In seinem beriihmten Essay "The Outsider"

EINLEITUNG
bOON VON HORVATH: ErN 'GEBORENER OUTSIDER'
In seinem beriihmten Essay "The Outsider" beschreibt Colin
Wilson den Outsider wie folgendermaBen:
because he stands for Truth"
1
"He is an Outsider
und dann weiter:
"For the
Outsider, the world is not rational, not orderly.
When he
asserts his sense of anarchy in the face of the bourgeois'
complacent acceptance, it is not simply the need to cock a
snook at respectability that provokes him; it is a distressing
sense (that truth must be told at all costs), otherwise there
can be no hope for an ulti~ate restoration of order. Even if
there seems no room for ho?e, truth must be told .
Outsider is a man who has 2wakened to chaos.
... The
He may have no
reason to believe that chaos is positive, the germ of life ... i
inspite of this, truth mus-=: be told, chaos must be faced." 2
(hervorgehoben
~on
mir)
Horvath ist durchaus im Si-~e Wilsons ein AuBenseiter, der des
durnrnen, kitschigen und des liignerischen Lebens gewahr geworden
ist, und deshalb in der Randbemerkung zu seinem Volksstiick
'Glaube Liebe Hoffnung' der. Zweck seiner schriftstellerischen
Tatigkeit wie folgt formuliert:
"Ich habe nur zwei Dinge, gegen
die ich schribe das ist die Dummheit und die Luge. Und zwei
wofur ich eintrete, das ist die Vernunft und die Aufrich1:igkeit.
Meine Absicht ist also das Leben zu zeigen, und das Leben ist
kitschig. Und zwar nicht nur in seinen Sprachen und XuBerungen,
-ii-
sondern sogar die GefUhle der Menschen sind verkitscht, das
heiBt sie sind verniedlicht und verfi:ilscht. Aus Bequemlichkeit ... ,,3
Auf diese Stelle aus der Randbemerkung wird spi:iter nochmalsvielleicht mehrere Male- einzugehen seini hier dient sie,
Horvath als einen Outsider darzustellen, der die Unordnung des
Lebens in ihrer Totalitat sieht und absolut keine Moglichkeit
sieht, sich in irgendeiner Weise mit ihr zu identifiziereni ihm
ist die sogennante Ordnung, die sogenannte VernUnftigkeit des
Lebens total fremd. Und es ist dieses totale Beobachten und
deshal~blehnen
dessen, was ist, und wie
es ist, das ihn zu
einem totalen Outsider macht.
Aber rein politisch geographisch gesehen ist sein Leben auch ein
ewiges Hin und Her. Er hat keine Heimat und sieht die Unsicherheit einer Heimatlosigkeit durchaus positiv an:
"Sie fragen
mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume
geboren, bin in 'Belgrad, Budapest, Pre Bburg, Wien und MUnchen
aufgewachsen und habe einen ungarischen PaB- aber:
"Heimat"?
Kenne ich nicht. Ich bin eine typisch alt-6sterreichischungarische Mischung: magyarisch, meine Muttersprache ist deutsch.
Ich spreche weitaus am besten Deutsch, schreibe nunmehr nur
Deutsch, geh6re also dem deutschen Kulturkreis an, dem deutschen
Volke. Allerdlngs: der Begriff 'vaterland', nationalistisch
gefalscht, ist mir fremd.
~ein
Vaterland ist das Volk. Also,
wie gesagti Ich habe keine Heimat und leide natlirlich nicht
darunter, sondern freue mich meiner Heimatlosigkeit denn sie
-iii-
befreit mich von einer unnotigen Sentimentalitat." 4 Es ist
diese Heimatlosigkeit, die bei seiner Auseinandersetzung mit
seiner Wirklichkeit, bei seiner Analyse der Anatomie einer
kollektiven Psyche am Rande einer totalen Annahme des Faschismus,
den Outsider Horvath irnrner begleitet.
Horvath schreibt - diesmal Uber seine Generation -
: "Meine
Generation ist bekanntlich sehr miBtrauisch und bildet sich ein,
keine Illusionen zu haben. Auf aIle FaIle hat sie bedeutend
weniger als diejenige, die uns herrlichen Zeiten entgegengeflihrt
hat. Wir sind in
de~
glUcklichen Lage, glauben zu dUrfen,
illusionslos leben zu konnen. Und das dUrfte vielleicht unsere'
einzige Illusion sein. rch weine dem alten osterreich- Ungarn
keine Trane nacho Was morsch ist, 5011 zusarnrnenbrechen, und
icn morsch, wUrde ich selbst zusarnrnenbrechen und
i~h
wa~e
glaube,
ich wlirde mir keine Trane nachweinen." 5 (hervorgehoben von mir)
"Mein Leben beginnt mit der Kriegserklarung. Und es widerfuhr
mir das groBe GlUck erkennen zu dUrfen, daB die Ausrottung der
nationalistischen Verbrechen nur durch die vallige Umschichtung
der Gesellschaft ermoglicht werden wird ...
