Orchester 811 812 b. Literatur V. Helfert, F. V. Míča, Prag 1925 A. Buchner, Hudební sbírka E. Troldy (Die Musikslg. von E. Trolda), ebd. 1954, 21 E. Tomandlová, Sepolcra J. I. Linka (Die Sepolcri des J. I. Linek), Diplomarbeit ebd. 1958 (mschr.) J. Bužga, Die Gattungen des Musiktheaters in den böhm. Ländern im 17. Jh., in: Kgr.Ber. IMS Ljubljana 1967, Ljubljana/Kassel 1970, 126-133 Ders., Einige Quellen zur Gesch. der Osteror. in Prag und Brno (Brünn) und der Ostermelodramen aus Olomouc (Olmütz) im 18. Jh., in: De musica disputationes Pragenses, Bd.1, Prag 1972, 151171 Ders., Die Volksmusik im Zeitalter des Barock in den böhm. Ländern, in: Kgr.Ber. IMS Berkeley 1977, Kassel u.a. 1981, 39-45 W. Reich, J. D. Zelenka, Dresden A. Das Orchester I. Herleitung und Begriffsbestimmung Das Wort Orchester stammt aus dem Griechischen (zur Etymologie 씮 Orchestra I.; zur Begriffsgeschichte im Überblick s. M. Staehelin 1981). In der Antike bezeichnete es den halbrunden Tanzplatz des Chores vor der Szene des Theaters (proskenion), später ganz allgemein die Bühne. Durch Tacitus ist die identische Bedeutung auch für das spätrömische Theater gesichert; in diesem Sinn wird es z.B. zu Beginn des 7. Jh. von Isidor von Sevilla benutzt: »Orchestra autem pulpitus erat scenae« (Etymologiae sive origines XVIII, S. 44). Während des Mittelalters ging der Begriff verloren. 1589 gebraucht Th. Arbeau den Wortstamm erstmalig wieder im Titel seines Werkes über die Tanzkunst, Orchésographie (Langres 1589). Die Ansicht (s. RiemannL), der Terminus Orchester sei bei der Wiederbelebung der antiken Tragödie zu Ende des 16. Jh. auf den Raum übergegangen, läßt sich nicht belegen. Die Anwendung des Begriffs Orchester in diesem Sinne ist erst für die Zeit nach 1700, und zwar nur für den deutschen Bereich, gesichert. Joh. Mattheson formuliert in seinem Neu-eröffneten Orchestre (Hbg. 1713, S. 34): »Nachdem aber in den neuern Zeiten das parterre nicht mehr wie vor Alters der vornehmste Platz geblieben [...] so hat man den Ort, harte vors Theatre, wo die Herren Symphonisten ihre Stelle haben, mit dem Namen Orchestre oder Herren-Sitz beehren wollen«. Die Verwendung des Wortes im modernen Sinn ist Mattheson ungeläufig. Der im Titel drei seiner Lehrschriften begegnende Terminus »Orchestre« (nicht »Orchester«, wie häufig angegeben), nach Mattheson »eine noch nicht sehr gemeine . . . Expression«, ist als Terminus generalis zu verstehen, welcher »beides Kirchen- und Theatral- so-wol Vocal- als InstrumentalMusic begreiffen möchte«. Dieser enzyklopädische Sinngehalt des Wortes ist nur für Mattheson zutreffend. In seinem Musicalischen Patrioten von 1737 (S. 125f.) wird das Wort Orchestra auch im antiken Sinne als Raum definiert. In dieser Bedeutung ist die Definition von WaltherL (1732) und auch Johann Heinrich Zedler (Großes vollständiges Universal-Lexicon. . ., Bd. 25, Lpz. und Halle 1740 Sp. 1751) übernommen worden: »Jetziger Zeit heisset derjenige Platz die Orchestra, wo die Musicanten sitzen, und auf ihren Instrumenten spielen, wenn eine Oper abgesungen, oder ein Ball gehalten wird«. Selbst um die Jahrhundertmitte hat sich der Begriff