Cose fragili – Muranoglas

Keramiker Flavio Poli (1900–1984) etwa setzte bei der Firma
Seguso Vetri D’Arte auf streng stilisierte, klare Formen und
verarbeitete dünne Farbglasschichten unter dickwandigem
Kristall. Mit den erfolgreichen Valva- und Conchiglie-Stücken griff er auf Vorbilder aus der Natur zurück.
Der Grafiker, Karikaturist und Illustrator Fulvio Bianconi
(1915–1996) kam 1946 durch einen Gelegenheitsjob in Kontakt mit Glas und wurde schnell zu einer der prägendsten
Figuren. In Zusammenarbeit mit dem legendären Arturo
«Boboli» Biasutto bei Venini & C. sorgte er in den 1950er Jahren mit den Pezzato- und Scozzese-Vasen für Furore. Für die
Pezzati werden bunte Glasstücke nach gewünschtem Muster
auf einer Metallplatte arrangiert, die dann erhitzt wird. Nun
wird der so verschmolzene Glasteppich um einen glühenden
Rohkörper aus Glas geschmolzen. Diese Grundform wird
anschliessend modelliert und nachbearbeitet. Sehr viele
gestalterische Varianten ermöglicht die Scozzese-Technik.
Zu langen Canne (Stangen) ausgezogene Glasklumpen werden als Bänder auf transparente Glaskörper aufgebracht.
Durch die Kombination verschiedener Farben und Stärken
entstehen etwa an schottische Tartanstoffe erinnernde
Karomuster.
Ebenfalls in den 1950er Jahren sorgte Archimede
Seguso (1909–1999) als Meister der Fadenglastechnik mit
einer raffinierten Serie von sogenannten Merletto-Gläsern
für Verblüffung, die zu den Schlüsselwerken der Muraneser
Glaskunst dieser Dekade gehören. Die dazu verwendete
Methode, der Länge nach aufgeschnittenes Glasstäbe als
Netz über die Wandung der Vase zu spannen, gab den Fachleuten nachhaltige Rätsel auf. Segusos skulpturaler Mond
leuchtet inzwischen lächelnd über der Lagune …
Saluti dal West
Ende der 1960er Jahre machte sich die magnetische
Wirkung Muranos zunehmend auch in den USA bemerkbar. Der ursprünglich als Innenarchitekt ausgebildete Dale
Chihuly (*1941) beschäftigte sich 1965 erstmals aktiv mit der
Glasbläserei. Bereits 1968 folgte ein Stipendium bei Venini
& C. in Venedig mit ersten Erfahrungen in einem gut eingespielten Team von Glasbläsern. Nach seiner Rückkehr nach
Amerika bildete sich Chihuly in diesem Feld intensiv weiter.
Bis dato hat er als Designer wie auch als Glasbläser
mehr als ein Dutzend spektakuläre Serien produziert, in
denen er das Material Glas in verschiedener Hinsicht auslotete. Die Baskets in den 1970er Jahren inspirierten sich an
geflochtenen Körben nordamerikanischer Indianer, was die
Form des einzelnen Korbes betrifft, dessen stehende Wandung stets etwas einsackt, wie auch an der Stapelbarkeit
der Körbe. Die Seaforms wiederum verblüfften in den 1980er
Jahren durch ihre atemberaubende Farbigkeit. Sie erreichen
die Grenze der in Glas realisierbaren maximalen Dimension.
Heute erreicht Chihuly mit architektonischen Installationen
ein riesiges Publikum. Die im Museum Bellerive eingebaute
Installation hat Dale Chihuly 1972 in Zusammenarbeit mit
James Carpenter (*1948) geschaffen. Glass Forest stellt die
einzigartige Technik des grossen Meisters unter Beweis und
ist für die Besucher nach einer langen Pause wieder einmal
zu sehen.
Die Künstlerin Mary Ann «Toots» Zynsky (*1951) reiste
auf Anregung von Gianni Toso 1983 nach Venedig, auf der
Suche nach farbigen Stangen für ihre Glasarbeiten, mit
denen sie sich bereits seit den 1970er Jahren beschäftigte.
