Wie funktioniert das neue Begutachtungsassessment?

Wie funktioniert das neue
Begutachtungsassessment zur Feststellung der
Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI?
Dr. Andrea Kimmel, Team Pflege MDS
11.12.2015 Aachen
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff heute
➞ § 14 SGB XI: Pflegebedürftig ist, wer
„…aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen
Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen
regelmäßig widerkehrenden Verrichtungen im Ablauf des
täglichen Lebens auf Dauer in erheblichem oder höherem
Maße der Hilfe bedarf…“
Verrichtungen in den Bereichen:
➞Körperpflege
➞Ernährung
Grundpflege
➞Mobilität
➞Hauswirtschaftliche Versorgung
Leistungsanspruch: Wie häufig fallen die Hilfestellungen an?
Wie hoch ist der Zeitaufwand der Pflegeperson?
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Die Kritik am Pflegebedürftigkeitsbegriff
 Zeit als Maßstab (scheinbare Genauigkeit)
 Gerontopsychiatrische (demenzbedingte)
Beeinträchtigungen werden erst dann berücksichtigt,
wenn diese sich auf die Verrichtungen auswirken  Die
Belastung der Angehörigen ist auch schon zu Beginn der
Erkrankung erheblich.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
PSG II – Der Pflegebedürftigkeitsbegriff
© MDS; Claudia Thoelen
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Neue Definition von Pflegebedürftigkeit (§ 14 SGB XI)
➞ Pflegebedürftig sind Personen, die gesundheitlich bedingte
Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und Fähigkeiten
aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen
➞ Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive
oder psychische Belastungen oder gesundheitlich bedingte
Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig
kompensieren oder bewältigen können
➞ Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für
mindestens 6 Monate bestehen
Quelle: BMG, Kabinettsentwurf eines Zweiten Pflegestärkungsgesetzes, August 2015
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Relevante Lebensbereiche nach § 14 Absatz 2
Mobilität (1)
Körperpflege
Ausscheidung
Kognition und Kommunikation (2)
Ernährung
Verhaltensweisen und psychische
Problemlagen (3)
Mobilität
Selbstversorgung (4)
Haushaltsführung
Umgang mit krankheits- und
therapiebedingten Anforderungen (5)
Einschränkung der Alltagskompetenz
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Gestaltung des Alltagslebens und
soziale Kontakte (6)
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit (§ 14) Grundsätzliche Unterschiede
 Verrichtungsbezogener Hilfebedarf  Selbständigkeit
eines Menschen bei der Bewältigung seines Alltags und
Notwendigkeit personeller Unterstützung
 Zeitbedarf spielt keine Rolle mehr (neue Modelle der
Personalbemessung notwendig)
 Defizite  Umfassende Sicht auf Pflegebedürftigkeit inkl.
seiner Ressourcen  Anschlussfähigkeit an die
Pflegepraxis
 Keine Unterscheidung mehr zwischen verschiedenen
Gruppen von Pflegebedürftigen (spiegelt sich auch in
Leistungen wieder)
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
§ 15 / § 18 SGB XI – Ermittlung des Grades der
Pflegebedürftigkeit
© MDS; Werner Krüper
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit (§ 15)
 Pflegebedürftige erhalten nach der Schwere der
Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der
Fähigkeiten einen Grad der Pflegebedürftigkeit
(Pflegegrad).
 Der Pflegegrad wird mit Hilfe eines pflegefachlich
begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt.
 Das Begutachtungsinstrument ist in sechs Module
gegliedert, die den sechs Bereichen in § 14 Absatz 2
entsprechen.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Neuer Maßstab in der Begutachtung von
Pflegebedürftigkeit
➞ Grad der Selbstständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten
oder Gestaltung von Lebensbereichen
➞ Einbußen in der Selbständigkeit  Abhängigkeit von personeller
Hilfe
➞ nicht nur bei einigen Verrichtungen der Grundpflege
➞ sondern in allen relevanten Bereichen der elementaren
Lebensführung
Was kann jemand und was nicht?
➞ Ressourcen!
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Das Begutachtungsverfahren
Angaben zur Person und Begutachtungssituation
Anamnese
Wohn- und Lebenssituation
Versorgungssituation
Befunderhebung zu Schädigungen und
Beeinträchtigungen
N e u e s B e g u t a c h t u n g s i n s t r u m e n t:
Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der
Fähigkeiten
Empfehlungen (z.B. Heilmittel, Hilfsmittel, Reha,
wohnumfeldverbessernde Maßnahmen)
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Berechnung des
Pflegegrads
gemäß Anlagen 1
und 2 zu
§ 15 SGB XI des
Kabinettsentwurf
Bewertung der Selbständigkeit
Selbständigkeit …
• … ist die Fähigkeit einer Person, eine
Handlung oder Aktivität allein, d. h.
ohne Unterstützung einer anderen
Person durchführen zu können.
