Evolution der Stadt

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Tages-Anzeiger – Dienstag, 29. März 2016
Bellevue
Züritipp
Agglo Heute aus Zürich
Evolution der Stadt-Quartiere
Musical Judas rockt
Jesus Christ Superstar
Der Texter Tim Rice und der damals
noch wenig bekannte Komponist Andrew Lloyd Webber schreiben 1969 eine
Rockoper über die letzten Tage von Jesus. Nachdem davon binnen eines Jahrs
zwei Millionen Exemplare verkauft worden sind, wird «Jesus Christ Superstar»
1971 auf die Bühne gebracht. Am inte­
ressantesten ist die Figur des Judas: Der
ist ein Freund von Jesus und befürchtet,
dieser beginne vor lauter Begeisterung
seiner Fans selbst zu glauben, dass er
der Sohn Gottes sei. Nun ist das Musical
unter der Aufsicht von Rice und Lloyd
Webber neu inszeniert worden und
kommt in englischer Sprache auch nach
Zürich. (bod) Theater 11, Thurgauerstr. 7,
19.30 Uhr, bis 3. 4.
Diese Kolumne hat
die Redaktion des
«Tages-Anzeigers»
vor einem Jahr
gegründet, um den
Leserinnen und
Lesern klarzu­
machen: Es gibt
Unterschiede
zwischen der Stadt
und der sie umgebenden Agglomeration und selbstredend auch zwischen
Städtern und Agglobewohnern.
Die bisherigen Beschreibungen
deuten darauf hin, dass es genetische
Unterschiede sind, dass Städter höher
gestellt sein müssen als Agglos, etwa so
wie Rennpferde höher einzustufen sind
als Maulesel. Aber aufgepasst; Evolution ist ein Prozess, in dem Schwache
stärker werden können. Und wenn sie
stark sind, können sie wieder aus­
sterben. Genetische Vorteile sind also
keine Garantie für ewigen Vorsprung.
Dass die Stadt Zürich nicht immer so
stark und gross war wie heute, zeigt
der Blick zurück. Bis 1893 endete
Zürich bereits an der Rämistrasse.
Jenseits der Sihl und am Hirschengraben begann die Agglomeration. Im
Seefeld, in Hirslanden und natürlich im
Kreis 4 in Aussersihl lebten damals
Agglos. Kaum zu glauben, das ist erst
gut 100 Jahre her, evolutionstechnisch
gesehen ein Wimpernschlag.
Über das Leben in der damaligen
Agglomeration geben die Wappen der
Zürcher Stadtquartiere Auskunft. Sie
sind quasi die heraldischen Zeugen,
dass es selbst in urbanen Kerngebieten
eine Zeit vor dem aufrechten Gang gab.
Im Wappen von Hirslanden ist zum
Beispiel eine goldene Hirsenrispe
abgebildet. Richtig – am Hegibach
wurde einst die Hirse angebaut,
die heute im Tibits an trendige StadtVeganer abgegeben wird.
Das Wappen von Aussersihl zeigt
einen schwarzen Anker. Ist er das
Zeichen, dass in diesem Teil der Agglomeration einst Schiffer lebten? Nein, ist
er nicht. Laut dem Zürcher Wappenbuch ist der Anker ein christliches
Symbol der Hoffnung. Als Aussersihl
1787 von Wiedikon abgetrennt wurde,
wollten die Oberen den Anker im
Wappen haben und verbanden damit
den Wunsch, die neue Gemeinde möge
sich gut entwickeln. (Wer heute durch
die Langstrasse geht, kann selber
entscheiden, ob sich die Hoffnungen
erfüllt haben.)
Auch Albisrieden war Agglo. Die
Gemeinde pflegte allerdings schon im
Mittelalter enge Beziehungen zur Stadt
und führte deswegen das goldene
Tatzenkreuz des Grossmünsters im
Wappen. Zu Albisrieden gehörte das
Quartier Triemli. Von einem Quartier
konnte man im 18. Jahrhundert aber
nicht reden. Es war ein Acker, auf dem
die Albisrieder Getreide pflanzten, das
sie im Grossmünster ablieferten.
