Tödliche Strahlen? Atomgefahr oder Panikmache? Eine deutsche Studie bringt Leukämiefälle mit Kernkraftwerken in Verbindung. Eine Studie, die im Auftrag des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz erstellt wurde, sorgt für Aufregung. Ein Team von Statistikern behauptet festgestellt zu haben, dass das Krebsrisiko für Kinder unter fünf Jahren in der Nähe von Atomkraftwerken höher ist als in anderen Gegenden. Schon jetzt wird dieses Ergebnis emotional von Politikern diskutiert, Umweltminister Gabriel hält sich vorerst zurück und will die Studie prüfen lassen. Erhöhte Leukämiehäufigkeit Von den Kindern, die in den Jahren 1980 bis 2003 im Alter von weniger als fünf Jahren an Krebs erkrankt waren, lebten 77 im Umkreis von fünf Kilometern um einen Kernreaktor. 37 davon erkrankten an Leukämie. Wenn man den statistischen Durchschnitt aller krebskranken Kinder in Deutschland heranzieht, wären im fünf-Kilometer-Radius um Atomkraftwerke aber nur 48 Krebs- und 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Der Studie zufolge sind also Deutschlands Atomkraftwerke im untersuchten Zeitraum von 23 Jahren für 20 zusätzliche Leukämiefälle verantwortlich. Schwierige Statistik Obwohl verschiedene Krebsarten untersucht wurden, konnte nur bei Leukämie ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Wohnort und Erkrankungsrisiko festgestellt werden. Bei Tumoren des zentralen Nervensystems ergab sich sogar ein leicht umgekehrter Trend: Diese Tumoren waren nahe an Atomkraftwerken seltener zu finden als in anderen Gebieten. Allerdings ist es nicht möglich, aus solchen Ergebnissen verlässliche Schlüsse zu ziehen – dafür ist die Anzahl der untersuchten Krebsfälle einfach zu klein. Strahlung als Ursache? Kann Strahlung aus dem Atomkraftwerk verantwortlich für diese zusätzlichen Leukämiefälle sein? Diese naheliegende Frage kann sehr genau untersucht werden. Radioaktive Strahlung kann man zwar nicht sehen, riechen oder fühlen, es gibt aber zuverlässige Methoden sie zu messen. Die physikalische Größe, die angibt, wie gefährlich Strahlung für den Menschen ist, bezeichnet man als Äquivalenzdosis. Sie wird in der Einheit Sievert (Sv) oder Milli-Sievert (mSv) angegeben. Um die Gefährlichkeit von Atomkraftwerken einschätzen zu können, muss man sie zunächst mit anderen Strahlungsquellen vergleichen. Bei diesem Vergleich stellt sich heraus: Die Strahlung der Atomkraftwerke ist keine Erklärung für die Krebsfälle. Natürliche Hintergrundstrahlung Nicht jede Art von Strahlung wurde vom Menschen verursacht. Es gibt eine natürliche Hintergrundstrahlung, die jeder Mensch täglich aufnimmt. Im Boden, im Gestein, in der Luft – ein geringes Maß an natürlicher Radioaktivität ist immer und überall messbar. Sogar wir selbst enthalten ganz natürlicherweise Spuren radioaktiver Substanzen. Zusätzlich trifft kosmische Strahlung auf die Erde, etwa in Form von Teilchen, die uns von der Sonnenoberfläche aus erreichen. Die Äquivalenzdosis, die ein Mensch dadurch aufnimmt, kann je nach Wohnort sehr unterschiedlich sein, weil manche Bodentypen deutlich mehr Radioaktivität enthalten als andere. Im Durchschnitt liegt die Strahlungsbelastung durch natürliche Hintergrundstrahlung bei 2.4 Milli-Sievert (mSv) pro Jahr. Radon und kosische Strahlung Bei besonderen geologischen Bedingungen kann es vorkommen, dass sich radioaktives Radon in Wohnräumen ansammelt. Das Radon kann eingeatmet werden und dann zu einem erhöhten Lungenkrebsrisiko führen. Die Strahlenexposition durch Radon kann pro Jahr bei bis zu 10 MilliSievert liegen, also bei mehr als dem Vierfachen der normalen Dosis. Eine weitere wesentliche Quelle der Strahlenbelastung ist kosmische Strahlung. Sie ist in großer Höhe intensiver. Wer etwa 25 Stunden in einem Flugzeug auf der transatlantischen Nordpolarroute verbringt, muss damit rechnen, einer zusätzlichen Dosis von 0.2 Milli-Sievert ausgesetzt zu sein. Und Atomkraftwerke? Im Vergleich dazu ist die Strahlungsdosis, die durch Atomkraftwerke im Normalbetrieb ausgeht, verschwindend gering: Sie beträgt weniger als 0.01 Milli-Sievert pro Jahr. Menschen, die in der Nähe von Atomkraftwerken leben, nehmen also ein viel geringeres Maß an Strahlung auf, als Menschen, die jedes Jahr einige Stunden in Flugzeugen sitzen. Die Gegenden mit