. Victor hatte ihm vor zwei Tagen ziemlich gründlich eine verpasst, aber dann hatte Tsao ihm gestern auch noch Handgelenk und Ellbogen gebrochen, als Denny und ich einen Gedenkgottesdienst aufgemischt hatten, der für Sterbliche strengstens untersagt war. »Der Typ, der dir den Arm gebrochen hat, ist übrigens tot, falls dir das irgendwie hilft.« »Ich weiß. Emma und die andern haben’s mir erzählt.« Denny sah zur Seite, sein Kiefer arbeitete. »Und Jewel hat ihn erledigt?« »Es war Notwehr, Denny.« »Das wird sie verändern. Jemand zu töten.« Denny schloss die Augen. Er sah müde aus. »Ist was, wovon du dich nicht mehr erholst. »Es war Notwehr, Denny, ich schwör’ es dir. Es war nicht Jewel, die …« »Sich wie Jewel aufgeführt hat« sagte er trocken. »Er wollte sie von einem Balkon im dreizehnten Stock werfen.« Ich nahm seine gesunde Hand in meine und drückte sie, als könne er den Wahrheitsgehalt dessen, was ich gesagt hatte, durch seine Haut spüren. »Glaub mir, Denny. Wenn Jewel nicht abgedrückt hätte, ich glaub, wir wären jetzt beide tot.« »Und hast du das den Bullen erzählt?« »Nicht wirklich.« Denny sah mich an und ich sprach hastig weiter. »Man kann doch unmöglich erklären, was es mit den Unsterblichen auf sich hat, oder? Ich meine, wenn wir der Polizei gesagt hätten, was wirklich passiert ist, hätten wir entweder schon eine Vorladung wegen Missachtung des Gerichts oder würden in einer Fingerfarbentherapie im California State Happy House für unheilbar Geisteskranke landen.« Denny sah hinunter auf seine gesunde Hand, die ich noch immer in der meinen hielt, dann wieder mit besorgtem Blick auf mich. »Und du? Bist du okay?« »Ich? Na klar.« »Ich kann mich noch erinnern, wie ich zum ersten Mal gesehen habe, als einer erschossen wurde.« Denny zog seine Hand aus meiner, hob sie und kratzte sich an seinem Stoppelkinn. »Hat mich fertig gemacht.« »Wie alt warst du da?« »Sieben? Nein, stimmt gar nicht. Sechs, glaub ich.« Einmal mehr wurde mir bewusst, dass Denny und Jewel ein Leben geführt hatten, das ich mir nur vorstellen konnte. »Jewel hat mich gestern Abend angerufen. Aus Texas.« Es war nur gut, dass ich ein großmütiger Mensch war und Dennys Leben ret- ten wollte, sonst hätte ich mich bei einer solch armseligen Lüge ekelhafter als ein benutztes Kleenex gefühlt. Denny warf mir einen scharfen Blick zu. »Aus Texas? Das ging aber schnell. Hat sie gesagt, wo sie wohnt?« »Nicht genau. Aber sie hat aus einer Bar angerufen.« Sein geschwollener Mund verzog sich zu einer faltigen Grimasse und das Misstrauen in seinem Blick wurde schwächer. »Ja, klingt, als ob das stimmen könnte.« »Sie wollte, dass du weißt, dass sie gut angekommen ist und lässt dir sagen, dass du zurück sein sollst, bevor dein Bewährungshelfer erfährt, dass du überhaupt weg gewesen bist. Und … ich hatte gehofft, dass du mich mitnimmst.« Denny sah mich sehr lange an. Ich wusste, dass er mich mochte, wie Mädchen so was nun mal wissen, aber dies hier war eine andere Art von Blick. Nicht der routinierte Checker-Blick, der nette Stehe-zur-Verfügung-Blick oder der (von mir am wenigsten geschätzte) einstudierte Rätselhafte-Blick. Einfach ein langer, beständiger, abwägender Blick. »Normalerweise krieg ich kein Zimmer für mich allein, wenn ich ins Krankenhaus komme«, sagte er schließlich, während er in das kleine Bad neben seinem Bett trottete.« »Meistens nähen sie mich nur im Gang hinter der Notaufnahme zusammen und schicken mich dann wieder weiter. Das hier ist stinkvornehm.