Zynsky traf dabei mit Alessandro Diaz de Santillana aus der
Familie Venini zusammen, der sie gleich für eine Auftragsarbeit gewinnen konnte. Am Ende verbrachte sie drei Monate
in Venedig.
Um ihre Gefässe herzustellen, arrangiert Zynsky in
einem an Malerei erinnernden Prozess zahlreiche vielfarbige
Glasfäden auf einer runden, hitzebeständigen Platte. Es
folgte das Verschmelzen der dünnen Stäbe zu einer Glasscheibe, die nun in der Hitze in immer tiefer ausgehöhlten
Metallformen nach und nach mehr gerundet wird. 1982 gab
Zynsky dieser einnehmenden Technik den sprechenden
Namen Filet de verre. Ihre Gefässe erfreuen sich enormer
Beliebtheit und geben in der filigranen Dichte der Fäden der
Zerbrechlichkeit des Materials eine gänzlich neue Form. Die
unerwarteten Farbkombinationen machen sie zu dreidimensional gewordenen Gemälden.
Dale Chihuly wie auch Toots Zynsky haben es sich zur
Aufgabe gemacht, ihre Faszination für das Material Glas an
folgende Generationen weiterzugeben. Zynsky unterstützte
Dale Chihuly 1971 in der Gründung des im Staat Washington
angesiedelten Pilchuck Glass Center. Die beiden Glaskünstler senden aus der Ferne Nordamerikas kreative Grüsse.
Cose fragili – Muranoglas
8. Mai bis 13. September 2015
La passerella dei sospiri
Der Laufsteg der Seufzer zeigt Muranos gläserne
Schönheiten auf einen Blick. Zu verdanken ist die hier zu
bestaunende Perfektion von Cose Fragili – zerbrechlicher
Dinge eben – letztlich der über Generationen gewachsenen
Formsicherheit sowie der Erfahrung im Umgang mit dem
Material Glas, dem sich einige Familien voll und ganz verschrieben haben. So treffen wir immer wieder auf dieselben
legendären Namen: Barovier, Cappellin, Venini, Toso, Ferro,
Seguso, Cenedese, Vistosi …
Die nach dem Niedergang der Republik Venedig im
Jahr 1797 einsetzende Krise der Glasindustrie konnte dank
den Bemühungen des Abtes Vincenzo Zanetti (1824–1883)
überwunden werden, der 1861 das bis heute bestehende
Glasmuseum auf Murano sowie eine assoziierte Schule für
Gestaltung und Glasverarbeitung zum Studium der historischen Vorbilder gründete. Antonio Salviati (1816–1890)
setzte mit dem Verlagshaus Salviati & C. 1866 einen weiteren
Grundstein für den Erfolg der Glaskunst. Er verlangte von
allen Mitarbeitenden das Studium der Vorbildersammlung
und scharte Maestri wie die Gebrüder Giovanni und Antonio
Barovier um sich, deren Werke 1867 an der Exposition Universelle in Paris ausgezeichnet wurden. Nach dieser ersten
Blüte liess die innovative Energie in der Glasherstellung
deutlich nach. Die starke Verhaftung in der Tradition erwies
sich als hinderlich. Erst mit der Abwendung vom Schnörkel
und der Konzentration auf die einfache Form entwickelten
sich neue Modelle. Der Keramiker Flavio Poli (1900–1984)
etwa überraschte 1939 mit einer massigen Vasengruppe
in Blautönen, deren stark körperhafte Wirkung sich der mit
Unebenheiten überzogenen Corroso-Oberfläche verdankt.
Die ebenfalls von Poli gestaltete Siderale erfährt durch das
zweifarbige ringförmige Dekor hingegen eine fast galaktische Beschleunigung.