Orchester im modernen Sinne noch nicht allgemein durchgesetzt. Während ihn z.B. Joh. J. Quantz (1752) und C. Ph. E. Bach (Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Bln. 1762, S. 316) bereits als bekannt voraussetzen, gebrauchen ihn Theoretiker wie Joh. A. Scheibe, L. Mizler, Fr. W. Marpurg (1757) und selbst J. Adlung (1758) noch nicht. Auch in Italien läßt sich die Bezeichnung im 17. Jh. nicht nachweisen. J. Peri nennt im Vorwort zu Euridice (1600) nur Einzelinstrumente, auch G. Caccini kennt keinen zusammenfassenden Ausdruck. M. Gagliano spricht im Vorwort zu La Dafne (1608) von den »concerti di voci e di strumenti«, ähnlich wie A. und G. Gabrieli (Vdg. 1587) ihrer Drucksammlung den Titel »Concerti [ . . . ] per voci, & stromenti musicali..« gaben. Immer noch ist aber mit diesen Benennungen das Zusammen- und Gegeneinanderwirken von Einzelinstrumenten gemeint. Wie es den Anschein hat, ist das Wort Orchester im modernen Sinne erstmalig in Frankreich angewendet worden. Im März 1683 findet sich im Mercure galant eine Wendung, die hierfür der früheste bekannte Beleg ist: »Le Manche des Theorbes de l’orchestre cache toujours quelque chose la veüe«. Daß hier nicht der Raum, sondern das Instrumentalkorpus gemeint ist, beweist die etwas spätere unmißverständliche Formulierung des Abbé Fr. Raguenet (P. 1702, S. 104), wo es heißt: »Pour moi, la première fois que j’entendis l’Orchestre de nôtre Opéra«. Hier ist wirklich zum ersten Male der Klangkörper in seiner Gesamtheit bezeichnet. Während in Band 11 der von Denis Diderot herausgegebenen Encyclopédie (1765, S. 578) das Orchester traditionsgemäß noch als die »kleine dürftige Versenkung vor dem Theater« bezeichnet wird, definiert J. J. Rousseau in seinem Dictionnaire (Bd. 2, 1768, S. 6771) den Begriff bereits im heute geläufigen Sinn als feste Vereinigung 1985, 29. Zu VIII. (vgl. auch zu III.b.) T. Livanova, Sovetskaja tema v novych kantatach i oratorijach (Das sowjetische Thema in den neuen Kantaten und Or.), in: Sovetskaja muzyka 1950, H. 3, 14-23 A. Chochlovkina, Sovetskaja oratorija i kantata (Sowjetische Or. und Kantaten), M. 1955 I. Remezov, Kantaty i oratorii Šaporina (Die Kantaten und Or. Šaporins), M. 1960 R. Zechlin, Gedanken zum Kantatenund Oratorienschaffen in unserer Republik, in: MuG 11, 1961, 206-209 G. Roncaglia, L’arte di L. Perosi e »La strage degli innocenti«, in: Chigiana 22, 1965, 237-253 G. Massenkeil 1970 (s. zu III.a.) O. Söhngen, Die Renaissance der KM. in der ersten Hälfte des 20. Jh., in: W. Wiora (Hrsg.), Religiöse Musik in nichtliturgischen Werken von Beethoven bis Reger, Rgsbg. 1978, 257-275 W. Schwinger, Penderecki. Leben und Werk, Stg. 1979 I. Konson, O nekotorych stilističeskich osobennost. jach oratorii »Lenin v serdce narodnom« i »Poetorija« R. Ščedrina (Zu einigen stilistischen . Besonderheiten der Or. »Lenin v serdce narodnom« und »Poetorija« von R. Šče drin), in: Muzykal’nyj sovremennik 1979, H. 3, 172-181 A. Sochor, Muzykal’naja dramaturgija vokal’no-simfoničeskich proizvedenij Sviridova (Die mus. Dramaturgie in den vokal-sinfonischen Werken von Sviridov), in: dass. 1979, H. 3, 146-171 D. Möller, J. Cocteau