Eine evangelische Nonne erzählt - winter

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LEKTÜRE
Samstag/Sonntag, 9./10. Mai 2009
Rhein-Neckar-Zeitung / RNZ Magazin / Nr. 106
Schönheit mit
Kontrasten
Karl-Heinz Otts Händel-Essay
Von Anton Philipp Knittel
Szene aus David Cronenbergs Verfilmung des Burroughs-Roman „Naked Lunch“. Peter Weller spielte darin die Hauptrolle: den Schriftsteller Bill Lee, das Alter ego Burroughs’. Foto: Archiv
Ein wildes Leben voller Drogen
Jetzt gibt’s die ursprüngliche Fassung von „Naked Lunch“ auf Deutsch / Von Franz Schneider
Bevor ich Goethe und Schiller las, las ich
William S. Burroughs. Schuld hatte ein
Schallplattenversand, der auch ein paar
Bücher im Programm hatte. Eben welche
wie von William S. Burroughs und sei
nem „Naked Lunch“, damals übersetzt
von Carl Weissner. Trotzdem war es
schwer zu lesen, aber es ging um Sex und
Drogen, so kämpfte man sich durch.
Denn man wollte rein und runter. „Under
ground“ leuchtete als magisches Zeichen
und versprach eine Erfahrung jenseits
langweiliger und verlogener Realität,
und „Naked Lunch“ galt als dessen Bi
bel.
Ihr Autor William S. Burroughs wur
de 1914 geboren und starb 1997. Dazwi
schen liegt ein wildes Leben voller Dro
generfahrungen und Texten. Man darf
sich darüber ein wenig wundern, wie lan
ge er alles durchgehalten hat. Burroughs
bildete zusammen mit Jack Kerouac und
Allen Ginsberg die Beatgeneration. Er
selbst schrieb eine ganze Reihe von Roma
nen. „Naked Lunch“, sein bekanntester,
1991 verfilmt von David Cronenberg,
kam im Verlauf von neun Jahren zustan
de. Am Anfang stand ein „Wilhelm
Tell“Spiel im Drogenrausch: Waffen
narr Burroughs zielte auf seine Frau und
erschoss sie, später ein langer Aufenthalt
in Tanger, zielloses Herumschreiben, bis
ein Pariser Verleger englischsprachiger
Bücher Druck macht. So erschien „Na
ked Lunch“ 1959 erstmalig in Paris, in
den USA dann 1962, im selben Jahr auch
erstmalig auf Deutsch, aber es war eigent
lich nichts Endgültiges. Um diesem frag
mentarischen, unabgeschlossenen Cha
Der Autor William S. Burroughs. Foto: zg
Serienmörder in Shanghai
Ein chinesischer Krimiautor mit Weltruhm / Von Hendrik Werner
Eine der wenigen halbwegs authenti
schen Stimmen aus China, die es zu krimi
nalliterarischem Weltruhm gebracht ha
ben, ist Qiu Xiaolong, 1953 in Shanghai
geboren. Halbwegs deshalb, weil der
1988 in die USA emigrierte Autor nach
dem TiananmenMassaker eine Rück
kehr ins Land seiner Geburt verwarf –
und heute in Washington chi
nesische Philologie lehrt.
Obwohl es ihm folglich an
unmittelbarer Gegenwartsan
schauung mangelt, zeichnet
Qiu ein realitätsnahes Bild zu
mindest seiner Geburtsstadt.
Das Shanghai, in dem sein
Oberinspektor Chen Cao, ein
dichtender Feingeist, nun
mehr zum fünften Mal ermit
telt, wird von den Triaden kon
trolliert und ist von sozialen
Verwerfungen dominiert.
„Wenn das Wasser allzu
klar ist, leben keine Fische mehr im
Teich“, hält man dem Gerechtigkeitsfana
tiker im Billiglohnparadies als Begrün
dung für die vorgeblich naturgewollte Ne
potismusNotwendigkeit entgegen.