~orauf
es
an~?mmt
ist die Bekampfung des Nationalisrnus zum Besten der Menschheit.,,6
(hervorgehoben von mir)
In der autobiographischen Notiz (GW. Bd. 5, S.8) bekommen
wir eine weitere Einsicht in das weltbild dieses Heimatlosen,
der, obwohl seine Muttersprache Deutsch war, den ersten
-iv-
deutschen Satz erst mit vierzehn Jahren schrieb:
"Wahrend
meiner Schulzeit wechselte ich viermal die Unterrichtssprache
und besuchte fast jede Klasse in einer anderen Stadt. Das
Ergebnis war, daB ich keine Sprache ganz beherrschte. Als ich
das erste Mal nach Deutschland kam, konnte ich keine Zeitung
lesen, da ich keine gotischen Buchstaben kannte, ... ,,7 Man kann
sich vorstellen - oder vielleicht gar nicht -, wie unsicher
die Struktur eines solchen Weltbildes gewesen sein muB, das
standig anders artikuliert werden muBte. Kein Wunder, das eine
Kindheit wie die Horvaths und das spatere stets Hinundherreisen
wahrend seiner Exilszeit dazu beigetragen haben, daB er an
nichts - weder an Vaterland, Heimat, an eine bestimmte Ideologie,
eine bestimmte Philosophie oder an eine bestimmte Traditiongebunden war, und frei sein konnte von jeglicher Bindung: .
"Wir hatten verroht, fuhlten weder Mitleid noch Ehrfurcht. Wir
hatten weder Sinn fur Museen noch die Unsterblichkeit der See Ie und als die Erwachsenen zusammenbrachen, blieben wir unversehrt.
In uns ist nichts zusammengebrochen, denn wir hatten nichts.,,8
(hervorgehoben von mir) Wir hatten bislang nur zur Kenntnis
genommen. "Wir haben zur Kenntnis genommen - und werden ·.nichts
vergessen.
~ie.
Sollten auch he ute einzelne von uns das
Gegenteil behaupten, dennsolche Erinnerungen konnen unbequem
werden, so lligen sie eben."
Damit solI ein weiterer Gesichtspunkt angeschnitten werden
der fur unsere Beschaftigung mit dem Werk Horvaths von
Bedeutung
sE~in
wird, namlich: Horvaths Weltbild ist ein immer
-v-
gegenwartiges. Sein literarisches Schaffen ist keine
Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, sondern eine
mit seiner unmittelbaren Gegenwart, mit dem ewigen 'jetzt'. Es
ist, als ob man hineingeworfen ware in das 'jetzt' des Lebens
und nicht anders konnte, als das wahrzunehmen, was ist.
(Jean-Claude Francois macht in:
Horvath in der Geschichte"
"HorvAth und die Geschichte -
(Sprachkunst, 1989, S. 154) die
interessante Bemerkung, daB bei Horvaths Werk die Abwesenheit
der mythologischen Themen auffallt, obwohl seine Zeitgenossen wie Brecht, Hasenclever - diese zu diversen Zwecken benutzten.)
Dieter Hildebrandt
infor~iert
in seiner HorvAth-Monographie
tiber die Kindheit Horvaths: Fiume, wo Horvath am 9 Dezember
1901 geboren wurde, ist eine "Hafenstadt an der Adria, das
heutige Rijeka, geh0rte camals zur ungarischen
Reichsh~lfte
des
Konigreiches Kroatien une Slavonien. Horvaths vater stammte aus
Slavonien und gehorte dec ungarischen Kleinadel an. Das 'Horvath'
hinter dem 'T' des NamenE
Horv~th
signalisiert im Ungarischen
das Adelspradikat. Dr. Gc5n Josef von Horvath war im diplomatischen Dienst und damals dem ungarischen Gouverneur von Fiume
unterstellt. Die Mucter, Maria Hermine von
Hvrv~th,
geborene
Prehnal, kam aus einer ungarisch-deutschen k.u.k. Militararztfamilie." 9 1909 wird Horvaths Vater nach Mtinchen versetzt;
der Achtjahrige wird jedoch nach Budapest zurtickgeschickt, wo
er frtiher
b~i
einem Hauslehrer Privatunterricht gehabt hatte
und besucht dort das Erzbischofliche Konvikt.