und I. Strawinsky. Unters. zur Ästh. und zu »Oedipus Rex«, Hbg. 1981 (= Hamburger Beitr. zur Mw. 24) H. D. Voss 1983 (s. zu III.b.: A. Honegger) M. Nyffeler, Kl. Huber: »Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet«, in: Melos 46, 1984, 17-43 I. Stoianova, L. Berio. Chemins en musique, in: La Revue musicale 1984, Nr. 375-377 (Sonderheft) Beitr. zur Gesch. des Or. seit Händel 1986 (s. zu III.a.) P. Csobádi/G. Gruber u.a. (Hrsg.), Antike Mythen im Musiktheater des 20. Jh., Anif/Salzburg 1990 R. Schuhen 1990 (s. zu III.b.: Fr. Schmidt) O. Kolleritsch (Hrsg.), Die Musik Luigi Nonos, Wien 1991 (= Studien zur Wertungsforschung 24) V. S. Stegmann, Das epische Musiktheater bei Strawinsky und Brecht, N.Y. 1991 D. P. De Venney, American Choral Music Since 1920, Berkeley/Cal. 1993 S. Walsh, Stravinsky: Oedipus rex, Cambridge 1993 C. Lehnigk, P. Hindemiths Or. »Das Unaufhörliche«. Kritische NA und Werkgesch., Diss. Bonn 1994 S. Banfield (Hrsg.), The Twentieth Century, Oxd. 1995, 402-430 (= The Blackwell History of Music in Britain 6) J. P. Hiekel, B. A. Zimmermanns ›Requiem für einen jungen Dichter‹, Stg. 1995 (= BzAfMw 36) Fr. Reininghaus, Mit Geigen und Granaten. »Requiem der Versöhnung« von H. Rilling in Stg. uraufgeführt, in: NZfM 1995, H. 5, 70 W. Motz, Konstruktion und Ausdruck. Analytische Betrachtungen zu »Il Canto sospeso« (1955/ 56) von L. Nono, Saarbrücken 1996 L. Lauer, Creatio ex nihilo – Das sowjetische Oratorium, in: Fs. T. Kneif, hrsg. von H.-W. Heister u.a., Hbg. 1997, Dr.i.Vorb. S. Leopold/U. Scheideler (Hrsg.), Metzler Oratorien- und Chormusikführer, Dr.i.Vorb. günther massenkeil juliane riepe dorothea mielke-gerdes ulrich leisinger martin geck frank reinisch barbara mohn jaroslav bužga hans åstrand lucinde lauer christian thorau Orchester inhalt: A. Das Orchester. I. Herleitung und Begriffsbestimmung. – II. Historische Entwicklung. – III. Zusammensetzung. – IV. Besetzungen. – V. Organisation. 1. Solo- und Ripieno-Spieler. 2. Kapellmeister, Konzertmeister, Musikdirektor. 3. Probenarbeit. – VI. Aufstellung. – VII. Neuere Entwicklungen. – B. Das außereuropäische Orchester. I. Definition. – II. Formen und Funktionen des orchestralen Zusammenspiels. Orchester 813 814 von Instrumentalisten zu einem Klangkörper: »Aujourd’hui ce mot s’applique plus particulièrement à la musique, & s’entend . . . tantôt de la collection de tous les Symphonistes: c’est dans ce dernier sens que l’on dit de l’exécution de musique que l’Orchestre étoit bon ou mauvais, pour dire que les Instrumens étoient bien ou mal joués«. Für die ältere Zeit bedeutet das Fehlen eines die Ganzheit des Instrumentalkorpus charakterisierenden Terminus keinen Mangel; es kennzeichnet vielmehr das ganz anders geartete Klangbewußtsein: Nicht das Ganze, sondern das Einzelne wurde empfunden und bezeichnet (›Spaltklang‹). Auch J. B. Lullys Musiker wurden offiziell nicht als Orchester bezeichnet, sondern noch traditionsgemäß Les 24 violons du roi genannt (씮 Kapelle III.; als analoge Erscheinung in London ist die King’s band zu erwähnen). Mit der Übertragung der Bezeichnung Orchester auf eine größere Vereinigung von Instrumentalisten