Keramiker Flavio Poli (1900–1984) etwa setzte bei der Firma Seguso Vetri D’Arte auf streng stilisierte, klare Formen und verarbeitete dünne Farbglasschichten unter dickwandigem Kristall. Mit den erfolgreichen Valva- und Conchiglie-Stücken griff er auf Vorbilder aus der Natur zurück. Der Grafiker, Karikaturist und Illustrator Fulvio Bianconi (1915–1996) kam 1946 durch einen Gelegenheitsjob in Kontakt mit Glas und wurde schnell zu einer der prägendsten Figuren. In Zusammenarbeit mit dem legendären Arturo «Boboli» Biasutto bei Venini & C. sorgte er in den 1950er Jahren mit den Pezzato- und Scozzese-Vasen für Furore. Für die Pezzati werden bunte Glasstücke nach gewünschtem Muster auf einer Metallplatte arrangiert, die dann erhitzt wird. Nun wird der so verschmolzene Glasteppich um einen glühenden Rohkörper aus Glas geschmolzen. Diese Grundform wird anschliessend modelliert und nachbearbeitet. Sehr viele gestalterische Varianten ermöglicht die Scozzese-Technik. Zu langen Canne (Stangen) ausgezogene Glasklumpen werden als Bänder auf transparente Glaskörper aufgebracht. Durch die Kombination verschiedener Farben und Stärken entstehen etwa an schottische Tartanstoffe erinnernde Karomuster. Ebenfalls in den 1950er Jahren sorgte Archimede Seguso (1909–1999) als Meister der Fadenglastechnik mit einer raffinierten Serie von sogenannten Merletto-Gläsern für Verblüffung, die zu den Schlüsselwerken der Muraneser Glaskunst dieser Dekade gehören. Die dazu verwendete Methode, der Länge nach aufgeschnittenes Glasstäbe als Netz über die Wandung der Vase zu spannen, gab den Fachleuten nachhaltige Rätsel auf. Segusos skulpturaler Mond leuchtet inzwischen lächelnd über der Lagune … Saluti dal West Ende der 1960er Jahre machte sich die magnetische Wirkung Muranos zunehmend auch in den USA bemerkbar. Der ursprünglich als Innenarchitekt ausgebildete Dale Chihuly (*1941) beschäftigte sich 1965 erstmals aktiv mit der Glasbläserei. Bereits 1968 folgte ein Stipendium bei Venini & C. in Venedig mit ersten Erfahrungen in einem gut eingespielten Team von Glasbläsern. Nach seiner Rückkehr nach Amerika bildete sich Chihuly in diesem Feld intensiv weiter. Bis dato hat er als Designer wie auch als Glasbläser mehr als ein Dutzend spektakuläre Serien produziert, in denen er das Material Glas in verschiedener Hinsicht auslotete. Die Baskets in den 1970er Jahren inspirierten sich an geflochtenen Körben nordamerikanischer Indianer, was die Form des einzelnen Korbes betrifft, dessen stehende Wandung stets etwas einsackt, wie auch an der Stapelbarkeit der Körbe. Die Seaforms wiederum verblüfften in den 1980er Jahren durch ihre atemberaubende Farbigkeit. Sie erreichen die Grenze der in Glas realisierbaren maximalen Dimension. Heute erreicht Chihuly mit architektonischen Installationen ein riesiges Publikum. Die im Museum Bellerive eingebaute Installation hat Dale Chihuly 1972 in Zusammenarbeit mit James Carpenter (*1948) geschaffen. Glass Forest stellt die einzigartige Technik des grossen Meisters unter Beweis und ist für die Besucher nach einer langen Pause wieder einmal zu sehen. Die Künstlerin Mary Ann «Toots» Zynsky (*1951) reiste auf Anregung von Gianni Toso 1983 nach Venedig, auf der Suche nach farbigen Stangen für ihre Glasarbeiten, mit denen sie sich bereits seit den 1970er Jahren beschäftigte. Zynsky traf dabei mit Alessandro Diaz de Santillana