« »Victor zahlt es. Denk dir nichts – er hat jede Menge Geld.« Na ja, jedenfalls hatte er das, bevor Lu’s Cyber-Spione es verschwinden ließen, aber es schien mir nicht nötig, dass Denny davon erfuhr. Jewels Bruder zuckte beim Anblick des fleckigen Gesichts, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, zusammen. Er griff nach einem Einwegrasierer aus dem Krankenhausbestand und versuchte, das Päckchen mit einer Hand zu öffnen. »Hm, könntest du …?« »Die erste Klinge rasiert glatt, die zweite rasiert glatter.« Ich zerriss das Zellophanpapier mit meinen patentgeschützten girly-mäßigen Fingernägeln und gab ihm daraus den Plastik-Rasierer. »Die dritte Klinge entfernt die Schnurrbarthaare und bündelt sie zu kleinen Ballen, während die vierte Klinge …« »Aus ihnen Forellenfliegen macht, die sich auf dem Schwarzmarkt verkaufen lassen.« Denny tupfte Rasiercreme auf sein zerschrammtes Gesicht, dann stellte er die Dose ab und verteilte die Creme behutsam mit den Fingerspitzen. »Kommst also mit, sagst du. Brauchst du vielleicht auch was zum Wohnen?« Sehr beiläufig. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, in einer Wohnung mit jemandem aufzuwachen, der nicht meine Mutter war. Country & Western-Musik aus dem Radio zu hören und wie im Zimmer nebenan Kaffee gemacht wurde. Vielleicht gab es Würstchen und Rühreier zum Frühstück, und anschließend würde ich mir eine Schürze schnappen und mich auf den Weg zu meiner Schicht in irgendeinem Diner machen, der Flapjack Ranch oder so ähnlich hieß, und Denny auf dem Weg dorthin an seiner Autolackiererei absetzen. Einmal wenigstens würde ich wie Jewel leben und nicht über Victor oder meinen Vater oder andere Unsterbliche nachdenken müssen. Ich würde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie ich ein Vermögen für Emma machen oder die Welt retten konnte. Ich könnte so tun, als wäre ich Urahn Lu niemals begegnet, meine Mom würde auch ohne mich gut zurechtkommen, und Victor hatte mich sowieso nie geliebt, nicht richtig jedenfalls. »Was zum Wohnen?« fragte ich. »Keine Ahnung. Ich glaub’, so weit hab ich noch gar nicht gedacht.« Denny griff nach seinem Rasierer. »Hast du mit Victor Zoff gehabt?« »Nein! Wie kommst du denn darauf?« Denny fuhr mit dem Rasierer behutsam über eine Wange, so dass ein Streifen zerschrammte Haut durch den Rasierschaum sichtbar wurde. »Eines zu Jewel: Wenn die ein Typ bei Tagesanbruch aus seinem Wohnwagen schmeißt, sitzt sie bei Sonnenuntergang schon wieder im Doppelwohnwagen des nächsten Typen.« »Ich bin nicht wie Jewel.« Denny sah hoch und unsere Blicke begegneten sich im Badspiegel. »Hm.« »Es geht hier auch nicht um ein romantisches Liebesabenteuer, es geht ums schiere Überleben«, sagte ich. »Urahn Lu hat mir heute Morgen ein paar Killer auf den Hals gehetzt. Wenn ich hier bleibe, wird er mir weiter auf den Fersen bleiben. Mir und allen, an denen mir liegt.« »Ah!«, sagte Denny. »Dann ist es natürlich besser, bei mir zu bleiben.« Mist! »So hab ich es doch nicht gemeint!« »Klar hast du das.« Er reckte sein Kinn nach oben und fuhr mit dem Rasierer über seinen Hals. Ich konnte das Schlagen seines Pulses in einer Vene unter seiner Kehle sehen. Die Klinge, die darüber glitt. So tough er auch sein mochte, war er doch auch nur ein Mensch – und all seine Hoffnungen und Träume von nichts weiter als ein paar Millimetern Haut zusammengehalten. Der Griff des Rasiermessers sah dünn und billig in seinen starken Händen aus. Seine Finger waren von Narben durchfurcht und unter seinen Fingernägeln immer noch schmierige Motorölränder zu sehen. »Ich weiß, was du meinst. Manchmal ist es einfach so, als ob sich alles, was du anfasst, in Scheiße verwandelt.