kündigt sich zugleich ein neues Hören an: Nicht mehr die Summe der Einzelinstrumente, sondern die Ganzheit des orchestralen Klanges steht im Mittelpunkt des Bewußtseins (›Schmelzklang‹). Auf die Bedeutung, die die gleichschwebende Temperatur (씮 Stimmung und Temperatur) für diesen Prozeß hatte, kann hier nur verwiesen werden. Wenn im populären Sprachgebrauch »jede Vereinigung einer größeren Zahl von Instrumental-Spielern« (RiemannL) als Orchester angesprochen wird, so trifft diese Definition lediglich ein äußerliches Merkmal. Eine große Anzahl sich zusammenfindender und gemeinsam musizierender Instrumentalisten ist noch kein Orchester. Darüber, wie der Begriff Orchester zu definieren ist, herrscht in der Literatur keine einheitliche Meinung. Die Uneinheitlichkeit der Gegebenheiten und der Praktiken in den verschiedenen Zeitepochen bilden hierbei eine der Schwierigkeiten. Ohne Anspruch auf allgemeine Geltung wird im folgenden für die Zeit etwa ab 1700 unter Orchester verstanden: Eine verhältnismäßig zahlreiche und nach Gruppen (Streicher, Holz- und Blechbläser, Schlagzeug) geordnete Vereinigung von Instrumentalisten, die institutionell und hierarchisch gegliedert ist, in der normalerweise mindestens einige Stimmen mehrfach besetzt sind, deren ›Kern‹ das Streichquartett zuzüglich Kontrabaß bildet und der in der Regel ein musikalischer Leiter (zumeist ein Kapelloder Konzertmeister) vorsteht. In der Geschichte des Orchesters stellen die Jahre von 1700 bis 1850 einen ziemlich klar begrenzten, zusammenhängenden Zeitraum dar. Um 1700 ist die Entwicklung vom instrumentalen Ensemble zum Orchester – vollzogen durch zunehmende Gruppenbildung der Instrumente, Bevorzugung der Streichinstrumente und Festlegung von Instrumentarium und Ausführung – weitgehend abgeschlossen (씮 Kapelle III.). Damit verbunden war eine schwerwiegende und tiefgreifende Umdisponierung des Instrumentalkorpus. Die Buntheit und Besetzungsvielfalt verlor an Interesse, um einem genormteren Klang zu weichen. In der zentralen Gruppe der Streichinstrumente kam bis zum letzten Drittel des 18. Jh. den Baßinstrumenten in Verbindung mit einem Tasteninstrument (Cembalo, Orgel) eine besondere Bedeutung zu. Um 1850 sind schließlich die Verhältnisse ›innerhalb‹ des Orchesters gefestigt (s. hierzu u.a. R. Wagner 1849, Ausg. 1872). Bis zu diesem Zeitpunkt hat sich in Organisation, Instrumentarium und Besetzung eine Norm herausgebildet, die später durch den Wegfall des Generalbaßinstrumentes geringfügig verändert wird. Die Gruppe der Holzund Blechbläser gewann an Selbständigkeit in Folge zunehmender Erweiterung und Differenzierung des musikalischen Satzes und der Instrumentation, nicht zuletzt auch wegen der technischen Weiterentwicklung des Instrumentariums. Im 20. Jh. wurde vor allem die Schlagzeuggruppe durch Hinzunahme neuer Instrumente erheblich erweitert (neu ist auch die Verwendung elektronischer Instrumente in der Musik des 20. Jahrhunderts). Die Beibehaltung der Bezeichnung Kapelle (z.B. Meininger Hofkapelle, Dresdner Staatskapelle) für ein Orchester hat ausschließlich lokaltraditionelle Gründe. Wie unterschiedlich das Orchester