aus der Familie Venini zusammen, der sie gleich für eine Auftragsarbeit gewinnen konnte. Am Ende verbrachte sie drei Monate in Venedig. Um ihre Gefässe herzustellen, arrangiert Zynsky in einem an Malerei erinnernden Prozess zahlreiche vielfarbige Glasfäden auf einer runden, hitzebeständigen Platte. Es folgte das Verschmelzen der dünnen Stäbe zu einer Glasscheibe, die nun in der Hitze in immer tiefer ausgehöhlten Metallformen nach und nach mehr gerundet wird. 1982 gab Zynsky dieser einnehmenden Technik den sprechenden Namen Filet de verre. Ihre Gefässe erfreuen sich enormer Beliebtheit und geben in der filigranen Dichte der Fäden der Zerbrechlichkeit des Materials eine gänzlich neue Form. Die unerwarteten Farbkombinationen machen sie zu dreidimensional gewordenen Gemälden. Dale Chihuly wie auch Toots Zynsky haben es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Faszination für das Material Glas an folgende Generationen weiterzugeben. Zynsky unterstützte Dale Chihuly 1971 in der Gründung des im Staat Washington angesiedelten Pilchuck Glass Center. Die beiden Glaskünstler senden aus der Ferne Nordamerikas kreative Grüsse. Cose fragili – Muranoglas 8. Mai bis 13. September 2015 La passerella dei sospiri Der Laufsteg der Seufzer zeigt Muranos gläserne Schönheiten auf einen Blick. Zu verdanken ist die hier zu bestaunende Perfektion von Cose Fragili – zerbrechlicher Dinge eben – letztlich der über Generationen gewachsenen Formsicherheit sowie der Erfahrung im Umgang mit dem Material Glas, dem sich einige Familien voll und ganz verschrieben haben. So treffen wir immer wieder auf dieselben legendären Namen: Barovier, Cappellin, Venini, Toso, Ferro, Seguso, Cenedese, Vistosi … Die nach dem Niedergang der Republik Venedig im Jahr 1797 einsetzende Krise der Glasindustrie konnte dank den Bemühungen des Abtes Vincenzo Zanetti (1824–1883) überwunden werden, der 1861 das bis heute bestehende Glasmuseum auf Murano sowie eine assoziierte Schule für Gestaltung und Glasverarbeitung zum Studium der historischen Vorbilder gründete. Antonio Salviati (1816–1890) setzte mit dem Verlagshaus Salviati & C. 1866 einen weiteren Grundstein für den Erfolg der Glaskunst. Er verlangte von allen Mitarbeitenden das Studium der Vorbildersammlung und scharte Maestri wie die Gebrüder Giovanni und Antonio Barovier um sich, deren Werke 1867 an der Exposition Universelle in Paris ausgezeichnet wurden. Nach dieser ersten Blüte liess die innovative Energie in der Glasherstellung deutlich nach. Die starke Verhaftung in der Tradition erwies sich als hinderlich. Erst mit der Abwendung vom Schnörkel und der Konzentration auf die einfache Form entwickelten sich neue Modelle. Der Keramiker Flavio Poli (1900–1984) etwa überraschte 1939 mit einer massigen Vasengruppe in Blautönen, deren stark körperhafte Wirkung sich der mit Unebenheiten überzogenen Corroso-Oberfläche verdankt. Die ebenfalls von Poli gestaltete Siderale erfährt durch das zweifarbige ringförmige Dekor hingegen eine fast galaktische Beschleunigung. In Ercole Baroviers (1889–1974) Diamantati leuchten die kräftigen Grundfarben dank der Gliederung mittels weiss geränderter violetter Bänder noch stärker. Diesen Gegensatz nimmt auch Anzolo Fuga (1914–1998) in seinen durch flächige Lattimo-Milchglaspartien gegliederten Vasen auf. Zudem sorgte Fuga mit den ungewöhnlichen Formen seiner Stücke für