Der unbestechliche Chen dagegen
tritt als Zeuge der Anklage gegen ein
Land auf, dessen Menschen zwischen
kommunistischer
Allmachtsphantasie
und entfesseltem Turbokapitalismus zer
rieben werden. In „Blut und rote Seide“
jagt er eine Täterspezies, die es in China
laut ideologisch verordneter Gutmensch
lichkeit gar nicht geben dürfte: einen Se
rienmörder, der junge Frauen abschlach
tet. Deren Leichen drapiert der mutmaßli
che Psychopath in frivoler Pose – und in
einem traditionellen Kleid, das im Zuge
der Kulturrevolution verfemt
wurde.
Neben
der
Fahndung
kommt Chen dazu, sich per
sönlichen Steckenpferden zu
widmen. Zum einen exoti
schem Essen, etwa Affenhirn.
Zum anderen dem späten Ab
schluss seiner philologischen
Examensarbeit. Die gilt der
Rolle der Femme fatale in der
chinesischen Literatur. Und
ist also der Lösung des aktuel
len Falls, der mit Mord und
Moder, Mode und Moderne
Fragen zu tun hat, durchaus dienlich. Die
Fähigkeit von Qiu Xiaolong, Kulturge
schichte mit Spannungsplots zu verzah
nen, hat im KrimiGenre großen Selten
heitswert. Auch deshalb: Mach’s noch ein
mal, Chen Cao!
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i Info: Qiu Xiaolong: „Blut und rote Sei
de“. Zsolnay, Wien 2009. 384 Seiten,
19,90 Euro.
rakter des Textes gerechter zu werden,
präsentierten die BurroughsVerehrer
James Grauerholz und Barry Miles 2001
eine ursprüngliche Fassung, die etwa ver
schiedene „Outtakes“ dem Gesamtkor
pus anfügte. Nun hat diese Version Micha
el Kellner, profiliert etwa als Übersetzer
von Ginsbergs Opus Magnum „The
Howl“, ins Deutsche übertragen.
Alles Beweise großer Leidenschaft,
aber mittlerweile habe auch ich Goethe
und Schiller gelesen, bin längst wieder
aus dem „Underground“ aufgetaucht
und stelle hiermit die akademische Fra
ge, worin liegt die besondere Erfahrung,
an einem „Naked Lunch“ gesessen zu ha
ben?
An einer Stelle darin wurde es mir
wieder schlagartig klar: „Man kann über
alles schreiben oder es herausbrüllen
oder es schmachtend besingen. . . man
kann Bilder malen. . . Theater spielen. . .
es als Mobile aussscheißen. . . solange
man nicht rausgeht und es tut. . .“ Es ist
die Macht der Spontaneität, die einen
überfällt, und damit verknüpft die Er
kenntnis, dass das menschliche Dasein
chaotisch und das menschliche Gehirn in
einem Wirrkopf steckt. Und Burroughs
fand eine assoziative Form dafür, das Cut
up, das Gefuzzel verschiedenster Notate,
verschiedenster Einfälle und Szenen zu
etwas Größerem.
Rekordbeteiligung bei
PEN-Jahrestagung
In Görlitz werden sich ab 14. Mai so viele
Autoren wie nie zuvor bei einer Jahresta
gung des PENZentrums Deutschland
versammeln. Erwartet werden mehr als
150 Schriftsteller, unter ihnen der Litera
turNobelpreisträger Günter Grass und
der polnische Lyriker Adam Zagajewski,
wie der Generalsekretär des PEN, Wil
fried Schoeller, ankündigte. Die Tagung
steht in diesem Jahr im Zeichen des
deutschpolnischen Dialogs. Neben inter
nen stehen auch einige öffentliche Veran
staltungen auf dem Programm. So wer
den zum Auftakt des viertägigen Kongres
ses 27 Autoren auf der sogenannten Lite
raturmeile in der Görlitzer Innenstadt le
sen. Ebenfalls am Eröffnungstag wird
beim „Abend für verfolgte Schriftstelle
rinnen und Schriftsteller“ in der Görlit
zer Synagoge unter anderem über Men
schenrechte in China diskutiert.