1913 kommt er
-v±.-
dann
nach Mlinchen zu seinen Eltern. In Munchen besucht er
das Kaiser Wilhelm Gymnasium, wo er sich als ein fleiBiger
Schuler erweist und "in den meisten
F~chern
bei anerkennens-
wertem FleiBe genugende Fortschritte erzielte". 10 Seine
Oeutschkenntnisse, besonders hinsichtlich der Gramrnatik und
Orthographie, werden als 'unsicher' bezeichnet, wobei seine
Leistungen 'an der Grenze des Genugens' gefunden werden. 1916
wird Horvath auf eine ungarische Schule nach PreBburg geschickt
- wie Hildebrandt schreibt -, "weil er .•• sich nicht recht der
Oisziplin unterwerfen wollte. Selbst als Flinfzehnjahriger solI
Horvath angefangen haben, "mit einem groBen Fuller, mit hellblauer Tinte ... auffallend schnell in seine Schulhefte (zu
schreiben)"
11
Er las aus seinen 'Werken' vor, sprach ungarisch mit einem
deutschen Akzent und weigerte sich, sich irgendeinem Zwang
zuunterwerfen. Oas Gefuhl, daB er als AuBenseiter geboren war,
scheint Horvath von Anfang an begeleitet zu haben. Ohne Freiheit
konnte er nicht leben, auch als Jugendlicher nicht. Oiese
Freiheit druckte sich in seinem Orang zum Schreiben, Sichausdrucken
wollen, aus. Horvath machte sich bei seinem Religionslehrer
unbeliebt, berichtet Hildebrandt, bei seinem Geschichtslehrer.
aber auch. Oer spatere Hauptgedanke in dem Werk Horvaths, daB,
wenn man uberhaupt unzufrieden ist mit seiner Situation und sie
deshalb
~ndern
will, man mit sich selbst anfangen muS; sich
selbst erkennen muB, erwachen muS zu seinem eigenen Chaos,
-vii-
findet seinen ersten Niederschlag in einer kleinen Skizze
dieses Jugendlichen, die sich mit 'einer neuen Holzgewinnungsmethode' befaBt und die sich auf den biblichen Satz sttitzte:
'Du siehst den Splitter im Auge des Nachsten, aber den Balken
im eigenen nicht!' Hildebrandt schreibt darliber:
"Die Pointe
bestand darin, den Balken im eigenen zu bemerken, herauszunehmen,
zu zerhacken und zu verwerten."
12 Dies legt Hildebrandt
als Horvaths Talent zum Epigrammatischen, zur kurzen pointierten
Form, wie er sie bald darauf in den Sportmarchen pflegen
sollte." 13
Am Ende des Ersten weltkriegs befindet sich
Horva~h
mit seiner
Familie in Budapest, schlieBt im darauffolgenden Jahr sein
Abitur in Wien ab und zieht 1919 mit seinen
Elter~
wo er sich an der Universitat immatrikulieren
laB~
nach Mlinchen,
und sein
Germanistikstudium anfangt.
Oiese Mtinchener Zeit Horvaths stellt nach
Horvaths Bruder Lajos zitiert, eine
Hildebr~ndt,
der
mer~Ntirdige M~schung
von
produktiver sowie zerstorerischer Energie in diesem jungen
Schriftsteller dar. Einerseits sehen wir einen un'jeduldigen
Orang zum Sichausdrlicken, andererseits ist aber die Unzufriedenheit mit dem Ausgedrticketen so groB, daB der Ausdruck so fort
vernichtet wird. Der ProzeB des Suchens hatte angefangen; jene
Reise, die den Suchenden auf den Weg zur
sollte, wobei der einzige Wegweiser
d~e
Selbster~ennung
fiiliren
schonungslose
Beobachtung des Seienden sein wtirde. Spater sollte Horvath
-viii-
in der Pandbemerkung zu seinem "Glaube Liebe Hoffnung"
schreiben: "Wie in allen meinen StUcken versuchte ich auch
diesmal, moglichst rUcksichtslos gegen Dummheit und LUge
zu sein, denn diese RUcksichtslosigkeit dUrfte wohl die
vornehmste Aufgabe eines schongeistigen Schriftstellers
darstellen, der sich manchmal einbildet, nur deshalb zu schreiben,
damit die Leut sich selbst erkennen. Erkenne dich bitte selbst!