Aufmerksamkeit. Der junge Giorgio Ferro (*1931) überraschte das Publikum mit der skurrilen, skulpturalen Anse Volante-Serie, die auf den Einfluss Henry Moores zurückgeht. Ferro stiess 1952 zur Manufaktur Arte Vetraria Muranese, die aus der Zusammenarbeit der Gebrüder Antonio und Egidio Ferro, Giulio Radi und Emilio Nason entstanden war. Um während der Herstellung möglichst engen Kontakt zum Glas zu haben, erfand der als Designer und Meisterglasbläser tätige Alfredo Barbini (1912–2007) den guanto di carta bagnata, einen Handschuh aus genetztem Karton. Barbinis massige Sassi (Steine) zeugen von seiner schmiegend-formenden Hand. Das Haupterkennungsmerkmal der Werke von Corrado «Dino» Martens (1894–1970) schliesslich ist die schwarzweiss gestreifte Sternmurrine. Erstmals an der Biennale von 1948 gezeigt, überraschten seine asymmetrisch gestalteten Serien Oriente und Eldorado den Betrachter mit malerischen Mitteln in leuchtenden Farben, die Martens durch das Aufschmelzen von pulverisiertem Glas und den Goldflitter des Aventurin erzielte. Sein sympathisches Vasenpaar Olaf und Geltrude empfängt das Publikum mit einem verschmitzten Lächeln in der Ausstellung. Omaggio a Carlo Scarpa Eine besondere Rolle in der Modernisierung der Glasproduktion Muranos kommt dem venezianischen Architekten Carlo Scarpa (1906–1978) zu, der in über zwanzig Jahren mit unermüdlicher innovativer Energie das Material Glas, seine Farben und Formen studierte und neu interpretierte. Als junger Mann arbeitete Scarpa zunächst für kurze Zeit neben dem künstlerischen Leiter Vittorio Zecchin (1878–1947) in der Manufaktur der Maestri Vetrai Muranesi Cappellin & C. Seit 1926 selber in der Position des Art Director tätig, eignete sich Scarpa grosse technische Kenntnisse an, die er in Zusammenarbeit mit den Meistern in zahllosen Gefässen umsetzte. So sind etwa die dünnwandigen, kugeligen Vasen in Soffiato-Technik auf dem prägnanten konischen Fuss entstanden, wobei die Beschäftigung mit der Basis geradezu ein Leitmotiv in Scarpas frühen Vasen darstellt. Als die Manufaktur 1932 Bankrott anmelden musste, wechselte Scarpa zu Venini & C., wo er bis 1947 als künstlerischer Leiter blieb. In der neuen Position griff Scarpa das Thema des Sockels nochmals auf. Inspiriert von den taillierten Vasen asiatischer Meister schuf er moderne Formen mit fernöstlicher Anmutung. Wo japanische und chinesische Vasen aber stets auf einen Standring aus Holz platziert wurden, dessen Höhe bereits in die Proportionen der Vase eingerechnet waren, stellte Scarpa seine Vasen direkt auf den Boden. So versah er die anmutigen Stücke mit einer leicht irritierenden Note. In seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Glas strebte Scarpa fast ausnahmslos nach Lösungen in blickdichtem Glas. Andernfalls verschleierte er die transparente Oberfläche mit Abschleifungen in der aufwändigen und längst vergessenen Methode des Battuto. Die Struktur der Bearbeitung erinnert dabei an mit dem Hammer bearbeitete Metallflächen. Mit dieser Mattierung verstärkte Scarpa geschickt die skulpturale Wirkung der äusseren Form. Er wandte erstmals diese im 19. Jahrhundert in Frankreich verbreitete Technik auf transparentem Buntglas an. Weitere technische Verfahren entstanden in intensiver Kooperation mit den Meistern Fei Toso, Arturo Biasutto, Raffaele Ferro und Narciso Campanella, die Scarpa zu stets neuen