im Verlauf der Jahrhunderte eingeschätzt wurde, spiegeln die musikalische Berichterstattung und die Musikkritik wider. Im 18. Jh. druckte man mit Vorliebe Orchester- bzw. Besetzungslisten ab, nannte die führenden Musiker der einzelnen Orchester und ihre besonderen Fähigkeiten, gab biographische Hinweise, kurz, man sah ein Orchester gleichsam als eine Vereinigung von Einzelspielern an, von denen die meisten zugleich auch als Solisten eingesetzt werden konnten. Dagegen wurde das Orchester im 19. Jh. zunehmend als eine Gesamtheit dem Einzelnen, dem Virtuosen, entgegengesetzt. Es wurde in der Folgezeit mehr und mehr als Kollektiv aufgefaßt, dessen Mitglieder weitgehend anonym waren. Ab 1829 wird z.B. in der AmZ das Orchester in Besprechungen nur noch als Ganzes genannt; etwa ab 1837 tritt an die Stelle differenzierter Aussagen über Orchester die Angabe von Konzertprogrammen. II. Historische Entwicklung Das Orchester ist historisch durch die Funktionen, die es innerhalb der Gesellschaft zu erfüllen hat, verschiedenen Bereichen zugeordnet. Diese – oft nicht scharf gegeneinander abgegrenzt, sondern sich eher überschneidend – sind im wesentlichen folgende: Hof, Kirche, Stadt und Militär, oder allgemeiner der höfische und der außerhöfische Bereich. Der spätere Übergang vom höfischen in den bürgerlichen Bereich vollzieht sich zeitversetzt im 19. Jh., vorbereitet durch eine Anzahl von ›Dilettanten-Vereinen‹ in größeren Städten. Nun trat die ›Öffentlichkeit‹, d.h. vornehmlich eine aus dem Adel (besonders aus dem niederen, z.B. im Offizierskorps vertretenen Adel) und dem Bürgertum zusammengesetzte Gesellschaft, an die Stelle des Hofes. E. Hanslick beschreibt die Entwicklung folgendermaßen: »Auf die Blütenzeit (!) der fürstlichen Capellen folgte die eigentliche Periode der Dilettanten-Concerte. Die Aristokratie theilte ihr Musikprivilegium mit dem gebildeten Mittelstand, den bürgerlichen Kunstfreunden, und trat es bald vollständig an Letztere ab« (Gesch. d. Concertwesens in Wien, Wien 1869, S. 53; 씮 Konzertwesen). Nahezu parallel dazu verlief die Entwicklung zum reinen Berufsorchester, wie wir es heute kennen. Die zunächst noch mitwirkenden Dilettanten zogen sich immer mehr zurück; sie mußten ausgebildeten, fachlich geschulten Kräften weichen. Auch dieser Vorgang war um 1850 abgeschlossen. Ebenfalls weitgehend abgeschlossen war die Umstellung der Orchester auf eine einheitliche Stimmung nach den Stimmtonkonferenzen in Stuttgart 1834 bzw. in Paris 1858, wobei erhebliche Kosten durch die Neuanschaffung insbesondere der Blechblasinstrumente entstanden. An den Höfen wurde die Musik als ein notwendiger Bestandteil einer Hofhaltung angesehen. Dies macht Veit Ludwig von Seckendorff (1626-1692) in dem Abschnitt Von Bestellung und Verfassung einer Fürstl. und dergleichen Hof=Statt seines Werkes Teutscher Fürsten-Staat (1656, zitiert nach Aufl. Genua 1754, 3. Theil. S.630) deutlich: »So gehöret auch so wohl zum gottesdienst, als fürstlicher belustigung bey den mahlzeiten, tänzen, aufzügen und comödien, eine music von stimmen und instrumenten, da darzu ein capell=meister, Hofcantor, und so viel personen, als zu