In Ercole Baroviers (1889–1974) Diamantati leuchten die kräftigen Grundfarben dank der Gliederung mittels
weiss geränderter violetter Bänder noch stärker. Diesen
Gegensatz nimmt auch Anzolo Fuga (1914–1998) in seinen
durch flächige Lattimo-Milchglaspartien gegliederten Vasen
auf. Zudem sorgte Fuga mit den ungewöhnlichen Formen
seiner Stücke für Aufmerksamkeit. Der junge Giorgio Ferro
(*1931) überraschte das Publikum mit der skurrilen, skulpturalen Anse Volante-Serie, die auf den Einfluss Henry Moores
zurückgeht. Ferro stiess 1952 zur Manufaktur Arte Vetraria
Muranese, die aus der Zusammenarbeit der Gebrüder
Antonio und Egidio Ferro, Giulio Radi und Emilio Nason entstanden war.
Um während der Herstellung möglichst engen Kontakt
zum Glas zu haben, erfand der als Designer und Meisterglasbläser tätige Alfredo Barbini (1912–2007) den guanto di carta
bagnata, einen Handschuh aus genetztem Karton. Barbinis
massige Sassi (Steine) zeugen von seiner schmiegend-formenden Hand.
Das Haupterkennungsmerkmal der Werke von Corrado
«Dino» Martens (1894–1970) schliesslich ist die schwarzweiss gestreifte Sternmurrine. Erstmals an der Biennale von
1948 gezeigt, überraschten seine asymmetrisch gestalteten
Serien Oriente und Eldorado den Betrachter mit malerischen
Mitteln in leuchtenden Farben, die Martens durch das Aufschmelzen von pulverisiertem Glas und den Goldflitter des
Aventurin erzielte. Sein sympathisches Vasenpaar Olaf und
Geltrude empfängt das Publikum mit einem verschmitzten
Lächeln in der Ausstellung.
Omaggio a Carlo Scarpa
Eine besondere Rolle in der Modernisierung der Glasproduktion Muranos kommt dem venezianischen Architekten Carlo Scarpa (1906–1978) zu, der in über zwanzig Jahren mit unermüdlicher innovativer Energie das Material Glas,
seine Farben und Formen studierte und neu interpretierte.
Als junger Mann arbeitete Scarpa zunächst für kurze
Zeit neben dem künstlerischen Leiter Vittorio Zecchin
(1878–1947) in der Manufaktur der Maestri Vetrai Muranesi
Cappellin & C. Seit 1926 selber in der Position des Art Director tätig, eignete sich Scarpa grosse tech­nische Kenntnisse
an, die er in Zusammenarbeit mit den Meistern in zahllosen
Gefässen umsetzte. So sind etwa die dünnwandigen, kugeligen Vasen in Soffiato-Technik auf dem prägnanten konischen
Fuss entstanden, wobei die Beschäftigung mit der Basis
geradezu ein Leitmotiv in Scarpas frühen Vasen darstellt. Als
die Manufaktur 1932 Bankrott anmelden musste, wechselte
Scarpa zu Venini & C., wo er bis 1947 als künstlerischer Leiter
blieb.
In der neuen Position griff Scarpa das Thema des
Sockels nochmals auf. Inspiriert von den taillierten Vasen asiatischer Meister schuf er moderne Formen mit fern­östlicher
Anmutung. Wo japanische und chinesische Vasen aber stets
auf einen Standring aus Holz platziert wurden, dessen Höhe
bereits in die Proportionen der Vase eingerechnet waren,
stellte Scarpa seine Vasen direkt auf den Boden. So versah
er die anmutigen Stücke mit einer leicht irritierenden Note.
In seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Glas
strebte Scarpa fast ausnahmslos nach Lösungen in blickdichtem Glas. Andernfalls verschleierte er die transparente
Oberfläche mit Abschleifungen in der aufwändigen und
längst vergessenen Methode des Battuto. Die Struktur der
Bearbeitung erinnert dabei an mit dem Hammer bearbeitete Metallflächen. Mit dieser Mattierung verstärkte Scarpa
geschickt die skulpturale Wirkung der äusseren Form. Er
wandte erstmals diese im 19. Jahrhundert in Frankreich verbreitete Technik auf transparentem Buntglas an.