Experimenten ermutigte. Die frühe Serie der mit unregelmässiger Oberflächenstruktur versehenen Corrosi datiert von 1936 bis 1938. Der Glasbläser bediente sich dabei einer Schicht von säuregetränktem Sägemehl, mit dem die abgekühlte Glasoberfläche bestreut und so korrodierte wurde. Etwa die metallisch glänzende Kugelvase mit direkt aus der Glasmasse gezogenen Nasen, entstammt dieser Serie. Die fast zeitgleich entstandene Mina mit aufgesetzten Glas kugeln wiederum verdankt ihren Glanz der Auflage von Blattgold. 1940 entwickelte Carlo Scarpa die Technik A pennellate: Noch an der Glaspfeife wird das Objekt mit Kugeln aus farbigem Glas gleichsam mit Pinselstrichen bemalt. Diese gestalterischen Perlen in harmonischer Farbigkeit realisierte Scarpa unter den erschwerten Bedingungen des Krieges, desgleichen die korallenroten Stücke aus der Serie der Murrine opache, die in einer Mulde komponiert und zu einer Einheit verschmolzen wurden. Durch den Schliff des erkalteten Werkstücks ergab sich erst die perfekte Optik. Venini & C. produzierte bis 1943, dann wurde die reguläre Produktion unterbrochen und musste auf die Herstellung von Glühbirnen verlegt werden. Die Biennale als Schaufenster der Produktion wurde erst 1948 wieder durchgeführt. Carlo Scarpa etablierte sich als zentrale Figur des Stile Novecento, wie die Gestaltungsweise der 1930er und 1940er Jahre genannt wird. Zugleich weisen seine Stücke weit über die Zeit hinaus und zeigen bereits Elemente der Forme Nuove auf, der gestalterischen Sprache der 1950er Jahre. Zweifellos trug er mit der immensen Varietät seiner Kreationen wesentlich zum Ruhm von Venini & C. bei. La sala della murrina Die Murrinentechnik geht auf römische Fundstücke zurück, ist aber zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten und erst Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen worden. Vor allem in den 1940er und 1950er Jahren setzten sie die Manufakturen der Artisti Barovier, Fratelli Toso und Venini & C. für ihre Produkte ein. Vorbereitend werden Glasstränge in verschiedenen Farben hergestellt, miteinander kombiniert und so verschmolzen, dass sich im Querschnitt Muster ergeben. Nach dem Erkalten werden die Stränge in Scheiben geschnitten, wunschgemäss auf einer Metallplatte arrangiert und durch Erhitzen verbunden. Auf einen mit der Glasmacherpfeife verbundenen Glaskörper aufgebracht und mit transparentem Glas überfangen kann das Werkstück dann in Form geblasen und weiter verfeinert werden. Ercole Barovier (1889–1974) erwies sich als Meister der Murrinentechnik: Seine Serien Caccia, Dorico und Athena Cattedrale faszinieren durch ihre Zartheit und den Einsatz farbiger Murrinen in viel Klarglas. Die in limitierter Auflage produzierte Athena Cattedrale etwa überzeugt durch dunkel umrandete opaline Fenster, vor denen sich rautenförmige Murrinen als blaue Kreuze abheben. Solch aufwändige Stücke verlangen dem Glasbläser ein Höchstmass an Aufmerksamkeit ab. Bei Fratelli Toso entstanden Stücke, die das Thema der Murrinen in ganz unterschiedlicher Weise variieren. Die Wandungen der Werkgruppe der Kiku Murrina sind komplett aus Murrinen komponiert. Hochovale Gefässformen oder die Zylinderform mit ausschwingender Mündung orientieren sich an klassischen japanischen Vasen, wie auch der Name Kiku unterstreicht, der Chrysantheme bedeutet. Eine optische Besonderheit stellt die Gruppe der