bestellung der vocal= und instrumental=music nöthig, wie auch trompeter und heerpaucker, unterhalten werden«. Zu den Standardsymbolen eines Hofstaates gehörte nicht zuletzt eine möglichst hohe Qualität des Orchesters. Dabei wußte man durchaus zwischen großen und kleinen Residenzen zu unterscheiden. Zahlreiche ›Privatkapellen‹ wurden etwa in den fürstlichen und gräflichen Häusern Wiens im 18. Jh. gehalten so wie die »ganz aus Konzertisten bestehende [ . . . ] Privatkapelle« des Kaufmanns Bernard in Offenbach, die Ende 1799 aufgelöst wurde (s. AmZ 2, 1799, Sp. 239.) Der Unterschied zwischen großen und kleinen Residenzen machte sich vor allem in Besetzung und Größe der Hofkapellen bemerkbar. Läßt man die Hoftrompeter und -pauker außer acht, so kann man jede Art von Besetzung, vom einfachen Streichquartett bis hin zum großen Orchester, antreffen. Hatte an den kleinen Residenzen das Orchester den gesamten Musikdienst zu versehen, so stand an den großen Residenzen für den Dienst in der ›Kammer‹ – Orchester 815 816 d.h. für die ›privaten‹ Bedürfnisse des Regenten und seines engeren Hofstaates – in der Regel eine kleine Gruppe von besonders qualifizierten Musikern (›Kammermusiker‹) zur Verfügung. Ein weiterer Unterschied zeigte sich in der personellen Zusammensetzung und im Anstellungsmodus der Musiker: Nur große Residenzen konnten sich ein eigens der Hofmusik zur Verfügung stehendes Personal leisten; in kleinen und auch in mittleren Hofhaltungen waren höchstens die Kapellmeister und die Konzertmeister oder besonders tüchtige Instrumentalisten als Hofmusiker angestellt. Die übrigen Mitglieder dieser Hofkapellen standen in doppelter beruflicher Funktion: Entweder waren sie musikalische Lakaien oder Lakaiendienste verrichtende Musiker; auch mit anderen Hofämtern wurden sie bisweilen betraut. Im allgemeinen war es ferner üblich, die Hofkapellen durch Stadtmusikanten, Militärmusiker (Oboisten sowie Trompeter und Pauker) und – zumindest bis zu Beginn des 19. Jh. – auch durch Liebhaber zu verstärken. Die Aufgaben, die von Hoforchestern oder von einzelnen ihrer Gruppen, z.B. den Bläsern, erfüllt werden mußten, waren überaus vielfältig (Dienst in der Kirche, bei der Tafel, in der ›Kammer‹, im Konzert, in Oper und Schauspiel, bei festlichen Gelegenheiten; bei Serenaden, Unterhaltung und Tanz; Begleitung auf Reisen etc.). Der Nachwuchs für diese Orchester wurde häufig ›vor Ort‹ ausgebildet, wobei die Altersgrenze verhältnismäßig niedrig lag (Hofmusici im Alter von 16/17 Jahren waren keine Seltenheit). In späterer Zeit kamen zum Wirkungsbereich Benefiz- und Abonnementskonzerte hinzu, die die Orchester in eigener Regie und in eigenem Interesse, sei es zugunsten einer ›Wittwen- und WaisenKasse‹, eines ›Pensionsfonds‹ oder einzelner Musiker, durchführten. Zusätzlich zu diesen Diensten konnten die Orchestermusiker schließlich freiwillig bei Konzertveranstaltungen mitwirken. Die musikalischen Vorführungen des Hoforchesters – von Konzerten im eigentlichen Sinne kann man wohl für die damalige Zeit noch kaum sprechen – dienten in der Regel der Unterhaltung. Unter welchen Bedingungen Kapellmeister und Orchester gelegentlich