Heute leben im Triemli viele Genossenschafter, die als besonders gute
Städter gelten. Ihr Wappen haben sie
selber gewählt und zwar erst vor gut
40 Jahren im Jahr 1972. Es zeigt weder
eine grossstädtische Blockrandüberbauung noch das Spitalhochhaus, das
im Triemli 1970 eröffnet wurde. Die
Genossenschafter wollten das Tatzenkreuz aus Albisrieden im Wappen,
dazu ein weisses Band für den Trüebenbach vom Uetliberg und eine
Schaufel als Symbol für die Landwirtschaft, die hier einst betrieben wurde.
Dieses Beispiel zeigt exemplarisch:
Auch Rennreiter sehnen sich im Inners­
ten nach dem Ritt auf einem Maulesel,
oder: Das Wort Agglomeration ist in
Wahrheit besser, als es tönt.
Daniel Schneebeli
Der grosse Knall
Foto: Pamela Raith/PD
Dienstag
Kino
Le mort du dieu serpent
Von Damien Froidevaux
F 2014; 87 min.; (Ov / e)
Xenix, Helvetiaplatz, 17 Uhr
Hors Saison
Von Daniel Schmid
F / CH / D 1992; 93 min.
Filmpodium, Nüschelerstr. 11, 18.15 Uhr
Devil’s Knot
Von Atom Egoyan
USA 2013; 114 min.
Filmpodium, Nüschelerstr. 11, 20.45 Uhr
Angst essen Seele auf
Von Rainer Werner Fassbinder
D 1974; 87 min.
Xenix, Helvetiaplatz, 21.15 Uhr
Konzerte
Rolf Lislevand, Cap’s Log
Jazz / Rennaissance. Mit Sylwia Bialas,
Esther Bächlin, Herbie Kopf, Asaf Sirkis
«Artist in Residence Herbie Kopf»
Moods, Schiffbaustr. 6, 20.30 Uhr
Prague Festival Orchestra,
Pargue Festival Chorus
Klassik / Folk / Klezmer
«Jewish Song Festival»
Leitung: Michael Zukernik
Tonhalle, Claridenstr. 7, 19.30 Uhr
Musikkollegium Winterthur
Klassik. Mit Andreas Ottensamer
Leitung: Roberto Gonzales Monjas
Werke von C. Ph. Stamitz,
Brahms, Schubert
Kirche St. Peter, St. Peter-Hofstatt, 19.30 Uhr
Bühne
Einige Nachrichten an das All
Theater. Von Wolfram Lotz
Regie: Bram Jansen
Schauspielhaus Pfauen, Kammer,
Rämistr. 34, 20.30 Uhr
Nachtstück
Theater. Von Barbara Frey, Fritz Hauser
Regie: Barbar Frey
Schauspielhaus Schiffbau, Matchbox,
Schiffbaustr. 4, 18 Uhr
Dominic Deville
Comedy. «Bühnenschreck»
Theater am Hechtplatz, Hechtplatz 7,
20 Uhr
Restless
Ballett. Choreografien von William Forsythe, Douglas Lee, Paul Lightfoot u.a.
Opernhaus, Theaterplatz 1, 19 Uhr
Familie / Kinder
Basteln Klein mit Gross
Für Vorschulkinder
in Begleitung eines Erwachsenen
GZ Heuried, Döltschiweg 130, 14.30 - 18 Uhr
Die wilden Kerle - Die Legende lebt
Kinderfilm. Von Joachim Massanek
D 2016; 111 min.