« »Ja.« Denny klopfte mit dem Rasiermesser auf den Rand des Waschbeckens, um den überschüssigen Rasierschaum zu entfernen. Kleine, mit Bartstoppeln durchsetzte Schaumklümpchen rutschten langsam an der einen Seite des Waschbeckens hinunter. »Willst du Emma auch mitnehmen?« »Nein. Auf gar keinen Fall! Du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst – weder Emma noch Pete noch meiner Mom.« »Noch Victor.« Er sah mich wieder aus dem Spiegel an. »Noch Victor«, wiederholte ich. »Es ist ja nicht so, dass ich mich für wer weiß wen halte«, sagte Denny. Er spülte den Wegwerfrasierer ab und warf ihn in den blauen Plastikabfalleimer unter dem Waschbecken. Dann sah er mir in die Augen. »Aber ich hab auch keinen Bock, Trostpreis für jemand zu sein.« Intensivpflege (Stunde in der ich mich um meine Mutter kümmerte) Denny sagte, er wolle versuchen, gleich morgen früh entlassen zu werden. Mir gab das ca. vierundzwanzig Stunden, um meine Angelegenheiten zu ordnen, bevor sein Mustang vor meiner Haustür auftauchte. Wir besiegelten unseren Deal mit einem Handschlag und dann verließ ich schnell sein Krankenzimmer, um mit meiner Mutter nach Hause fahren zu können. Ich traf sie an, als sie gerade dabei war, sich auf der Intensivstation abzumelden. Sie sah müde aus, und auf ihrem Krankenhauskittel sah ich ein paar frische Flecken in stumpfem Rot und Braun. Man muss ziemlich hart drauf sein, wenn man auf einer Intensivstation Schicht arbeitet. Doris, ihre Kollegin, entdeckte mich zuerst und ließ ihre Augen in meine Richtung wandern. Mom drehte sich zu mir um. »Cathy! Was machst du denn hier? Bist du krank?« »Mir geht’s gut. Ich war gerade in der Nähe und …« »Morgens um sieben?« Meine Mutter legte mir die Hand auf die Stirn, um zu fühlen, ob ich Fieber hatte. Sie hatte Recht. Es war nicht sehr typisch für mich. »Ich war bis eben aus.« »Sobald wir zuhause sind, seh’ ich im Abfalleimer im Bad nach, ob ich die Verpackung von einem Schwangerschaftstest finde.« »Bringt nichts. Die hab ich schon in Müllers Mülltonne entsorgt.« »Cathy!« »War nur ein Spaß! Ich verspreche dir, ich bin nicht schwanger.« Meine Mutter sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Du bist nie auf um diese Uhrzeit! »Hey!«, sagte Doris, »Wenn deine Tochter weder bekifft noch schwanger ist und auch nicht blutet …« »Dann sei dankbar und halt die Klappe?« Mom griff sich ihre Tasche hinter dem Tresen der Pflegestation. »Ich glaube, es wäre zu viel verlangt, wenn ich dich fragen würde, was sich in deinem Leben momentan so abspielt, oder?« »Ehrlich gesagt – das sollte besser deiner Phantasie überlassen bleiben.« Ich nahm ihr die Sporttasche mit der Kleidung zum Wechseln ab. »Ist glamouröser so.« Im Lift des Krankenhauses befand sich eine Videoüberwachungskamera, die mir vorher nie aufgefallen war. »Mom? Hast du letzte Nacht irgendjemanden gesehen, der sich normalerweise nicht hier aufhält?« »Zwei Jugendliche, die eine Schlägerei in einem Club hatten, einer davon mit Schnittverletzungen durch zerbrochenes Glas, der andere mit einer Schusswunde und einer kollabierten Lunge«, sagte Mom. »Ein Autounfall – mit Gott sei Dank nur einem beteiligten Wagen – und ein Herzinfarkt. Das Übliche.« »Ist dir rein zufällig jemand aufgefallen, der eine Kette mit einer chinesischen Münze getragen hat?