den höchsten Strahlungspegeln sind nicht die Gebiete rund um Atomkraftwerke, sondern Gegenden, in denen geologische Gegebenheiten ein höheres Maß an natürlicher Strahlung verursachen. Bomben im Kalten Krieg Andere vom Menschen gemachte Strahlungsquellen können deutlich intensiver sein: Das UNOWissenschaftskommittee schätzt, dass 1963, am Höhepunkt der Atomwaffentests während des Kalten Krieges, jeder Mensch durch die Nuklearversuche im Durchschnitt einer zusätzliche Dosis von 0.15 Milli-Sievert ausgesetzt war. Medizinische Untersuchungen wie die Computertomographie können zu einer effektiven Strahlungsdosis von mehr als 15 Milli-Sievert führen. Tschernobyl In welchem Ausmaß solche Strahlenbelastungen das Krebsrisiko erhöhen können, ist nicht vollständig geklärt. (Siehe dazu das Interview mit Martin Hillbrand von der MedUni Wien.) Akute Strahlenschäden, wie sie zum Beispiel bei den Arbeitern in Tschernobyl während des Reaktorunfalls auftraten, sind aber erst bei einer Dosis von mehreren tausend Milli-Sievert (einigen Sievert) zu beobachten. Dass radioaktive Strahlung Krebs erregen kann, ist heute unbestritten. Dass allerdings die Strahlung von Kernkraftwerken das Krebsrisiko erhöhen könnte, erscheint wissenschaftlich nicht möglich. Solange es in einem Kraftwerk keinen ernsten Störfall gibt, ist seine Strahlung viel zu gering, um statistische Auswirkungen zu haben – das bestätigt auch das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz. Welche anderen Ursachen für erhöhte Krebsraten in den untersuchten Gebieten rund um Atomkraftwerke verantwortlich sein könnten, lässt sich aus der Studie nicht ablesen. Untersuchungen über Ernährungsgewohnheiten, Reiseverhalten oder soziales Umfeld der betroffenen Familien wurden in die Statistik nicht miteinbezogen. Bei einer so geringen Anzahl von Krebsfällen sind statistische Aussagen eben nur schwer möglich. Trotzdem ist wohl zu erwarten, dass die aktuelle Studie noch oft in hitzigen Diskussionen als Argument verwendet wird. Nur keine Panik! Atomkraftwerke: Hässlich, aber selten tödlich Martin Hillbrand, ein junger Wissenschafter an der Medizinischen Universität Wien, beschäftigte sich in den letzten Jahren im Rahmen seiner Forschungsarbeit unter anderem mit Modellen zur Entstehung von Tumoren durch ionisierende Strahlung. Für im Rahmen seiner Doktorarbeit erbrachte wissenschaftliche Leistungen wurde ihm vor kurzem der Nachwuchspreis der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Physik zuerkannt. Im Gespräch mit CHiLLi erzählt er über die Gefahren, die im Zusammenhang mit ionisierender Strahlung stehen. [c] Eine aktuelle Studie im Auftrag des Deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz berichtet von erhöhtem Leukämierisiko in der Nähe von Kernkraftwerken. Ist dieses Ergebnis für Sie überraschend? [b]Martin Hillbrand:[/b] Nein, das hat mich nicht überrascht. Meines Wissens sind solche Studienergebnisse nicht neu. Ich habe zum Beispiel eine Studie aus England in Erinnerung, bei der in Zusammenhang mit der Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield auch ein erhöhtes Auftreteten von Leukämieerkrankungen festgestellt wurde. Tatsächlich gab es in Sellafield nachweisbar einen Zwischenfall, bei dem unkontrolliert Radioaktivität in die Umwelt ausgetreten ist. Ein kausaler Zusammenhang der erhöhten Leukämierate mit der Strahlung wurde zwar damals behauptet, konnte aber nach meinem Wissensstand nie stichhaltig bewiesen werden. Bei der jetzigen Studie geht es aber nicht um Störfälle, sondern um die Strahlung, die von Atomkraftwerken im Normalbetrieb an die Umwelt abgegeben werden. [c] Wie stehen Sie zur aktuellen Studie? [b]Martin Hillbrand:[/b] Ich sehe diese Studie im Zusammenhang mit ähnlichen Studien, die zum Teil ebenfalls vom Deutschen Bundesamt für Strahlenschutz in Auftrag gegeben wurden, wie ja sogar in der aktuellen Studie erwähnt wird. Immer wurde suggeriert, dass rein statistisch erhobene Fakten in kausalem Zusammenhang mit den Nuklearanlagen stehen können. Ein Modell zur Erklärung dieses Ergebnisses fehlte aber immer völlig. [c] Nach heutigem Erkenntnisstand kann also die gemessene Strahlung in der Nähe von Atomkraftwerken keine erhöhte Krebsrate erklären? [b]Martin Hillbrand:[/b] Nein. [c] Ist es für Sie denkbar, dass