Selbständig …
• … ist auch, wer eine Handlung unter
Nutzung von Hilfsmitteln durchführen
kann.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Ausprägungen
0
selbständig
1
überwiegend selbständig
2
überwiegend unselbständig
3
unselbständig
Bewertung der Selbständigkeit
1 = überwiegend selbständig
 Die Person kann den größten Teil der Aktivität selbständig
durchführen.
 Dementsprechend entsteht nur geringer/mäßiger Aufwand für die
Pflegeperson.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Bewertung der Selbständigkeit
2 = überwiegend unselbständig
 Die Person kann die Aktivität nur zu einem geringen Anteil
selbständig durchführen.
 Es sind aber Ressourcen vorhanden, so dass sie sich beteiligen kann.
 Dies setzt ggf. ständige Anleitung oder aufwändige Motivation auch
während der Aktivität voraus oder Teilschritte der Handlung müssen
übernommen werden.
 Zurechtlegen und Richten von Gegenständen, wie-derholte
Aufforderungen oder punktuelle Unterstützungen reichen nicht aus.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Bewertung der Selbständigkeit
3 = unselbständig
 Die Person kann die Aktivität in der Regel nicht selbständig
durchführen bzw. steuern, auch nicht in Teilen.
 Es sind kaum oder keine Ressourcen vorhanden. Motivation,
Anleitung, ständige Beaufsichtigung reichen auf keinen Fall aus.
 Die Pflegeperson muss alle oder nahezu alle Teilhandlungen
anstelle der betroffenen Person durchführen.
 Eine minimale Beteiligung ist nicht zu berücksichtigen (z. B. wenn
sich die Person nicht durchgehend und nur mit kleinen
Teilhandlungen beteiligt).
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Ein Fallbeispiel
 Herr N. ist 86 Jahre alt, wohnt zu Hause und wird von seiner
Ehefrau versorgt.
 Herr N. leidet unter kognitiven Funktionseinschränkungen und
Mobilitätseinschränkungen aufgrund altersbedingter
körperlicher Abbauprozesse. Er hat Gleichgewichtsstörungen,
eine Stuhlinkontinenz und ein Prostatakarzinom mit
Harnverhalt.
 Er hätte heute einen zeitlichen Hilfebedarf von 79 Minuten
(Pflegestufe I) und eine eingeschränkte Alltagskompetenz.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Anamnese und Befunderhebung
Pflegerelevante Vorgeschichte Anamnese (persönliche Einschätzung
zu den derzeitigen gesundheitlichen und pflegerischen
Problemen)/Pflegerelevante Fremdbefunde
Herr N. leidet unter kognitiven Funktions- und
Mobilitätseinschränkungen aufgrund altersbedingter körperlicher
Abbauprozesse.
Er hat eine Stuhlinkontinenz und Harninkontinenz. Seit einiger Zeit
verschlechtert sich sein Zustand.
Er kann nicht mehr Treppensteigen. Auch beim Duschen benötigt er
zunehmend Hilfe. Er wird vergesslicher (beginnende Demenz).
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Anamnese und Befunderhebung
Gutachterlicher Befund:
Herr N. ist nach eigenen Angaben ca. 178 cm groß, 80 kg schwer.
Er öffnet selbst die Wohnungstür, hat verlangsamte Bewegungen. Er
hat Gleichgewichtsstörungen, das Gangbild ist unsicher.
Der Händedruck ist schwach. Nackengriff: die Hände erreichen die
Ohren. Schürzen – und Pinzettengriff sind nur unvollständig möglich.
Er wirkt zeitweise abwesend und verliert während des Gesprächs
mehrmals den Faden.
Er hat ein gepflegtes Erscheinungsbild.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 1: Mobilität
überwiegend
selbstständig selbstständig
überwiegend
unselbstständig
unselbstständig
4.1.1 Positionswechsel im Bett
0
1
2
3
4.1.2 Halten einer stabilen Sitzposition
0
1
2
3
4.1.3 Umsetzen
0
1
2
3
4.1.4 Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs
0
1
2
3
4.1.5 Treppensteigen
0
1
2
3
Summe = 5 Punkte  erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit (§ 15)
Es ist unerheblich:




ob die jeweilige Aktivität anfällt
die Häufigkeit oder der Zeitbedarf
Erschwernisfaktoren
die konkreten Wohnumfeldbedingungen
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 1: Mobilität
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Nochmals der Unterschied auf einem Blick
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 2: Kognitive
und kommunikative
Fähigkeiten
Summe = 9 Punkte
erhebliche
Beeinträchtigung der
kognitiven und
kommunikativen
Fähigkeiten
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 3:
Verhaltensweisen
und psychische
Problemlagen
Summe = 0 Punkte  keine
Beeinträchtigung der
Selbststeuerungskompetenz
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 4:
Selbstversorgung
Summe = 13 Punkte 
erhebliche Beeinträchtigung der
Selbständigkeit in der
Selbstversorgung
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 5
5
2
Maßnahmen kommen viermal
bis achtmal täglich vor = 2
Punkte
4
Maßnahme kommt einmal bis
mehrmals wöchentlich vor = 1
Punkt
Gesamtpunktwert: 3 Punkte
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und soziale
Kontakte
Summe = 9 Punkte  schwere Beeinträchtigung der Selbständigkeit
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Welchen Pflegegrad würde der Gutachter empfehlen?