« »Schenkt Victor einem anderen Mädchen Schmuck?« Mitfühlend zerzauste Mom mein Haar. »Ich hab dir ja gesagt, das wird nicht halten, Liebling. Du tätest wirklich gut daran, mit Jungs in deinem Alter auszugehen.« »Weißt du was, Mom?« Wir sahen uns an. »Ich glaube, das ist ein richtig guter Vorschlag.« * Im Parkhaus ermordete uns niemand. Lügen Ich fuhr mit Mom nach Hause und machte ihr schnell Frühstück. Es war der letzte Tag, den ich je in meinem Elternhaus verbringen würde und trotzdem machte ich ihr Eier, als sei alles ganz normal. Meine Mutter ist keine sehr vertrauensselige Frau, aber sie unterhielt sich mit mir über Hausarbeit, ihren Job und das Wetter, als wäre ich auch morgen noch da. Sie plauderte, trank ihren koffeinfreien Kaffee und dachte nicht im Traum daran, dass ich sie verlassen könnte. Ich ließ sie in ihrem Glauben, lächelte und nickte, bis sie mit ihrem Frühstück fertig war und in ihr Bett wankte. Ich lüge viel und kann es auch. Darauf bin ich eigentlich immer stolz gewesen. »Gute Nacht, mein Kind«, sagte meine Mutter und machte ihre Schlafzimmertür hinter sich zu. »Bis später.« »Bis dann«, sagte ich. Jetzt bin ich nicht mehr stolz darauf. Engpass (Stunde der käuflichen Erinnerungen) Ich brauchte Geld. Die traurige Wahrheit war, dass ich nach einem Sommer, den ich zum größten Teil damit verbracht hatte, in unterschiedlichen, unvorstellbar langweiligen Anfängerjobs zu arbeiten, nicht mehr genügend Geld auf der Bank hatte, um mir Secondhand-Unterwäsche zu kaufen. Wenn ich an Geld wollte, würde ich irgendetwas verkaufen müssen. Mein Laptop und meine Kunstutensilien bedeuteten mir zu viel, als dass ich sie hergegeben hätte, und davon abgesehen besaß ich nicht viel auf dieser Welt außer einer Reihe leicht exzentrischer Kleider, die ich in den Secondhandläden unserer Gegend abgestaubt hatte, und ausreichend Haarschaum, um einer ganzen Bisonherde Irokesenschnitte zu verpassen. Ich war allerdings noch im Besitz eines anderen Vermögenswertes: einem Speicher voll echter Michael Vickers-Gemälde. Nachdem mein Vater gestorben war, wäre es mir nicht im Traum eingefallen, eins seiner Bilder zu verkaufen. Hätte ich allerdings gewusst, dass er seinen eigenen Tod nur vorgetäuscht hatte, um mich und meine Mutter verlassen zu können, hätte ich fröhlich jede einzelne der kostbaren Leinwände im Tausch gegen eine Tüte Popcorn oder Chips in einen Automaten gestopft. Ich war gerade oben im Atelier meines Vaters und sah seine Bilder durch, als mein Handy klingelte. Es war Emma. Ich stürzte mich auf das Telefon. »Emma! Ist dein Dad …?« »Ja, er ist okay.« Ich spürte die Erleichterung in meinem ganzen Körper. »Ich habe ihm erzählt, dass die Wohnung desinfiziert wird und ihn in ein Motel umgesiedelt.« »Gott sei Dank!« Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter. Wie immer im Atelier meines Vaters suchten mich die Erinnerungen heim: der Geruch von Ölfarben und Terpentin, das Sonnenlicht, das in den Marmeladengläsern glitzerte, in denen er seine Pinsel aufbewahrt hatte, die kleinen Tuben mit Farben, die nur Künstler kennen: Kobalt-Chromit-Grün, Kadmium-Gelb, Chinacridon-Rot . Und natürlich auch die Erinnerung daran, wie ich meinen Vater gefunden hatte, als er mit ausgestreckter Hand und kalter grauer Haut tot auf dem Boden lag, die Lippen Mangan-Blau verfärbt. »Was machst du gerade?