Am 15. Mai ist im Theater Görlitz ei
ne Gesprächsrunde mit Grass, Artur Be
cker, Adam Krzeminski und Doreen Dau
me zum Thema „Literatur und politische
Kultur“ geplant. Abgeschlossen wird die
Tagung schließlich am 17. Mai durch die
Veranstaltung „Zwischen den Generatio
nen Lyriker aus Polen und Deutsch
land“, an der unter anderem Grass und
Zagajewski teilnehmen. ddp
嘷
i Info: www.pendeutschland.de
Wer an einem „Naked Lunch“ teilneh
men möchte, muss die Bereitschaft mit
bringen, sich auf diese unstrukturierten
Strukturen einzulassen, ansonsten bleibt
er ein Spießer oder ein Polizist. Das sind
die Hauptfeinde eines vernünftigen Men
schen, ein vernünftiger Mensch ist ein
Mensch, der Drogen nimmt, Burroughs
hat sie genommen, hat ihre Wirkung be
schrieben. Und in der Engführung mit
der ausgelebten und geschilderten Homo
sexualität der Hauptfigur zeigt sich dann
auch, warum „Naked Lunch“, dem „Un
derground“ enthoben und abgestellt ne
ben Goethe und Schiller, zu einem der
wichtigsten und besten Romane des 20.
Jahrhunderts wurde. Es ist der Diskurs
der Körperlichkeit, es gibt kaum ein
Buch so voller verunstalteter, verformter
Körper, reduziert auf ihr physisches Ver
langen, die Burroughs konsequent mit ei
ner ihm eigenen Ästhetik des Hässlichen
gestaltet, die sich um nichts kümmert.
Rücksichtslos wie Entzugserscheinun
gen, die einen überkommen.
嘷
i Info: William S. Burroughs: „Naked
Lunch – Die ursprüngliche Fassung“.
Herausgegeben von James Grauerholz
und Barry Miles. Aus dem Englischen
von Michael Kellner. Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag, München 2009,
448 S., 24,90 Euro.
Nach knapp 300 Seiten resümiert der
Freiburger Schriftsteller KarlHeinz Ott,
Jahrgang 1957, der zuletzt den musika
lischmelodiös brillanten Roman „Ob
wir wollen oder nicht“ vorgelegt hat, in
seinem großangelegten Essay „Tumult
und Grazie. Über Georg Friedrich Hän
del“: „So viel arkadischen Süden, so viel
musikalisch vor
weggenommenen
Eichendorff,
so
viel
Morgenlicht
und elysischen Frie
den wie bei Händel
finden wir selten
bei einem Kompo
nisten, zumal es ei
ne Schönheit ist,
der nie die starken
Kontraste fehlen,
weshalb bei ihr im
mer auch die Dank Büste von Georg Friedbarkeit für ein In rich Händel.Foto:Endig
nehalten
mit
schwingt, das als Gnade erlebt wird.“
Da es vom „Privatmann Händel“ allzu
wenig gesicherte Fakten gibt, hält sich der
ehemalige Musikdramaturg Ott an die Mu
sik und die Kulturgeschichte der durchaus
schillernden Epoche Händels. Im Februar
1685 wird der Komponist in Halle als Sohn
eines angesehenen Arztes geboren. Er ist
nur wenige Wochen älter als Johann Sebas
tian Bach und nur ein gutes halbes älter
Jahr als Domenico Scarlatti. Doch die „sti
listischen Unterschiede“ zwischen den drei
Komponisten sind überaus „frappant“.
So ist es immer wieder diese unglei
che Zeitgenossenschaft, die Ott meister
haft lebendig werden lässt. Es sind des
halb auch weniger die übersichtlichen
Stationen in Hamburg, Italien und Lon
don im Leben Händels, denen Ott auf der
Spur ist, als vielmehr dem Facettenreich
tum einer keineswegs „stinklangweiligen
Barockmusik“, wie das erste von insge
samt acht Kapiteln überschrieben ist.
Zwar arbeitet sich Ott zunächst etwas
zu forciert am längst überholten abquali
fizierenden Urteil Adornos ab, und er
rennt auch mehr oder weniger offene Tü
ren ein, wenn er eine Lanze für die affekt
geladene Barockmusik und eine entspre
chende Aufführungspraxis bricht, doch
spielt der Essayist gekonnt die Tastatur
dessen, der sein Material souverän be
herrscht. Bekannte Geschichten wie die
des Duells mit Mattheson oder der Wett
streit mit Scarlatti bettet Ott immer wie
der leicht in seine Reflexionen ein.