es schädliche Auswirkungen von Atomkraftwerken gibt, die man heute wissenschaftlich einfach noch nicht erklären kann? [b]Martin Hillbrand:[/b] Selbstverständlich muss man diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Allerdings ist der Strahlungspegel, der im Umkreis von Atomkraftwerken auftritt, sehr genau messbar, und wird – da bin ich mir sicher – von der zuständigen Behörde auch äußerst penibel überwacht. Und selbstverständlich gelten auch für die Normalbevölkerung in unmittelbarer Nähe zu einem Atomkraftwerk dieselben Grenzwerte wie für jeden anderen normalen Bürger. [c] Glauben Sie, dass diese Grenzwerte richtig bemessen sind? [b]Martin Hillbrand:[/b] Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft sind diese Grenzwerte auf jeden Fall vorsichtig angesetzt, weil die Behörde aus meiner Sicht dazu tendiert, das Worst-Case-Szenario als Grundlage für ihre Vorgaben heranzuziehen. [c] Ab welcher Strahlungsbelastung muss man mit gesundheitlichen Schäden rechnen? [b]Martin Hillbrand:[/b] Die höchstzulässige Strahlenbelastung für beruflich strahlenexponiertes Personal beträgt 50 mSv/Jahr, aber nicht mehr als 100 mSv in 5 Jahren. Diese Dosisleistung ist in jedem Fall weit unterhalb der Grenze, ab der man direkt in Zusammenhang mit der Strahlungsexposition stehende Schäden erwarten muss. [c] Bedeutet das, dass geringere Strahlungsdosen völlig unbedenklich sind? [b]Martin Hillbrand:[/b] Nein, ganz sicher nicht. Die Mechanismen, die der Entstehung von Krebs zugrunde liegen, sind bekannterweise statistischer Natur. Im Prinzip kann ein einziges Röntgenquant ausreichen, um eine DNA-Schädigung zu verursachen. Im ungünstigsten Fall wird dieser Schaden nicht repariert und hinterlässt deshalb eine mutierte, aber lebensfähige Zelle, die durch den entstandenen Schaden im Wachstum nicht mehr gehemmt wird. [c] Wie geht der Körper mit solchen DNA-Schädigungen um? [b]Martin Hillbrand:[/b] Solche DNA-Schädigungen sind nichts Unnatürliches. Sie passieren beinahe dauernd, und das nicht nur verursacht durch ionisierende Strahlung, sondern zum Beispiel auch durch Prozesse, die im Zusammenhang mit dem Zellstoffwechsel stehen. Aus diesem Grund hat uns die Evolution auch mit zahlreichen Reparaturmechanismen ausgestattet, die solcherart entstandene DNA-Schädigungen zu reparieren imstande sind. [c] Worin liegt dann die besondere Gefahr ionisierender Strahlen? [b]Martin Hillbrand:[/b] Die ionisierende Strahlung verursacht im Vergleich zu körpereigenen Prozessen eine höhere Dichte dieser DNA-Mutationen – sowohl zeitlich als auch räumlich gesehen. Diese Mutationen werden wesentlich weniger effektiv repariert. Das legt die Vermutung nahe, dass die zellulären Reparaturmechanismen mit dieser erhöhten Dichte der Mutationen einfach überfordert sind. [c] Für wie gefährlich halten Sie nun eine über Jahre andauernde Exposition mit geringen Strahlendosen? [b]Martin Hillbrand:[/b] Diese Frage ist äußerst schwierig zu beantworten, da auch die Expertenwelt in diesem Punkt noch uneinig ist. Allerdings ist es interessant, sich die Frage zu stellen, wie hoch die Strahlung im Umfeld von Atomanlagen im Vergleich zur der Strahlenexposition ist, die man beispielsweise im Zuge von medizinischen Untersuchungen freiwillig in Kauf nimmt. Eine andere Vergleichsmöglichkeit bietet die natürliche Hintergrundstrahlung. Gerade im Vergleich zur natürlichen Hintergrundstrahlung ist die durch den Menschen verursachte Strahlenbelastung – selbst im Umfeld von Atomkraftwerken – im Normalfall sehr gering. [c] Würden Sie in der Nähe eines Atomkraftwerkes wohnen wollen? [b]Martin Hillbrand:[/b] Nein, sicher nicht. [c] Warum nicht? [b]Martin Hillbrand:[/b] Das hat nichts mit der Strahlung zu tun, in meinem beruflichen Umfeld ist Strahlung etwas Alltägliches, und ich habe inzwischen großes Vertrauen in die üblicherweise vorgeschriebenen Strahlenschutzmaßnahmen gewonnen. Meine Aversion gegen Atomkraftwerke in der näheren Nachbarschaft ist rein durch ästhetische Ansprüche begründet, und natürlich auch durch die potenzielle Gefahr eines unvorhersehbaren Störfalls – aber das ist eine andere Geschichte. Verfasst und zusammengestellt von Florian Aigner TU Wien [email protected] 2007, für CHiLLi.cc
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