« fragte Emma. Eine Reihe von Gemälden meines Dads war an der Wand gestapelt, einige davon schon gerahmt und abgeschlossen, andere noch auf der bloßen Leinwand. Ich ging sie eines nach dem anderen durch, weil ich nach welchen suchte, die ich verkaufen konnte. »Ich putze das Haus«, sagte ich zu Emma. Ich dachte, das klang besser als »Ich beklaue Tote.« »Putzen? Du?« »Super, danke!« Bei einem Ölbild mit Schmuckreiher, das mein Vater ein paar Monate vor seinem vorgetäuschten Tod gemalt hatte, hielt ich an. Auf eine Robert Bateman-Art war es ziemlich gut. Ich stellte es zu den Bildern, die ich möglicherweise verkaufen konnte. »Hast du eine Idee, wie ich zu Geld kommen könnte?« »Dir einen Job suchen vielleicht?« »Theoretisch ein guter Plan, scheint aber bei mir nicht zu funktionieren.« Emma seufzte. »Ein paar Dollar kann ich dir vielleicht leihen. Wofür brauchst du sie denn?« Um dich nie wieder zu sehen. »Och, für nichts Besonderes.« »Für Farben, stimmt’s? Ich weiß, Ölfarben sind nicht billig, aber dahinter steckt Geld«, sagte Emma. »Ich hab ein bisschen recherchiert. Ehrlich, Cathy, es ist eine Kapitalanlage. Du musst bereit sein, in dich selbst zu investieren. Such dir einen Zulieferer im Netz, und dann kaufe ich dir ein paar hochwertige Ölfarben.« »Emma, du hast doch auch kein Geld!« »Wir zahlen mit Kreditkarte.« »Du H ASST aber Schulden«, sagte ich. »Es sei denn… wart mal. Auf welche Kreditkarte willst du das laufen lassen?« »V ISA«, sagte sie strahlend. »Das mein ich nicht. Läufst du etwa in der Gegend rum und belastest Tsaos Karte mit deinen Ausgaben?« »Nein! Absolut nicht … Trotzdem … er braucht das Geld ja jetzt nicht mehr«, sagte sie missmutig. »Hat Pete dir das eingeredet?« Ich stellte fest, dass mein Handy einen ganz eigenen Kanal nur für die Übermittlung unendlicher Verachtung besaß. »Ob Pete versucht hat mir etwas einzureden?« »Schon gut. Vergiss es.« Sollte es Emma jemals auf ein kriminelles Leben abgesehen haben, dann nur aufgrund ihrer ganz persönlichen Entscheidung und indem sie den Markt mit einem bösartigen Business-Plan und einer allumfassenden Tabellenkalkulation beherrschte. »Bleibst du heute Nacht wieder auf der Moonshine?« Die Moonshine war das kleine Segelboot, auf dem Pete lebte; das mit der Hängematte, aus der Emma kopfüber herausgefallen war, um in den Tag zu starten. »Ja, ich glaube schon. Victor hat übrigens Pete angerufen. Sie versuchen rauszukriegen, was Urahn Lu’s Computerfreaks mit Victors Geld angestellt haben.« Emma musste ihr Gesicht jetzt vom Hörer abgewandt haben, denn ihre Stimme klang plötzlich gedämpft und wie aus weiter Ferne. »Wie kommt das?« Pete setzte zu einer ausführlichen Antwort an und ich schaltete innerlich ab; Computersprache ist wie eine Fremdsprache für mich, selbst wenn ich nicht versuche, ihr nur so nebenbei zu folgen. Ich stellte ein paar weitere Bilder auf die Seite, wobei ich mich hauptsächlich an schön gerahmte Ölbilder hielt – ein paar Goldzeisige, eine Schleiereule, die wie in Nahaufnahme gemalt war, um den Fokus auf die den Eulen eigenen psychotischen Augen zu setzen, und ein Rotschwanzbussard, daneben noch ein älteres Gemälde mit farbenfrohen Wirbeln und Spritzern aus Dad’s expressionistischer Periode. Es gab auch ein paar Arbeiten aus einer merkwürdigen Phase, die thematisch in den 30er Jahren angesiedelt war. Eines davon war eine Kampfszene: Zwei Boxer, die in einem Ring aufeinander losgehen und von Zuschauern beobachtet werden, die mit langen Mänteln und weichen Filzhüten aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise gekleidet sind. Wenn ich es genau bedachte, war es natürlich auch möglich, dass es sich gar nicht um ein Genrebild handelte; soweit ich wusste, hätte mein Dad es auch 1931 malen können. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er damals gelebt hatte: wie er, genauso aussehend wie heute, nur mit Wollanzug und Schlapphut bekleidet, jemanden auf einem dieser altmodischen Candlestick-Telefone anrief, bei denen man wählen musste statt auf Tasten zu drücken. Keine Computer. Kein Fernsehen. Jedes neue Zeitalter musste den Unsterblichen wie ein Bühnenbild vorkommen, dachte ich: wie ein Diorama in einem Museum oder eine Jahrmarktsattraktion. Nichts sah nach einer Weile mehr modern aus, weil man ja wusste, jede zeitgemäße Mode, jeder neue Haarschnitt würde schon in wenigen Jahren altmodisch, überholt, vergessen sein. Ich fand noch ein weiteres Gemälde aus der Depressions-Phase: eine schäbig aussehende Imbissbude mit Neonlichtern im Außenbereich und einem Trinkwassersprudler hinter dem Tresen, eine Szene, die in einer regnerischen Nacht in irgendeiner großen Stadt eingefangen worden war. In der Imbissbude saß ein Handelsreisender mit schäbigem Aktenkoffer auf einem roten Vinyl-Hocker; er trank langsam an seinem Kaffee und rauchte seine Zigarette wie ein Mann, der kein Zuhause hatte. »Cathy?« »Oh, sorry, Emma. Was hast du gesagt?« »Ich habe gesagt, wenn es nicht Victor war, der diese Kerle heute Morgen ausgeschaltet hat, dann muss es dein Vater gewesen sein.« »Niemals!« Ich kniff die Augen halb zusammen und versuchte mir vorzustellen, wie mein Vater gegen eine Gruppe von angeheuerten Killern angetreten war. Die Vorstellung war absurd. Einen verwundeten Vogel in einen Schuhkarton legen und ihn darin gesund pflegen – ja. Das war mein Vater. Aber ein Mörder? Keine Chance. »Du tust immer noch so, als wäre er irgendein Mann mittleren Alters, der gerne Vögel malt«, sagte Emma. »Aber er ist ein Unsterblicher, Cathy. Du weißt genau, dass er in Kriegen gekämpft haben muss. Er war Konquistador, erinnerst du dich?« Sie hatte Recht. Ich hatte sogar Skizzen aus dieser Zeit gefunden, fünfhundert Jahre alte Zeichnungen von Pflanzen und Tieren aus der Neuen Welt, die er angefertigt hatte, als er gezwungen worden war, mit Ponce de Leon auf die Suche nach dem Jungbrunnen zu gehen. »Er war aber kein Soldat. Er war nur Reiseführer.« »Vielleicht zu dieser Zeit. Aber jeder Mann, der so lange gelebt hat, hat Menschen getötet, Cathy. Victor hat in vielen Kriegen gekämpft und dein Dad ist Hunderte von Jahren älter als er.« »Nein, ich glaube einfach …« »Gut möglich, dass er zusammen mit Washington den Delaware überquert hat«, sagte Emma unerbittlich. »Oder dass er auf ihn in einem roten Mantel gewartet hat, vorausgesetzt, er war klug genug, auf der richtigen Seite zu sein«, fügte sie in ihrem britischsten Akzent hinzu. Wenn Victor kämpfte, wandte er immer den Trick an, die Zeit langsamer werden zu lassen und seine Feinde gewissermaßen als Standbild zu töten. Es war grauenhaft, sich auch meinen Vater so vorzustellen, aber natürlich war auch er zu diesen Dingen fähig. Vielleicht hatte er ja tatsächlich die angeheuerten Killer wie zerbrochene Puppen unter meinem Fenster liegen lassen. »Er ist unsterblich, Cathy.« »Das heißt … menschliches Leben bedeutet ihm nicht sehr viel.« »Das habe ich nicht gesagt!« »Aber ich.« Emma seufzte. »Du wirst alles in einem besseren Licht sehen, wenn du ein bisschen geschlafen hast.« »Emma?« »Ja?