musizieren mußten, schildert L. Spohr anschaulich in seinem Bericht über die Konzerte bei der Herzogin von Braunschweig (s. Selbstbiographie, Bd. 1, Kassel/Gtg. 1860, S. 11): »Diese Hofconcerte bei der Herzogin fanden in jeder Woche ein Mal Statt und waren der Hofkapelle im höchsten Grade zuwider, da nach damaliger Sitte während der Musik Karten gespielt wurde. Um dabei nicht gestört zu werden, hatte die Herzogin befohlen, daß das Orchester immer ›piano‹ spiele. Der Kapellmeister ließ daher Trompeten und Pauken weg und hielt streng darauf, daß nie ein ›forte‹ zur Kraft kam. Da dies in Symphonien, so leise auch die Kapelle spielte, nicht immer ganz zu vermeiden war, so ließ die Herzogin auch noch einen dicken Teppich dem Orchester unterbreiten, um den Schall zu dämpfen. Nun hörte man das ›ich spiele, ich passe‹ u. s. w. allerdings lauter, als die Musik«. War das höfische Orchester bis gegen Ende des 18. Jh. fest im Hofverband verankert, so begann mit dem 19. Jh. das Bestreben der Orchester, Veranstaltungen in eigener Regie und zum eigenen Nutzen durchzuführen. Öffentliche Konzerte der Hofkapellen wurden, unter welchen Namen sie auch immer veranstaltet wurden – ob als Konzert, Akademie, Symphonie-Soirée, Abonnementskonzert u.a. –, zur Selbstverständlichkeit. Ein zentraler Gesichtspunkt war für die Musiker bei all ihren Bemühungen die Frage der Alters- und Hinterbliebenen-Versorgung. Die Reingewinne dieser Konzerte wurden daher in entsprechende Kassen eingezahlt, aus denen die Mitglieder eines Hoforchesters selbst und ihre Familien bei Invalidität oder Tod versorgt wurden. Auch der Gedanke, durch diese Konzerte eine musikalische Bildung zu vermitteln, begann, vor allem um die Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Rolle zu spielen. Außer dem Hof verfügten das Militär und die Städte über Gruppen von Musikern, die ein Orchester bilden konnten: Die ›Hautboisten‹ und die Stadtmusikanten. Beide Gruppen standen in enger Verbindung sowohl zum Hof als auch zum Bürgertum; sie wurden zu einem Bindeglied zwischen diesen gesellschaftlichen Bereichen. Die Hoforchester rechneten bis ins 19. Jh. hinein mit einer Unterstützung durch die Militärmusiker (Spohr mußte beispielsweise auf etwa Zweidrittel der Orchestermusiker verzichten, als der Kurfürst im Herbst 1850 seine Residenz von Kassel nach Hanau verlegte). Für Städte ohne Hofhaltung konnte das Fehlen von Militärmusikern (d.h. vor allem der Blasinstrumente), nicht zuletzt im Hinblick auf die Unterstützung von Liebhaberorchestern, zum Problem werden. Die zunftmäßig organisierten Ratsoder Stadtmusikanten nahmen zwischen Hof und Stadt einen wichtigen Platz ein. Bis zur Mitte des 18. Jh. war es keine Seltenheit, daß in städtischen Diensten stehende Musiker an kleinen Residenzen zugleich als Hofmusiker tätig waren (so z.B. in Arnstadt, Schwerin, Schleswig etc.; s. hierzu auch Art. Stadtmusikus, in: H. Chr. Koch, Musikalisches Lexikon, Ffm. 1802: ». . .wie auch viele derselben, die sich durch Genie und Geschicklichkeit auszeichnen, als Mitglieder der Hofkapellen angenommen werden. . .