(hervorgehoben von mir) Auf daB du dir jene Heiterkeit erwirbst,
die dir deinen Lebens- und Todeskampf erleichtert, indem dich
namlich die liebe Ehrlichkeit gewiB nicht
~ber
dich (denn das
ware Einbildung) , doch neben und unter dich stellt, so daB du
dich immerhin nicht vcn droben, aber von vorne, hinten, seitwarts und von drunten betrachten kannst!" Dieses stete Beobachten
bildet den roten Faden, der durch Horvaths ganzes Werk durchlauft; und deshalb wirj auf diese SchlUsselstelle aus der
Randtemerkung ofters
Die zufallige
z~rUckzugreifen
Bekannts~haft
Kallenberg bietet
Hor~th
"dichterischen Mission"
sein.
mit dem Komponisten Siegfried
die allererste Gelegenheit, mit seiner
15
einen Anfang zu machen. Er
entscheidet sich, auf Kallenbergs Aufforderung hin, fUr ihn eine
Pantomime zu schreiben, seinem "eigentUmlichen Orang", etwas
zu schre iben, nachzuger.en, und den Gedanken, daB er "doch
eigentlich Schriftstel:er werden" konnte, zu verwirklichen.
Furcht vor offentlicher Meinung kennt er nicht, denn es ist ihm
eiqentlich gleichgUltig, "was die Leute Uber (ihn) denken"; und
-ix-
so kommt die Pantomime "Das Buch der Tanze" im Jahre 1920
zustande. Am 7. Februar 1922 wird sie in Mlinchen gelesen,
spater am 20. Februar 1926 in Osnabrlick szenisch aufgeflihrt.
Nach der Lesung in Mlinchen ist die Reaktion absolut negative
Das Werk wird als eine "Schmach" bezeichnet.Horvath laBt sich
dadurch aber nicht storen. 1926, jedoch, nach der Aufflihrung,
kauft er mit Hilfe seines Vaters samtliche Exemplare des Werkes
auf, versucht durch allerlei Mittel all existierenden Exemplare
zu bekommen, urn diese zu vernichten. Die schonungslose Aufrichtigkeit ist sehr frlih am Werk, sie kennt keine Skrupel,
auch sich selbst gegenliber nicht.
"Was morsch ist, soll zusammen
brechen, und ware ich morsch, wlirde ich selbst zusammenbrechen,
und ich glaube, ich wlirde mir keine Trane nachweinen." 16.
Der Kampf gegen jede Art von Heuchelei unterscheidet nicht
zwischen dem Innen und dem AuBen; der ganzheitliche Blick
unterwirft beide Bereiche einer genauen Prlifung.
Ende 1924 kommt Horvath mit seiner Familie nach Berlin, jener
Stadt, die Heinrich Mann "Menschenwerkstatt" genannt hat. 17
In der autobiographischen Bemerkung "Flucht aus der Stille
(GW Bd. VIII S. 657-658) erklart Horvath namlich den Grund,
weshalb er nach Berlin gezogen ist. Die GroBstadt biete ihm
mehr Eindrlicke, er konne dort mehr und wichtigeres sehen fUr
seine Zeit als auf dem Lande.
Gleichzeitig anerkennt Horvath die Unentbehrlichkeit der
materiellen Seite des schriftstellerischen Lebens. Als
-x-
Schriftsteller konne man nicht auf dem Lande leben, sondern
nur in der Stadt; nur Berlin sei in der Lage, einem freien
Schriftsteller eine Existenz anzubieten. Er liebt Berlin.
"Die Sportmarchen", die am 21. November 1924 in "BZ am Mittag"
erscheinen, stellen die ersten Versuche dieses jungen
Schriftstellers dar, in Berlin PuB zu fassen. Nach Hildebrandt
ist der Standort dieser Sportmarchen im Werk Horvaths
ve~-
gleichbar mit der Stellung der 'Geschichten von Herrn Keuner'
im literarischen Schaffen Brechts.
Es ware nicht fehl am Platze, hier den kurzen Text des Sportmarchens 'Start und Ziel' zu wiedergeben (Er ist bei Hildebrand
namlich auch zu finden, obwohl mit einer etwas anderen
Interpretation-) und eine kleine
Interpretatio~
weil wir meinen, daB dieser Text in Horvaths
zu versuchen,
'~nders'-artigen
Denkens vielleicht eine Einsicht bieten konnte.
Manchmal plaudern Start und Ziel miteinander.
=5
sagt das Ziel:
"Stande ich nicht hier - war-est du =iellos!"
Und der Start sagt:
"Das ist schon richtig; doch denke: ware ich ziellos was dann?"
"Ras ware mein Tod".
Da lachelt der Start:
"Jaja - so ist das Leben, Herr vetter!"