© MDS; Werner Krüper
© MDS; Werner Krüper
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Punkte in
Modul 1
Punkte in
+
Modul 2
Punkte in
Modul 4
+
Punkte in
+
Modul 5
Punkte in
Modul 6
+
oder
Punkte in
Modul 3
höherer Wert fließt ein
Gewichtung
Gewichtung
Gewichtung
Gewichtung
Gewichtung
10 %
15 %
40 %
20 %
15 %
Zuordnung zu
gewichteten
Punkten
Zuordnung zu
gewichteten
Punkten
Zuordnung zu
gewichteten
Punkten
Zuordnung zu
gewichteten
Punkten
Zuordnung zu
gewichteten
Punkten
Gesamtpunkte
12,5 bis unter 27 27 bis unter 47,5 47,5 bis unter 70
1
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
2
3
70 bis unter 90
90 bis 100
4
5
Berechnung des Pflegegrades
 Mobilität: 5 Punkte = 5 (von max. 10)
 Kommunikation und Kognition: 9 = 7,5 (von max. 15)
 Selbstversorgung: 13 = 20 (von max. 40)
 Umgang mit krankheits- und therapiebedingten
Anforderungen: 3 = 10 (von max. 20)
 Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte: 9 = 11,25
(von max. 15)
Herr N. erhielte einen Gesamtscorewert von 53,75 Punkte. Dies
entspricht dem Pflegegrad 3.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Versorgungsplan nach § 7a SGB XI /
Maßnahmenplanung
Bereich 7: Außerhäusliche Aktivitäten
➞ selbständiges Verlassen der Wohnung oder des Wohnbereichs
➞ sich außerhalb des Wohnbereichs oder der Einrichtung selbstständig
fortbewegen
➞ öffentliche Verkehrsmittel nutzen oder in einem Pkw mitfahren
Bereich 8: Haushaltsführung
➞ Einkaufen für den täglichen Bedarf
➞ Zubereiten einfacher Mahlzeiten
➞ Aufräum- und Reinigungsarbeiten oder Regelung finanzieller
Angelegenheiten
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Empfehlungen zum Erhalt und zur Verbesserung der
Selbständigkeit
BRi gemäß § 17:
•
Heilmittel als Einzelleistungen
•
Verbesserung des individuellen
Wohnumfeldes ( § 40 Abs. 4 SGB XI)
•
notwendige Hilfsmittel ( § 33 SGB V) und
Pflegehilfsmittel ( § 40 SGB XI)
•
präventive Maßnahmen,
•
edukative Maßnahmen
•
Leistungen zur medizinischen
Rehabilitation
Darüber hinaus sind Vorschläge zur ärztlichen
Behandlung sowie Vorschläge zur
Verbesserung / Veränderung der
Pflegesituation zu dokumentieren.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Empfehlungen zur Förderung der Selbständigkeit
(über die bisherige Versorgung hinaus)
Krankengymnastik
Behindertengerechter Umbau der
Dusche, erhöhter Toilettensitz
Rollator
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Empfehlungen zur Förderung der Selbständigkeit
(über die bisherige Versorgung hinaus)
Hirnleistungstraining
Adaptionshilfe zum
Lesen und Schreiben
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Empfehlungen zur Förderung der Selbständigkeit
(über die bisherige Versorgung hinaus)
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Zusammenfassung
 NBA = neue, fachlich fundierte Grundlage für die Bemessung von
Pflegebedürftigkeit
 Das NBA erfasst umfassend die für Pflege und Betreuung
relevanten Sachverhalte und legt damit die Grundlage für die
nötige Leistungsgewährung.
 Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff gewährleistet gute Anschlüsse
zur Pflegeplanung in den Einrichtungen, zum Qualitätsmanagement.
 Ziel muss sein, dass sich neue Sichtweise auf Pflegebedürftigkeit
auch in der Leistungserbringung niederschlägt.
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!
[email protected]
Dr. Andrea Kimmel; Team Pflege MDS