«; zu großen Opernaufführungen am Stuttgarter Hof wurden z.B. die Stadtmusikanten von Esslingen und Leonberg mit ihren Gesellen zur Mitwirkung verpflichtet). Den Stadtmusikanten kam außerdem eine besondere Bedeutung bei der Ausbildung des Musikernachwuchses zu. Mancher spätere Hofmusiker hatte sein ›Handwerk‹ in einer Stadtpfeiferei erlernt (vgl. den Lebenslauf von Quantz). Das enge Zusammenwirken von Hof- und Stadtmusik lokkerte sich im Laufe des 19. Jh. zunehmend und fand schließlich ein Ende. Bei sogenannten ›Liebhaberkonzerten‹ wirkten Orchester in verschiedenster Zusammensetzung (Berufsmusiker, Dilettanten etc.) mit, wobei der Begriff lediglich als eine Verständigungsmarke für die Vielfalt der Erscheinungsformen musikalischer Veranstaltungen steht, die außerhalb des engeren höfischen Bereichs stattfanden und für jedermann, meist gegen entsprechende Bezahlung, zugänglich waren. Während in den Residenzen ein stehendes und in der Regel gutes Orchester für die Produktionen von Opern zur Verfügung stand, finden sich bei den reisenden Theater- und Operntruppen die unterschiedlichsten Lösungen, die von der Überlassung der Hofkapelle bis zu eigens von den Truppen engagierten Orchestern reichen. Hier konnten ebenfalls wiederum Stadt- und Militärmusiker mitwirken, gelegentlich sogar selbst das Orchester stellen (z.B. in Schwerin, s. Cl. Meyer, Gesch. der Mecklenburg-Schweriner Hofkapelle, Schwerin 1913). Im 19. Jh. bildete sich neben den institutionalisierten Orchestern eine Anzahl von ›Privatorchestern‹ heraus, bei denen der musikalische Leiter zugleich auch der ›Unternehmer‹ war. Hierzu gehören z.B. die Orchester von Joh. Strauß (Vater), Jos. Gungl (1843 in Berlin und 1864 in München), Carl Liebig (1843 in Berlin), Ph. Musard (Paris um 1835, Concerts-Musard) u.a., die Konzerte und ›Tanzunterhaltungen‹ in eigener Regie, aber zu wesentlich günstigeren Eintrittspreisen veranstalteten, was sich auf die Zusammensetzung des ›Publikums‹ auswirkte. Die Einkommen der Musiker dieser Orchester waren mindestens denjenigen der etablierten Orchester gleichgestellt, lagen zum Teil sogar darüber. Ausdrücklich wird erwähnt, daß sich diese Orchester vor allem auch der ›zeitgenössischen Musik‹ verstärkt annahmen (z.B. Signale für die mus. Welt 5, 1847, S. 138). Orchester wurden häufig auch aus besonderen Anlässen, meist in großen Besetzungen, zusammengestellt (Reichstage, Kaiserkrönungen, Amtsantritte, Geburtstage, Hochzeiten, Benefizkonzerte und vor allem Musikfeste insbesondere des 19. Jh.). Höfische und kirchliche Feste wurden seit jeher zum Anlaß genommen, um eine Vielzahl von Instrumentisten zusammenzuführen (z.B. O. Benevolis Einweihungsmesse für den Salzburger Dom 1628). Die umfangreiche Besetzung des Orchesters bei den Akademien der 1771 in Wien gegründeten TonkünstlerSocietät – Vorläuferin der 1812 gegründeten Gesellschaft der Musikfreunde – , einer Vereinigung von Berufsmusikern, rührt daher, daß jedes Akademiemitglied zur Mitwirkung bei den Konzerten verpflichtet war (hieraus erklärt sich z.B. die außergewöhnlich starke Orchesterbesetzung, von der Mozart dem Vater in einem Brief vom 11. April 1781 [s. Mozart,
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