Das Marchen fangt mit der eitelen Ignoranz des Zieles, das
die
Notwendigkei~
der beiden Zusarnmengehorigkeit libersieht.
Der Start ist sich dagegen ihrer gegenseitigen Abhangigkeit
bewuBt. Aus dem !1archen geht hervor, daB, wenn 'Ton einem Spiel die
-xi-
Rede sein 5011, die Regeln des Spiels, seine besondere
Strukturalitat respektiert werden werden mUssen. Fehle entweder
der Start oder das Ziel, so wUrde die Struktur des Spiels
zusarnrnenbrechen.
Oiese Einsicht in das Wesen des Spieles wird bei Horvath
tibertragen auf das Leben an sich, das einzig und allein in
Beziehungen sich vorstellen laBt. Ich existiere als ein Ich
lediglich in einer Vielzahl von Ich-Ou, Ich-Es etc. Beziehungen.
Oas Chaos, zu dem der AuBenseiter aufwacht, beruht letzten
Endes auf einem brutalen und rUcksichtslosen Egoismus des
Einzelnen, der sich als eine von den anderen Mitmenschen unabhangig existierende
Entit~t
auffaBt und anfangt, den Anderen
ffu" seine egoistischen Zwecke, fUr die ErfUllung jener " asoz ialen
Tr:ebe", von denen Horvath in seiner Gebrauchsanweisung schreibt
G\'l
(1~.
Sd., VIII, S. 661) auszubeuten. Oas ERwachen zu diesem
Chaos heiBt, aufzuhoren, den Anderen als Mittel zum eigenen
Zweck zu gebrauchenj jene falsch betonte Trennung aufzuheben,
ni:::ht theoretisch, sondern im eigenen Inneren j. zur eigentlichen
Orenung zu gelangen. Hatten beide - Start und Ziel - auf
Trennung statt Zusarnrnengehorigkeit bestanden, hatte es nur Chaos
gegeben, das der Wirklichkeit des Spieles und der zwischenmer.schlichen Beziehungen ihren Tod versprechen hatte.
Mar.
konnt~
argumentieren, daB die Metapher sich auf die
Menschheitsgeschichte - samt ihren Mann-Frau-, Mensch-Natur-,
Mensch-Tier-. bis auf den kolonialen Diskurs hin - Ubertragen
13.=.t.
-xii-
Vermag ihre Lekture "aIle vertrautheiten unseres Denkens
(aufzurutteln)?, des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes,
das aIle geordneten Oberflachen und aIle Plane erschuttert, die
fur uns die zahlenmtiSige Zunahme der Lebewesen klug erscheinen
lassen und un sere tausendjtihrige Handhabung des Gleichen und
des Anderen (du Mime et de l'Autre) schwanken laSt und in
Unruhe versetzt!" 19
Diese metaphorische Trennung des Ich und des Du, die Varianten
der Unmoglichkeit bzw. der Moglichkeit ihrer Aufhebung, durchziehen das ganze Werk Horvaths, das ein Umdenken des Denkens
akzentuiert. Das, was es verlangt, ist - im Colin Wilsonischen
Sinne - eine Redefinition der Religion:
"The first step in
redefining religion is to knock some of the fungus off the old
values, and try to discern their shapes as they existed for the
men who made them."
20
Diese 'andere' Religiositat ist verbunden nach Colin Wilson
mit clem Problem der Identittit des Outsider: "Who am I? - This
is the Outsier's final problem. Well, who precisely is he? 'Man
is a bourgeois
~ompromise;
a half-way house. But a half-way
house towards what? The superman? ..• "
21
.
Auf der Suche nach Selbsterkennung gestaltet Horvath, der
Outsider, in seinen Werken verschiedene Outsiderfiguren, deEen
drei wir im Laufe dieser Arbeit naher kennenlernen werden. Diese
stellt Horvath im Zusammenhang mit seinen SpieBertypen dar,
deren Identat, urn mit Colin
folgt aussieht:
~Vilson
sie zu beschreiben, wie
-xiii-
"An increasing point, this; for what is identity? These men
travelling down to the City in the morning, reading their
newspapers or staring at advertisements above the opposite
seats, they have no doubt who they are. Inscribe the placard
in place of the advertisement for corn-plasters, Eliot' lines:
We are the hollow men
We are the stuffed men
Leaning together
Newman (Wilson is refering here to J.H. Newman's Apologia)
confirmed that, when he looked at the world, he c?uldn't see
the slightest evidence for
t~e
existence of God.
are in prison: that is the
O~tsider's
( ... ) These men
verdict. They are quite
contented in prison - caged a.nimals who have never known freedom.