Nerox Murrine dar, deren metallisch schimmernde Oberflächen sich farblosem Glas mit dichten, tiefgrauen Oxidaufschmelzungen verdanken. Die skulpturale Form wird durch die matte Haut zusätzlich unterstrichen, und die aufgeschmolzenen Farbtupfer und Streifen der Murrinen wirken dadurch umso stärker. Weitere sprechende Beispiele einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Gestalter und Meister sind die Stellato-Vasen aus Murrinen, deren Bestandteile zu Sternen arrangiert sind. Aldo Nason (*1920) war einer der Mitbegründer der Arte Vetraria Muranese und 1934 bis 1967 auch als deren Designer tätig. Nach dem Tod des Meisterbläsers Giulio Radi, mit dem er vorgängig zusammengearbeitet hatte, übernahm Nason 1952 dessen Aufgaben. Weitgehend übernahm er auch Radis bewährte formale Sprache, kreierte aber zunehmend auch asymmetrische Stücke. Die Yokohama-Serie besticht durch ihre schillernden Oberflächen, die sich metallischen Pigmenten und Einschlüssen von fein zersprengter, eingeschmolzener Silberfolie in der Zwischenschicht verdanken. Die Verwendung augenartiger Murrinen verleiht diesen Perlen der Glaskunst eine stark organische Anmutung. Molto oggi Als 1895 erstmals in Venedig die bis heute stattfindende Biennale ausgerichtet wurde, zeigten dort selbstredend auch die Glasmanufakturen aus Murano ihre Produkte. Neben der Mailänder Triennale blieb die Biennale bis 1972 eines der wichtigsten Schaufenster der Glasproduktion mit internationaler Ausstrahlung. Dann wurde die Glaskunst aus der Biennale ausgeschlossen, was die Hersteller nun gänzlich auf eigene Werbe- und Vertriebskanäle zurückwarf. Einzelne Firmen konnten sich auf dem Markt nicht mehr behaupten, andere zogen mit aufregender neuer Gestaltung die Aufmerksamkeit auf sich. Noch in den 1960er Jahren schuf der Architekt Sergio Asti (*1926) eine bemerkenswerte Serie für die Vetreria Vistosi. In einer variantenreichen Kombination von blutrotem Klarglas, Milchglas sowie Filigrana- und Zanfirico-Glas entwickelte er wegweisende skulpturale Stücke, die sich als kompatibel mit den Tendenzen der modernen Kunst erwiesen. Asti legte damit auch den Boden für Peter Shire (*1947) sowie den von der Keramikgestaltung herkommenden Ettore Sottsass (1917–2007). Sottsass’ Arbeiten für die 1981 zusammen mit Freunden gegründete Gruppe Memphis Milano auf den Spuren archaischer Vorbilder entstanden in Zusammenarbeit mit dem Muraneser Meister Gigi Toso. Es resultierten hoch aufgetürmte Assemblagen aus unterschiedlich strukturierten «Bauklötzen» in starken Unifarben, die mit Leim fixiert wurden. Den Fundus an Grundformen beschreibt Sottsass als sinnliches Ausgangsmaterial, mit dem er zahllose sensorische Abenteuer erzählen kann. Laura Diaz de Santillana (*1955) trat in den 1970er Jahren als Nachfahrin der legendären Glasmacherdynastie Venini im Workshop das gestalterische Erbe der Familie an. Ihr Fokus liegt auf der Sparsamkeit und der Reinheit von Farbe und Form. Mit den geheimnisvollen Incalmo-Stücken erweist sie sich als herausragende Innovatorin der Glaskunst. Zu den wenigen noch lebenden Legenden der Glasmacherkunst gehört Lino Tagliapietra (*1934), der lange Jahre die Entwürfe anderer ausführte, bevor er sich 1986 selbständig machte, um eigene Ideen in Glas umzusetzen. Tagliapietra überzeugt durch eine enorme gestalterische Freiheit in Kombination mit absoluter Beherrschung