Weitere technische Verfahren entstanden in intensiver Kooperation mit den Meistern Fei Toso, Arturo Biasutto,
Raffaele Ferro und Narciso Campanella, die Scarpa zu stets
neuen Experimenten ermutigte. Die frühe Serie der mit unregelmässiger Oberflächenstruktur versehenen Corrosi datiert
von 1936 bis 1938. Der Glasbläser bediente sich dabei einer
Schicht von säuregetränktem Sägemehl, mit dem die abgekühlte Glasoberfläche bestreut und so korrodierte wurde.
Etwa die metallisch glänzende Kugelvase mit direkt aus der
Glasmasse gezogenen Nasen, entstammt dieser Serie. Die
fast zeitgleich entstandene Mina mit aufgesetzten Glas­
kugeln wiederum verdankt ihren Glanz der Auflage von
Blattgold. 1940 entwickelte Carlo Scarpa die Technik
A pennellate: Noch an der Glaspfeife wird das Objekt mit
Kugeln aus farbigem Glas gleichsam mit Pinselstrichen
bemalt. Diese gestalterischen Perlen in harmonischer Farbigkeit realisierte Scarpa unter den erschwerten Bedingungen des Krieges, desgleichen die korallenroten Stücke aus
der Serie der Murrine opache, die in einer Mulde komponiert
und zu einer Einheit verschmolzen wurden. Durch den Schliff
des erkalteten Werkstücks ergab sich erst die perfekte Optik.
Venini & C. produzierte bis 1943, dann wurde die reguläre
Produktion unterbrochen und musste auf die Herstellung von
Glühbirnen verlegt werden. Die Biennale als Schaufenster
der Produktion wurde erst 1948 wieder durchgeführt.
Carlo Scarpa etablierte sich als zentrale Figur des Stile
Novecento, wie die Gestaltungsweise der 1930er und 1940er
Jahre genannt wird. Zugleich weisen seine Stücke weit über
die Zeit hinaus und zeigen bereits Elemente der Forme
Nuove auf, der gestalterischen Sprache der 1950er Jahre.
Zweifellos trug er mit der immensen Varietät seiner Kreationen wesentlich zum Ruhm von Venini & C. bei.
La sala della murrina
Die Murrinentechnik geht auf römische Fundstücke
zurück, ist aber zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten
und erst Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen
worden. Vor allem in den 1940er und 1950er Jahren setzten sie die Manufakturen der Artisti Barovier, Fratelli Toso
und Venini & C. für ihre Produkte ein. Vorbereitend werden
Glasstränge in verschiedenen Farben hergestellt, miteinander kombiniert und so verschmolzen, dass sich im Querschnitt Muster ergeben. Nach dem Erkalten werden die
Stränge in Scheiben geschnitten, wunschgemäss auf einer
Metallplatte arrangiert und durch Erhitzen verbunden. Auf
einen mit der Glasmacherpfeife verbundenen Glaskörper
aufgebracht und mit transparentem Glas überfangen kann
das Werkstück dann in Form geblasen und weiter verfeinert
werden.
Ercole Barovier (1889–1974) erwies sich als Meister der
Murrinentechnik: Seine Serien Caccia, Dorico und Athena
Cattedrale faszinieren durch ihre Zartheit und den Einsatz
farbiger Murrinen in viel Klarglas. Die in limitierter Auflage
produzierte Athena Cattedrale etwa überzeugt durch dunkel
umrandete opaline Fenster, vor denen sich rautenförmige
Murrinen als blaue Kreuze abheben. Solch aufwändige Stücke verlangen dem Glasbläser ein Höchstmass an Aufmerksamkeit ab.