And the Outsider? He is _n a prison too ... but he knows
His desire is to escape.
a prison-break is not an
Bu~
it~
e~sy
matter; you must know all about your prison, otherwise you might
spend years in tunneling,
li~e
the Abbe in The Count of Monte
Cristo, and only find yourse::"£ in the next cell.
( . .:...:.1 (hervor- ,-,
gehoben von mir)
The Outsider's first business is to know himself." 22
Wilson beschaftigt sich u.a. mit Gurdjeffs BewuBtseinsanalyse
in dem Kapitel 'Breaking
~he
Circuit' und beschreibt seine
'dritte BewuBtseinsstufe' als einen 'anderen' Beobachtungsakt:
"To express it in the Outsider's way: we identify ourselves
with our personalities; our 1dentities are like the pane of a
-xiv-
window against which we are pressed so tightly that we cannot
feel our seperateness from it.
SelfremembeE~ng
is like standing
back (hervorgehoben von mir), so you can see 'yourself'
window pane) and
(the
the outside world, distinct from 'you'."
23
Diese objektive Beobachtungskunst (J. Krishnamurti) flihre zur
Selbsterkenntnis des Outsider durch einen ProzeB der 'Entbindung':
(Wilson zitiert hier Gurdjeff):" (Man) is attached to everything
in his life; attached to his imagination, attached to his
stupidity, attached even to his suffering
SUFFERING
more than anything else.
attachment.
'POSSIBLY TO HIS
He must free himself from
Attachment to things, identification with things
keeps alive a thousand 'I's in a man. These 'I's must die
in order that the big I may be born.
But how can they be
made to die? ... It is at this point that the possibility
of awakening
comes to the rescue.
To awaken means to realize
one's nothingness, that is, to realise one's complete and
absolute helplessness ... So long as a
at himself, he knows
no~hing
ma~
is not horrified
about himself."
24
(hervorgehoben
von mir)
Dies Gewahrwerde- des eigenen Selbst, wie es ist, ist eng
verbunden mit Aufrichtigkeit, fur die Horvath sich einsetzt,
und ist nach Whitehead Religion seIber:
(Wilson zitiert
\,o,Jhitel"ead in "Religion and the Rebel", London, 1957,
s.
308)
"Religion is force of belief cleansing the inward parts. For
this reason the primary religions virtue is sincerity, a
-xv-
penetrating sincerity ... Religion is the art and the theory
of the internal life of man ... " 25
DaB eine solche Religionskonzeption eine Sensibilitat - und
nicht Religion als Institution - impliziert, bringen des
Philosophen, J. Krishnamurtis Diskurse hervor:
"Do you know
what it is to be religious? It has nothing to do with temple
bells, though they sound nice in the distance, nor with Pujas,
nor with the ceremonies of the priests and all the rest of the
ritualistic r.onsense.
to reality.
To be religious is to be
se~sitiye
Your total being - body, mind and heart - is
sensitive to beauty and to ugliness, to the donkey tied to a
post, to the poverty and filth in this town .. , From this
sensitivity for the whole of existence springs goodness, love;
and without that sensitivity there is no beauty
tiber die Sensibilitat des Geistes schreibt Krishnamurti etwas,
was auf Horvath zutrifft:
"A mind that does not belor:g to any
nation, group or society, that has no authority, that is not
motivated by ambition or held by fear - such a mind i3 always
flowering in love and goodness.
Because it is in the movement
of reality, it knows what beauty is; being sensitive to both
the ugly and the beautiful, it is a creative mind, it has
limitless understanding." 27
Fur Krishnamurti ist die Suche nach Whahrheit die einzig wahre
Religion, und daB ein solcher nach Wahrheit suchender Geist
-xvi-
gleichzeitig ein Outsider ist, betont Krishnamurti weiter:
"The search for truth is true religion, and the man who is
seeking truth is the only religious man.
Such a man, because
of his love, is outside of society, and his action upon society
is therefore entirely different from that of the man who is
in society and concerned with its reformation.
can never create a new culture.
The reformer
What is necessary is the
search of the truely religious man, for this very search brings
about its own culture and it is our only hope.
search for truth gives an explosive creativeness
You see, the
to the mind,
which is true revolution, because in this search the mind is uncontaminated
by the edi=ts and sanctions of society.
Being free
of all that the religious man is able to find out what is true;
and it is the discovery
0:
what is true from moment to moment
that creates a new cultur2."
28
Eine ahnliche Hoffnung au= eine andere Kultur drlickt das
Gedicht Horvaths aus, das auf einer Zigarettenschachtel in
seinem Mantel gefundeu wu=de, als er starb:
Und die Leute .erden sagen
In fernen blauen Tagen
Wird es einmal recht
Was falsch ist und was echt
Was falsch ist, wird verkornrnen
Obwohl es heut regiert.
