Das Lauschen lernen - Katholische Pfarreiengemeinschaft Simmern

Das Lauschen lernen
Predigt – 29. November 2015 (1. Advent)
Lies: Jesaja 42,5-9
Das Lauschen lernen. Darum soll es heute am 1. Advent gehen. Wir betrachten dazu ein Gedicht
der jüdischen Dichterin Nelly Sachs: „Lange haben wir das Lauschen verlernt“:
Lange haben wir das Lauschen verlernt!
Hatte Er uns gepflanzt einst zu lauschen
Wie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer,
Wollten wir wachsen auf feisten Triften,
Wie Salat im Hausgarten stehn.
Wenn wir auch Geschäfte haben,
Die weit fort führen
Von Seinem Licht,
Wenn wir auch das Wasser aus Röhren trinken,
Und es erst sterbend naht
Unserem ewig dürstenden Mund –
Wenn wir auch auf einer Straße schreiten,
Darunter die Erde zum Schweigen gebracht wurde
Von einem Pflaster,
Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr,
O, nicht unser Ohr dürfen wir verkaufen.
Auch auf dem Markte,
Im Errechnen des Staubes,
Tat manch einer schnell einen Sprung
Auf der Sehnsucht Seil,
Weil er etwas hörte,
Aus dem Staube heraus tat er den Sprung
Und sättigte sein Ohr.
Presst, o presst an der Zerstörung Tag
An die Erde das lauschende Ohr,
Und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurch
Werdet ihr hören
Wie im Tode
Das Leben beginnt.
Da ist eine große Spannung. Auf der einen Seite eine Vision, Sehnsucht und Weite, und auf der
anderen Seite sauber geordnetes Leben, Enge. Begrenzt wie Salat im Hausgarten, eng wie
Wasserrohre, wie dunkle Geschäfte. Tot wie Straßenpflaster, das die Erde unter sich begräbt.
Für die Sehnsucht steht das Ohr und sein Lauschen: wie auflaufende Wellen raunen, wie
Dünensand wandert, wie Dünengras sich wiegt. Sie deuten auf das Jenseits hinter den
Horizonten.
Das Ohr und sein Lauschen: Wir dürfen es nicht verkaufen, es auf gar keinen Fall verlieren oder
es gering schätzen. Nicht sagen: Ich hab es schon tausendmal, ich kann es nicht mehr hören.
Genau das Gegenteil mahnt Nelly Sachs zu tun: Es gilt, das Ohr wieder und wieder zu öffnen.
Lauschen, das ist mehr als Hinhören und Zuhören. Lauschen heißt, sich aus der Enge hinaus zu
hören, sich durch die Dinge hindurch zu hören. Es gibt einen Klang hinter den Worten und den
Dingen. Lauschen bedeutet, die Herztöne der Stille und des Schweigens wahrzunehmen... Ihr
werdet hören, durch den Schlaf hindurch werdet ihr hören... Das sättigt euer Ohr.
Das Gedicht begleitet uns aus dem kleinen, engen Hausgarten in die Weite der Unbegrenztheit,
in die Weite der Möglichkeiten Gottes. Es öffnet Ahnungen, die wir nicht ins Genaue hinein
beschneiden bedürfen. Es weckt Bilder, die uns in ein Anderes hinein locken, in ein Größeres.
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Es spricht der göttlichen Unendlichkeit das Wort. Gott ist unendlich und frei, ganz anders als
unsere Vorstellungen von ihm. Wir werden ihn niemals handlich in den Griff bekommen. Aber
Gott kann uns seine Unendlichkeit und Freiheit schenken, wenn er sich uns öffnet.
Das Ohr und sein Lauschen: Das ist der Zugang zu Gott. Der Advent lädt uns ein zum Dasein und
zum Warten, zur Hingabe und zur Geduld, zum Annehmen und zum Dienen. Der Advent lädt
uns ein, das Lauschen zu lernen.
Auch auf dem Markte,
Tat manch einer schnell einen Sprung
Auf der Sehnsucht Seil,
Weil er etwas hörte,
Und sättigte sein Ohr.
Presst, o presst
An die Erde das lauschende Ohr,
Und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurch
Werdet ihr hören
Wie im Tode
Das Leben beginnt.
(nach Albert Altenähr, Gottes Nähe feiern - die Eucharistie neu entdecken,
www.erzbistum-koeln.de)
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