Bei Fratelli Toso entstanden Stücke, die das Thema
der Murrinen in ganz unterschiedlicher Weise variieren. Die
Wandungen der Werkgruppe der Kiku Murrina sind komplett
aus Murrinen komponiert. Hochovale Gefässformen oder
die Zylinderform mit ausschwingender Mündung orientieren
sich an klassischen japanischen Vasen, wie auch der Name
Kiku unterstreicht, der Chrysantheme bedeutet. Eine optische Besonderheit stellt die Gruppe der Nerox Murrine dar,
deren metallisch schimmernde Oberflächen sich farblosem
Glas mit dichten, tiefgrauen Oxidaufschmelzungen verdanken. Die skulpturale Form wird durch die matte Haut zusätzlich unterstrichen, und die aufgeschmolzenen Farbtupfer
und Streifen der Murrinen wirken dadurch umso stärker. Weitere sprechende Beispiele einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Gestalter und Meister sind die Stellato-Vasen
aus Murrinen, deren Bestandteile zu Sternen arrangiert sind.
Aldo Nason (*1920) war einer der Mitbegründer der
Arte Vetraria Muranese und 1934 bis 1967 auch als deren
Designer tätig. Nach dem Tod des Meisterbläsers Giulio Radi,
mit dem er vorgängig zusammengearbeitet hatte, übernahm
Nason 1952 dessen Aufgaben. Weitgehend übernahm er
auch Radis bewährte formale Sprache, kreierte aber zunehmend auch asymmetrische Stücke. Die Yokohama-Serie
besticht durch ihre schillernden Oberflächen, die sich metallischen Pigmenten und Einschlüssen von fein zersprengter,
eingeschmolzener Silberfolie in der Zwischenschicht verdanken. Die Verwendung augenartiger Murrinen verleiht diesen
Perlen der Glaskunst eine stark organische Anmutung.
Molto oggi
Als 1895 erstmals in Venedig die bis heute stattfindende Biennale ausgerichtet wurde, zeigten dort selbstredend auch die Glasmanufakturen aus Murano ihre Produkte.
Neben der Mailänder Triennale blieb die Biennale bis 1972
eines der wichtigsten Schaufenster der Glasproduktion mit
internationaler Ausstrahlung. Dann wurde die Glaskunst aus
der Biennale ausgeschlossen, was die Hersteller nun gänzlich auf eigene Werbe- und Vertriebskanäle zurückwarf. Einzelne Firmen konnten sich auf dem Markt nicht mehr behaupten, andere zogen mit aufregender neuer Gestaltung die Aufmerksamkeit auf sich.
Noch in den 1960er Jahren schuf der Architekt Sergio
Asti (*1926) eine bemerkenswerte Serie für die Vetreria
Vistosi. In einer variantenreichen Kombination von blutrotem Klarglas, Milchglas sowie Filigrana- und Zanfirico-Glas
entwickelte er wegweisende skulpturale Stücke, die sich
als kompatibel mit den Tendenzen der modernen Kunst
erwiesen. Asti legte damit auch den Boden für Peter Shire
(*1947) sowie den von der Keramikgestaltung herkommenden Ettore Sottsass (1917–2007). Sottsass’ Arbeiten für die
1981 zusammen mit Freunden gegründete Gruppe Memphis
Milano auf den Spuren archaischer Vorbilder entstanden
in Zusammenarbeit mit dem Muraneser Meister Gigi Toso.
Es resultierten hoch aufgetürmte Assemblagen aus unterschiedlich strukturierten «Bauklötzen» in starken Unifarben,
die mit Leim fixiert wurden. Den Fundus an Grundformen
beschreibt Sottsass als sinnliches Ausgangsmaterial, mit
dem er zahllose sensorische Abenteuer erzählen kann.
Laura Diaz de Santillana (*1955) trat in den 1970er
Jahren als Nachfahrin der legendären Glasmacherdynastie Venini im Workshop das gestalterische Erbe der Familie
an. Ihr Fokus liegt auf der Sparsamkeit und der Reinheit von
Farbe und Form. Mit den geheimnisvollen Incalmo-Stücken
erweist sie sich als herausragende Innovatorin der Glaskunst.
Zu den wenigen noch lebenden Legenden der Glasmacherkunst gehört Lino Tagliapietra (*1934), der lange Jahre
die Entwürfe anderer ausführte, bevor er sich 1986 selbständig machte, um eigene Ideen in Glas umzusetzen. Tagliapietra
überzeugt durch eine enorme gestalterische Freiheit in Kombination mit absoluter Beherrschung des Handwerks.