Neue Details aus dem Leben des am 14.
April 1759 in London verstorbenen Kompo
nisten vermag Ott zwar nicht zu liefern,
dennoch steckt seine HändelLeidenschaft
dank einer Fülle sinnlicher Beschreibun
gen an, ganz gleich, ob sie den großen
Opern oder weniger bekannten Oratorien
gilt. Wer Händel in seinen kulturge
schichtlichen Zusammenhängen begreifen
oder zumindest sehen will, der nehme die
sen Essay, der sein Thema mit immer neu
en Volten umschreibt und umschreibt,
eben „Tumult und Grazie“ in einem, wie es
für die Barockzeit mit ihren vielen Un
gleichzeitigkeiten angemessen erscheint.
嘷
i Info: KarlHeinz Ott: „Tumult und Gra
zie. Über Georg Friedrich Händel“.
Hoffmann und Campe, Hamburg,
2009. 318 Seiten, 22 Euro.
Eine evangelische Nonne erzählt
Auf der Suche nach Wahrheit / Von Heidemarie Winter-Lehming
Der erste Eindruck täuscht. Es handelt
sich nicht um die Lebensgeschichte einer
Nonne. Katharina Schridde erzählt von
den bisher knapp 45 Jahren ihres Lebens
als einer Berg und Talfahrt. Jetzt erst
sieht sie den roten Faden, die Hinentwick
lung zum Glauben, zu der Gemeinschaft
der Communität Casteller Ring – das
sind evangelische Benedikti
nerinnen. Aber die ersten
Zweidrittel des Buches be
schreiben ein anderes Leben.
Eine Gratwanderung zwi
schen problematischem El
ternhaus, Leistungssport, bru
talen sexuellen Erfahrungen
und einer Magersucht, die bis
heute Nachwirkungen zeigt.
Nun ist sie angekommen,
doch der „tiefen Wahrheit“ ist
sie weiterhin auf der Spur.
Eigentlich ist es erschüt
terndes Bekenntnis, auf wel
che Gleise Menschen geraten können und
wie viel oder wie wenig sie die Entwick
lung beeinflussen können. Ohne Proble
me in der Schule und mit großen Hoffnun
gen als Schwimmerin, wird das Mädchen
aus den „Innenräumen“, die es sich ge
baut hat, in die Realität katapultiert. Die
Eltern wollen sich trennen. Daraufhin
legt sich die Zwölfjährige „eine dicke Eis
schicht“ um ihr Herz. Sie verlässt sich
auf niemanden mehr. Gott als einen „fes
ten Bezugspunkt“ gibt es für sie in dieser
Zeit noch lange nicht. Es beginnt eine
100 Seiten lange Suche nach Halt, nach
einem Beruf, nach Zuneigung, nach dem
Sinn dessen, was sie da machte. Jeder
Mensch realisiert und verarbeitet Stress
situationen anders. Katharinas neuer Le
bensinhalt wird ihr Sport, ih
ren seelischen „Glaspalast“
schirmt sie gegen jede Fremd
einwirkung ab.
Die Geschichte der Nonne
Katharina
Schridde
hat
nichts von „auserwählt sein,
von der Hand Gottes“. Und
doch beschreibt sie einen
Weg, der immer die Möglich
keit beinhaltet, bei ihm anzu
kommen. Vielleicht sollte
man das Leben wirklich so be
greifen: als ein Angebot an
Wegen. Ob man ein großes
Ziel braucht, gibt das Buch nicht preis.
Aber die Suche nach dem „von Gott be
rührten Leben“, nach dem täglichen Neu
beginn, zeugt von einer großen Lebendig
keit. Und die brauchen alle, egal ob Non
ne oder nicht.
嘷
i Info: Katharina Schridde: „. . .und
plötzlich Nonne“. HerderVerlag, Frei
burg 2009, 178 S., 16,95 Euro.