des Handwerks. Der Maler Riccardo Licata (1929–2014) illustrierte Anfang der 1960er Jahre im Privatauftrag die Weihnachtsgeschichte in acht Bildern. Dabei gewinnt die jeweilige Figur, umschlossen von Industrieglas, eine geradezu sphärische Präsenz. Diese äusserst anspruchsvolle Umsetzung ist technisch bis heute unerreicht geblieben. Kreative Impulse im Bereich des Glases gingen seit den 1970er Jahren auch von Künstlern und Künstlerinnen in unabhängigen Studios aus. Seit nunmehr fast dreissig Jahren arbeitet Yoichi Ohira (*1946) eng mit dem MeisterSoffiatore (Glasbläser) Livio «Maisasio» Serena und dem Molatore (Schleifer) Giacomo Barbini zusammen. Seine harmonisch ausbalancierten Gefässe verbinden japanische Ästhetik und traditionelles italienisches Glashandwerk. Mittels Glasstäben und Pulver erzielt Ohira in einer malerischen Überarbeitung der Oberfläche grosse visuelle Dichte. Das amerikanisch-schweizerische Künstlerduo Philip Baldwin (*1947) und Monica Guggisberg (*1955) begann seine Karriere in Schweden und wandte sich vor rund fünfzehn Jahren der venezianischen Battuto-Technik zu, in der es völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten fand: Mittels Einschnitten in farbige Glasschichten ergeben sich faszinierende Durchblicke. Der Schweizer Glasbläser Thomas Blank (*1973) wiederum nutzt die Technik dazu, facettierte Objekte mit zauberhafter Aura zu kreieren. Vecchio e sexy Während sich in Europa allenthalben der Jugendstil – in Italienisch Stile Liberty genannt – durchsetzte, blieben in Murano die barocken Formen massgebend. Der norwegische Keramiker Hans Stoltenberg Lerche (1867–1920) setzte in seinen Unikaten naturbasierte Sujets in dickwandiges Glas und gehörte damit in Venedig zu den wenigen Vertretern einer modernen Glasgestaltung. Mit dem Schwung der Moderne der 1920er Jahre blies dann ein frischerer Wind durch Muranos Gassen. Vittorio Zecchin (1878–1947) kre ierte für V.S.M. Cappellin Venini & C. mit der Libellula 1921 eine leicht-füssig-flatterhafte Vase. Der gelernte Kunstschmied Umberto Bellotto (1882–1940) entwarf für das Glasverlagshaus Pauly & Co. kühne Kompositionen aus schematischen Klarglasformen, kombiniert mit dunklem Dekor, die sich formal an den Arbeiten des französischen Art déco inspirierten. Paolo Venini (1895–1959) gründete 1925 die Manufaktur Soffiati Muranesi Venini & C. – später Venini & C. – und holte den gebürtigen Muranesen Napoleone Martinuzzi (1892–1977) als künstlerischen Leiter ins Boot, einen Bildhauer und damals amtierenden Direktor des dortigen Glasmuseums. Mit dieser ersten von vielen weiteren Kooperationen mit Künstlern und Architekten begründete Venini eine Haltung der Offenheit, die geradezu zum Markenzeichen der Firma werden sollte. Martinuzzi experimentierte Ende der 1920er Jahre mit neuen Rezepturen und gelangte zum sogenannten Pulegoso-Glas, das von zahllosen Kleinstbläschen durchsetzt ist. Die opake Oberfläche passte perfekt zum vorherrschenden Novecento-Stil der Zeit, scheint aber auch eine intensive Diskussion angeregt zu haben. Kritiker beklagten das Fehlen der so typischen Transparenz und Leichtigkeit als Grundeigenschaften des Glases. Der Mailänder Architekt Tommaso Buzzi (1900–1981) beeindruckte das Publikum 1932 mit schnörkellosen Stücken in der Laguna-Glastechnik, die mittels einer opakweis- sen Glasschicht zwischen zwei pastellfarbigen