Der Maler Riccardo Licata (1929–2014) illustrierte
Anfang der 1960er Jahre im Privatauftrag die Weihnachtsgeschichte in acht Bildern. Dabei gewinnt die jeweilige Figur,
umschlossen von Industrieglas, eine geradezu sphärische
Präsenz. Diese äusserst anspruchsvolle Umsetzung ist technisch bis heute unerreicht geblieben.
Kreative Impulse im Bereich des Glases gingen seit
den 1970er Jahren auch von Künstlern und Künstlerinnen
in unabhängigen Studios aus. Seit nunmehr fast dreissig
Jahren arbeitet Yoichi Ohira (*1946) eng mit dem MeisterSoffiatore (Glasbläser) Livio «Maisasio» Serena und dem
Molatore (Schleifer) Giacomo Barbini zusammen. Seine
harmonisch ausbalancierten Gefässe verbinden japanische
Ästhetik und traditionelles italienisches Glashandwerk. Mittels Glasstäben und Pulver erzielt Ohira in einer malerischen
Überarbeitung der Oberfläche grosse visuelle Dichte.
Das amerikanisch-schweizerische Künstlerduo Philip
Baldwin (*1947) und Monica Guggisberg (*1955) begann
seine Karriere in Schweden und wandte sich vor rund fünfzehn Jahren der venezianischen Battuto-Technik zu, in der
es völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten fand: Mittels Einschnitten in farbige Glasschichten ergeben sich faszinierende Durchblicke. Der Schweizer Glasbläser Thomas Blank
(*1973) wiederum nutzt die Technik dazu, facettierte Objekte
mit zauberhafter Aura zu kreieren.
Vecchio e sexy
Während sich in Europa allenthalben der Jugendstil
– in Italienisch Stile Liberty genannt – durchsetzte, blieben
in Murano die barocken Formen massgebend. Der norwegische Keramiker Hans Stoltenberg Lerche (1867–1920)
setzte in seinen Unikaten naturbasierte Sujets in dickwandiges Glas und gehörte damit in Venedig zu den wenigen Vertretern einer modernen Glasgestaltung. Mit dem Schwung
der Moderne der 1920er Jahre blies dann ein frischerer Wind
durch Muranos Gassen. Vittorio Zecchin (1878–1947) kre­
ierte für V.S.M. Cappellin Venini & C. mit der Libellula 1921
eine leicht-füssig-flatterhafte Vase. Der gelernte Kunstschmied Umberto Bellotto (1882–1940) entwarf für das
Glasverlagshaus Pauly & Co. kühne Kompositionen aus
schematischen Klarglasformen, kombiniert mit dunklem
Dekor, die sich formal an den Arbeiten des französischen Art
déco inspirierten.
Paolo Venini (1895–1959) gründete 1925 die Manufaktur Soffiati Muranesi Venini & C. – später Venini & C. – und
holte den gebürtigen Muranesen Napoleone Martinuzzi
(1892–1977) als künstlerischen Leiter ins Boot, einen Bildhauer und damals amtierenden Direktor des dortigen Glasmuseums. Mit dieser ersten von vielen weiteren Kooperationen mit Künstlern und Architekten begründete Venini eine
Haltung der Offenheit, die geradezu zum Markenzeichen der
Firma werden sollte. Martinuzzi experimentierte Ende der
1920er Jahre mit neuen Rezepturen und gelangte zum sogenannten Pulegoso-Glas, das von zahllosen Kleinstbläschen
durchsetzt ist. Die opake Oberfläche passte perfekt zum
vorherrschenden Novecento-Stil der Zeit, scheint aber auch
eine intensive Diskussion angeregt zu haben. Kritiker beklagten das Fehlen der so typischen Transparenz und Leichtigkeit
als Grundeigenschaften des Glases.