« Danke. Sagte ich nicht. Wenn ich gewusst hätte, dass ich verschwinden würde, dann hätte ich dir gesagt, wie viel mir deine Freundschaft bedeutet hat. Ich hätte dir gesagt, dass ich immer schon gewusst habe, dass du besser bist als ich – dass du nicht nur klüger, sondern auch ein besserer Mensch bist als ich, tougher und viel prinzipientreuer. Ich hätte dir gesagt, dass du öfter Rot tragen solltest und versucht, dir klar zu machen, wie hübsch du aussehen kannst, wenn du einfach mal lächelst. Aber jetzt ist es zu spät. Wenn du deine erste Million machst, werde ich nicht da sein. Ich werde nicht auf deiner Hochzeit tanzen und keine albernen Bildchen für super süße Emma-Babies malen. Du hast so viel mehr verdient, als ich dir gegeben habe. Ich habe immer gedacht, ich hätte genügend Zeit, um mich eines Tages zu revanchieren, um dir zu beweisen, dass du alles andere als eine Dreingabe in der Cathy Show gewesen bist. Du bist die Haupt-Attraktion gewesen. »Cathy? Bist du noch dran?« »Entschuldige, ja. Bin noch da.« »Was wolltest du gerade sagen?« »Ach, nichts Wichtiges.« Ich musste auflegen, bevor sie merkte, dass ich weinte. »Eigentlich nur … auf Wiedersehen.« Hinauf in die Stille Eine halbe Stunde später war Mom eingeschlafen und ich fuhr einmal um die South Bay herum, unterwegs zu den Galerien, die am ehesten Dads Bilder kaufen würden. Ich hatte mir überlegt, es als erstes bei Grant’s in Mountain View zu versuchen, weil sie am besten zahlten. Danach wollte ich die High Sierra Galleries in Palo Alto anpeilen, anschließend noch ein paar weitere, die mehr in Stadtnähe lagen. Mit ein bisschen Glück sollte es mir eigentlich gelingen, ein paar hundert Mäuse abzustauben. Es wurde wieder ein heißer Tag. Eine dünner Aschefilm hatte sich über Nacht auf das Auto gelegt und die Luft roch immer noch nach Rauch. Ich hielt an einer Tankstelle, um die Scheiben zu wischen. Anschließend schaltete ich das Radio ein, das mir von nun an statt meiner Freunde Gesellschaft leisten würde, aber ich kannte keines der Lieder. Es war seltsam, sich vorzustellen, dass ich in nur einem Tag schon vielleicht nie mehr mit Emma sprechen, nie mehr mein Haus sehen, nie mehr mit meiner Mom streiten würde. Was ich tat, war richtig, um ihrer und um meiner Sicherheit willen, aber N I E M EHR war ein Begriff, der schwer nachvollziehbar war. Ein Teil von mir wollte immer noch daran glauben, dass ich nur ein paar Wochen, einen Monat oder zwei ins Exil gehen musste, aber das war reines Wunschdenken. Urahn Lu war nicht einfach ein mächtiger Gegner, er war unsterblich. Es war undenkbar, sein Ende abzuwarten. Wenn man ein ganz normales menschliches Mädchen mit billigem Make-up und schlecht sitzendem Haar ist, dann kommt einem die Ewigkeit sehr sehr lang vor. Ich fühlte mich einsam, benommen und wie betäubt. Die Stadtteile, in denen ich mein ganzes Leben lang umhergefahren war, erschienen mir merkwürdig fremd und ich verfuhr mich zweimal auf dem Weg zu Grant’s. Ständig hatte ich das Gefühl, dass sie die Straßennamen geändert haben mussten, aber zweifellos waren sie noch genauso zwischen ihre Gehwege gebettet wie eh und je. Ich war die Fremde geworden. Ich fühlte mich seltsam abgekoppelt, als wäre ich meinem eigenen Leben so entglitten wie ein Jahrmarktluftballon der Hand eines Kindes. Schwerelos und einsam trieb ich einer Zukunft entgegen, die so blank und leer war wie der Himmel. Ich stieg hinauf in die Stille.
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