Farbglasschichten sehr starke Tiefenwirkung erzielte. Die in Murano verankerte Familie Barovier führte eine der ältesten Manufakturen, die bis ins 14. Jahrhundert zurückgeht. Als künstlerischer Leiter entwickelte Ercole Barovier (1889–1974) in den 1920er Jahren mehrere Herstellungsverfahren, welche die Glasmacherkunst grundlegend veränderten. Entwerfer und Glastechniker zugleich, präsentierte er als äusserst erfolgreiche Erfindung in den 1930ern die limitierte Serie Primavera (Frühling). Das craquelierte, hauchdünne Milchglas kombinierte er mit blickdichtem dunklen Glas, wobei die spezielle Glasmischung zufällig und ohne Notierung der Rezeptur entstand, also nicht wiederholt werden konnte. Mitte der 1930er Jahre entwickelte Barovier mit Crepuscolo (Morgengrauen) einen Effekt, der durch Stahlwolle erzielt wurde, die in der heissen Glasmasse verbrennt und Schmauchspuren als Nachhall im Glas hinterlässt. Wie verschiedene spätere Serien ist sie mittels der Colorazione a caldo senza fusione-Technik entstanden, auf die Ercole Barovier 1937 das Patent anmeldete. Das Einbringen von Oxid und Metallklumpen in die Glasmasse – ohne diese damit zu verschmelzen – ermöglichte wie etwa in der Serie Eugenei von 1951 ungewöhnliches Perlmutt- und Jadeglas mit irisierenden Oberflächen. Die im selben Jahr entstandenen Barbarici wiederum sind mit Metalloxiden überzogen, die an der Oberfläche zu einer nicht durchgängigen Schicht verschmolzen sind. Mit der Reihe der Aborigeni schliesslich liess Ercole Barovier vermeintlich primitive Formen auferstehen. Formal inspirierten sich diese eindrücklichen – und in der Zeit sehr beliebten – Stücke an archäologischen Funden. La laguna Die magische Lagunenlandschaft Venedigs bildet den geografischen Schauplatz für die gelungene Zusammenarbeit zwischen gestaltendem Künstler und ausführendem Kunsthandwerker – die wichtigste Voraussetzung herausragender Glasobjekte überhaupt. In den vergangenen Jahrhunderten wirkten Hütteneigner und hochbezahlte Meisterglasbläser in der Produktion zusammen. Die handwerkliche Perfektion galt als höchstes Ziel, während die gestalterische Innovation im historisch-bewahrenden Venedig eher zweitrangig war. Erst durch den Beizug von künstlerisch ausgebildeten Entwerfern ab den 1920er Jahren konnten zwischen den nunmehr drei Parteien neue Ideen anvisiert werden. In den oft engen Manufakturen entstanden vor den Schlünden heisser Öfen in einer balletthaften Teamarbeit grandiose Stücke. Gemäss dem bewährten Protokoll dienen die Beteiligten immer dem erfahrenen Meister an der speziellen Werkbank zu. Zunächst wird die geschmolzene Glasmasse vorbereitet, dann wird das Werkstück auf die Glasmacherpfeife übertragen, ferner der Glasbläser durch das wiederholte Erhitzen des Werkstücks unterstützt und nach der Bearbeitung mit speziellen Werkzeugen wird das fertig geformte Glas in den Kühlofen gebracht. Der Prozess des gesteuerten Abkühlens verhindert dabei die Bildung von Spannungsrissen. In dieses Spektakel tritt nun der Künstler, der mit Skizzen oder Modell sowie Hinweisen dabei assistiert, den Prototyp zu entwickeln, der dann in Serie hergestellt werden kann. Namentlich während des Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg strömte durch die Präsenz von Designern neue Energie in die Produktion Muranos. Der ausgebildete
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