Was echt ist, das soll komrnen Obwohl es heut krepiert. 29
In den folgenden drei Kaplteln werden wir versuchen, auf die
hier hervorgehobenen Themen naner einzugehen. Diese drei
Kapitel stellen ein 2Ll'lnliches Aufbauprinzip dar, das sie jeweils
-xvii-
in zwei Teile einteilt. Der erste Teil ist ein 'Close-Reading'
des Textes, wahrend der zweite 'Der Text irn Kontext' betitelt
ist, und der diverse Lesearten des jeweiligen Textes libersichtlich zu prasentieren bernliht ist.
Urn an Horvaths kurze Bernerkung, die er seinern Ewigen SpieBer
(Bd. 12 der flinfzehnbandigen Werkausgabei a.a.O. S. 131)
vorausschickt, vorsichtig etwas "herurnzubasteln":
liEs 5011 nun versucht werden, irn Laufe der nachsten Seiten,
einige Beitrage zurn Mechanisrnus Horvaths Religiositat zu
liefern. Der Verfasser wagt natlirlich nicht zu hoffen, daB
er durch diese Seiten ein gesetzrnaBiges Weltgeschehen beeinfluBen konnte, jedoch
imrnerhin.~
-xviii-
ANMERKUNGEN
1. Wilson, Colin: The Outsider", London, 1956 (1963), S.
23.
2. Ebd., S. 2 5
3. Materialien zu Odon von Horvaths 'GLH', Hrsg von T. Kriscke,
Frankfurt/M; 1973, S. 75
4. Gesammelte Werke (Achtbandige Werkausgabe Hrsg. von T.
Krischke u. D. Hildebrand, Frankfurt/M; 1972, Bd. 5, s.
9)
vgl. Carl Arnerys: "An der grunen Isar - Ein Versuch tiber
O.V.H". In: Materialien zu O.v.Hs. Kasimir und Karoline;
Hrsg. von T, Krischke S. 8 - "Ja, in gewissem Sinne war er
der geborene Emigrant ... Eines ist allerdings vollstandig
richtig: Warme irgendeines Mutterbodens hat O.v.H nirgends
eingesaugt."
-vgl. dazu auch Benno von \·aese:
Frankfurt/M; 1981, S. 9.
"O.v.H"; Hrsg. von T. Krischke,
-vgl. auch Hansjorg Schneic:er: "Der Kampf zwischen Individuum
und Gesellschaft" In: "UbE.-r (i.v.H." Hrsg. von D. Hilderbrandt
und T. Krischke, Frankfurt/!V1; 1972(1979) S. 59. " So wenig wie
er den Vielvolkerstaat zw~schen Donau und Theiss als seine
eigentliche Heimat betracttete, so wenig hat er sich jemals
als osterreicher im stren~ nationalen Sinne geftihlt . . . . und
so war es ihm rnoglich, vo~rteilslos und ohne belastende
Bindungen einen Weg einzu5chlagen, an dessen Anfang zunachst
eine Negation steht .. "
-vgl. hierzu die Bemerkunge~ Todorovs in seinem Epilog (Die
Eroberung Amerikas - Das Froblern des Anderen" Frankfurt/M; 1982
(1985»). Diese sind fur u~seren Zusammenhang des Outsiderness.
Er spricht hier an Hand vcn Beispielen von dem 'modernen
Exilierten ' , der seinerseits fur eine Tendenz unserer
Gesellschaft steht: "Dieses Wesen, das seine oeimat verloren
hat, ohne eine neue zu finden, das in doppeltem Sinne ein
AuBenstehender ist. Der Exilant verkorpert heute am besten,
allerdings unter Verlagerung seiner ursprlinglichen Bedeutun9,
das Ideal des Hugo von St. Victor, das dieser im 12. Jh.
folgendermaBen forrn·li ierte: 'Von zartem Gemlit ist, wer seinE~
Heimat suB findet, stark dagegen jener, den jeder Boden
Heimat ist, doch nur der ~st vollkommen, dem die ganze Welt
ein fremdes Land ist' (ich, ein Bulgarer, der in Frankreich
lebt, ubernehme dieses Zitat von Edward Said, einem palastinensel
der in den Vereinigten Staaten lebt, und der hat es seinerseits
bei Erich ~uerbach qefunden, einem.Deuts-h~n im.ttirkischen E:~i~.)