Der Mailänder Architekt Tommaso Buzzi (1900–1981)
beeindruckte das Publikum 1932 mit schnörkellosen Stücken in der Laguna-Glastechnik, die mittels einer opakweis-
sen Glasschicht zwischen zwei pastellfarbigen Farbglasschichten sehr starke Tiefenwirkung erzielte.
Die in Murano verankerte Familie Barovier führte eine
der ältesten Manufakturen, die bis ins 14. Jahrhundert zurückgeht. Als künstlerischer Leiter entwickelte Ercole Barovier
(1889–1974) in den 1920er Jahren mehrere Herstellungsverfahren, welche die Glasmacherkunst grundlegend veränderten. Entwerfer und Glastechniker zugleich, präsentierte er
als äusserst erfolgreiche Erfindung in den 1930ern die limitierte Serie Primavera (Frühling). Das craquelierte, hauchdünne Milchglas kombinierte er mit blickdichtem dunklen
Glas, wobei die spezielle Glasmischung zufällig und ohne
Notierung der Rezeptur entstand, also nicht wiederholt werden konnte. Mitte der 1930er Jahre entwickelte Barovier mit
Crepuscolo (Morgengrauen) einen Effekt, der durch Stahlwolle erzielt wurde, die in der heissen Glasmasse verbrennt
und Schmauchspuren als Nachhall im Glas hinterlässt. Wie
verschiedene spätere Serien ist sie mittels der Colorazione
a caldo senza fusione-Technik entstanden, auf die Ercole
Barovier 1937 das Patent anmeldete. Das Einbringen von
Oxid und Metallklumpen in die Glasmasse – ohne diese damit
zu verschmelzen – ermöglichte wie etwa in der Serie Eugenei
von 1951 ungewöhnliches Perlmutt- und Jadeglas mit irisierenden Oberflächen. Die im selben Jahr entstandenen
Barbarici wiederum sind mit Metalloxiden überzogen, die an
der Oberfläche zu einer nicht durchgängigen Schicht verschmolzen sind. Mit der Reihe der Aborigeni schliesslich liess
Ercole Barovier vermeintlich primitive Formen auferstehen.
Formal inspirierten sich diese eindrücklichen – und in der Zeit
sehr beliebten – Stücke an archäologischen Funden.
La laguna
Die magische Lagunenlandschaft Venedigs bildet den
geografischen Schauplatz für die gelungene Zusammenarbeit zwischen gestaltendem Künstler und ausführendem
Kunsthandwerker – die wichtigste Voraussetzung herausragender Glasobjekte überhaupt.
In den vergangenen Jahrhunderten wirkten Hütteneigner und hochbezahlte Meisterglasbläser in der Produktion
zusammen. Die handwerkliche Perfektion galt als höchstes
Ziel, während die gestalterische Innovation im historisch-bewahrenden Venedig eher zweitrangig war. Erst durch den
Beizug von künstlerisch ausgebildeten Entwerfern ab den
1920er Jahren konnten zwischen den nunmehr drei Parteien
neue Ideen anvisiert werden. In den oft engen Manufakturen
entstanden vor den Schlünden heisser Öfen in einer balletthaften Teamarbeit grandiose Stücke. Gemäss dem bewährten Protokoll dienen die Beteiligten immer dem erfahrenen
Meister an der speziellen Werkbank zu. Zunächst wird die
geschmolzene Glasmasse vorbereitet, dann wird das Werkstück auf die Glasmacherpfeife übertragen, ferner der Glasbläser durch das wiederholte Erhitzen des Werkstücks unterstützt und nach der Bearbeitung mit speziellen Werkzeugen
wird das fertig geformte Glas in den Kühlofen gebracht. Der
Prozess des gesteuerten Abkühlens verhindert dabei die Bildung von Spannungsrissen. In dieses Spektakel tritt nun der
Künstler, der mit Skizzen oder Modell sowie Hinweisen dabei
assistiert, den Prototyp zu entwickeln, der dann in Serie hergestellt werden kann.
Namentlich während des Aufschwungs nach dem
Zweiten Weltkrieg strömte durch die Präsenz von Designern
neue Energie in die Produktion Muranos. Der ausgebildete