(S. 294) W~e treffender k3.IU1 man die traur~g-he~tere Komple}:~tat
des sog. interkulturellen Inter-Disklirses charakterisieren?
-xix-
5 • Ebd., S .
10
6. Ebd., S.
10
7. Ebd., S. 8
vgl. dazu Jean-Claude Francois: "Horvath und die Geschichte Horvath in der Geschichte" In: Sprachkunst, 1989. insbs. die
Seiten 150-51. Er zitiert auch diese AuBerung Horvaths und
interpretiert sie als eine 'skeptische' und 'spottische'
AuBerung tiber 'die mytische Bindung zwischen Boden-GeburtRasse und Sprache-Geist-GefUhl'
vgl. dazu auch Eva Kuns: "Die Komodie des Menschen" Oder
Horvath und Ungarn. In: Sprachkunst, 1989: "Man folgte
dem Weg Horvaths ab 1933 aus Deutschland nach Ungarn auf
Schritt und Tritt. Den Weg des jungen Horvath in umgekehrterRichtung hat man lediglich registriert und zur Kenntnis
genommen, daB er in Deutschland zunachst Sprachschwierigkei te'n
hatte. DaB die Ubersiedlung von Budapest 1919-20 - via Wien,
inklusive Abitur - nach Suddeutschland seelische Konflikte
und Anpassungsschwierigkeiten hatte auslosen konnen, damit hat
man sich nicht beschaftigt." (S. 2)
Kun weist auf die gegenseitigen Klischee-vorstellungen der
europaischen Volker und fragt in diesem Kontext der soziopsychologischen Analyse Horvaths Outsiderness:
"Wie 5011
ein junger ~ann fur eines dieser Volker ein festes Zugehorigkeitsgefuhl entwickeln konnen? - Hinzukommen noch Schwierigkeitel
eine vielleicht nicht ganz akzentfreie Aussprache. All dies
verleitet viele 'Eingeborene' zu der Annahme, der andere sei
nicht nur 'fremd', sondern auch taub, blind, nicht fur voll
zu nehmen. Altosterreichische Mixturen, Mischlinge liberhaupt,
reagieren sehr empfindlich, wenn einer ihrer 'Bestandteile',
zu Recht oder auch zu Onrecht, kritisiertoder ausgelacht wird.
Als Reaktion darauf versucht man, die Ursache des MiBfallens
oder des unfreiwilligen Lacherfolgs zu verdrangen. Eine andere
Meglichkeit, seine Selbstachtung zu wahren, besteht in der
Flucht in Uberheblichkeit und Arroganz,
in eine Position
des 'vornehmen Fremden, des distanzierten Beobachters ..
1m Falle Horvaths belegen Seine Stucke und seine Prosa, die
bittere Entlarvung des deutschen Kleinblirgers als Mitlaufer
in spe, diese seine Position." (S. 3)
8.
Ebd., S. 8
9. Hildebrandt, Dieter: Horvath, Frankfurt/Mj 1975, 1978, 1981,
S. 12.
-xx-
1 o. Ebd., S. 1 6
11. Ebd., S • 20 - 2 1
1 2. Ebd., S • 2 1
13. Ebda.
14. Materialien zu GLH. a.a.O., S. 75
15. Gesamrnelte Werke in acht Banden, a.a.O., Bd. 1. S. 9
ode auch Hildebrand S. 27.
16. GW Bd. V. S. 10
(achtbandige Ausgabe)
17. GW Bd. VIII S. 657-658
18. GW Bd. VIII S. 661
19. Foucault Nicel:
20. Colin Wilson. : a.a.O. , S. 285
21. Ebd. , S. 166
22. Ebd. ,
s. 166-167
23. Ebd. , S. 28
24. Ebd. , S. 282-283
25. \'lilson Colin: "Religion and the Rebel" London. 1957, S. 308.
- Ian Huish schreibt ahnlich tiber Horvaths Wer~
" "Denn Gott ist die Wahrheit" ... this ... s-:.atement taken ,
with Horvaths own pronouncement on writing "g=gen Lu~e und
Dummheit" is the closest that he comes to def.:...ning a
religious creed. Where so many previous works had used God
as a scapegoat or a financial deus ex machine, JOG offers
a simple, unambigiuous belief in the power of truth"
(In Horvath: A Study, London, 1980, s. 91)
26. Krishnamurti, J.: Penguin Krishnamurti Reader. Ed. Mary
Lutyens, 1 964, S. 1 51
2 7. Ebd., S . 1 5 1 - 1 52
2 8 • Ebd., S.
16 4
29. GW Bd. 8
s. 688
30. GW flinfzehnbandige Werkausgabe, a.a.O., S. 131