Ab 8 Jahren
Arena 1, Kalanderpl. 8, 13.30 Uhr, 16 Uhr
Dies & Das
Folientango
Powerpoint-Karaoke-Event
Infos: www.ambossrampe.ch
Amboss Rampe, Zollstr. 80, 19 Uhr
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Casino Gitano
Country / Rock ’n’ Roll / Alternative
Support: Larry Bang Bang
Rote Fabrik, Seestr. 395, 21 Uhr
Cheesesticks Club
Gypsy / Singer-Songwriter / Jazz
Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1, 20 Uhr
Clubs
Afterwork im Feufi
R ’n’ B / Hip-Hop / House
Mit DJ Aystep
Labor Bar, Schiffbaustr. 3, 17 Uhr
Standart
House
Mit DJs D. Lewis, Dani Fabrega, Lacasaa
Dal Nastro, Sihlporte 3, 23 Uhr
An einem Klassentreffen
wird geschossen: Im Roman
«Der Spartaner» von Tom
Zürcher ist die Titelfigur
der grosse Abwesende.
Thomas Widmer
Warum hat der Spartaner sieben Jahre
nach der Matura, an der Klassenzusammenkunft eine Pistole gezogen und
­geschossen? Das möchten viele wissen,
auch die Polizei. Einer nur scheint den
Grund zu kennen: der einzige Freund
des Spartaners. Eine junge Psychiaterin
führt das Gespräch mit ihm. Sie ist freilich zwischenzeitlich überfordert, worauf ein älterer Kollege einspringt.
Über die Wochen und Monate weicht
der Freund des Spartaners in der Privatklinik den Fragen zum «grossen Knall»,
wie er den Vorfall nennt, aus. Oder dann
biegt er diese Fragen kreativ um und beginnt zu schwadronieren. «Wenn Ihnen
jemand zu nahe kommt, schrauben Sie
sich in Ihre Fantasie», sagt der Psychiater. Beide Ärzte tun sich schwer mit
ihrem Patienten, dessen Ausflüchte sie
ärgern – den Leser aber amüsieren.
Eine schwierige Wahrheitssuche:
­Davon handelt der eben erschienene Roman des Zürcher Texters Tom Zürcher
mit dem Titel «Der Spartaner». Grosser
Abwesender des Romans ist ebendiese
Titelfigur. Der Spartaner, dessen Verbleib im Verlauf des Buches klar wird,
heisst so, weil er den anderen in der
Klasse durch Ballastlosigkeit imponierte.
Durch Ungebundenheit. Durch eine Art
Freiheit. Nach der Matura und dem Tod
des Vaters zieht er in eine möbellose
Dachkammer, schläft auf dem Boden,
mit dem Rucksack als Kissen.
In regelmässigen Abständen treffen
sich die junge Leute auch nach der Matura in der Bar, die sie «Mörder» getauft
haben. Jeder in der Gruppe verkörpert
einen sozialen Typus, und fast jeder hat
einen Spitznamen. Fetti und Winz sind
die Kapitalisten, die bald ein florie­
rendes Partyunternehmen besitzen. Der
Spartaner wiederum ist der Aussen­
seiter. Er wird Künstler.
Komödie, aber auch Tragödie
Philipp Fankhauser & Margie Evans *
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Unplugged» gehen auf Tournee. Der bekannte Fankhauser-Sound erhält ein neues
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09.04.2016, 20.00 Uhr, Das Zelt,
Kasernenareal, Kanonengasse 20, Zürich
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Imponierend die Gabe des Zürcher Autors Tom Zürcher, in knappen Anekdoten Charaktere zu zeichnen. Tempo und
Leichtigkeit gehören zu den Qualitäten
seines Romans. Über Winz, das Finanzgenie, heisst es: «Als er die Klassenkasse
übernimmt, ist sie leer. Am Ende reisen
sie in der Chartermaschine ans Meer
und nicht wie die anderen Abschlussklassen im Autobus.»
Eine zweite Qualität des Romans besteht in der Verwebung von Komödie
und Tragödie. Zürcher hat in den Neun-
Eine Zürcher Geschichte über Freiheit und Ungebundenheit. Foto: PD
zigerjahren den Krimi «Högo Sopatis»
publiziert, eine quasselige Genreparodie. Im «Spartaner» erweist sich der
heute 50-Jährige als gereifter Schrift­
steller und kombiniert den Humor mit
Ernsthaftigkeit. Gekonnt verzögert er
die Erkenntnis des Lesers und des Psy-
Tom Zürcher
Schriftsteller
chiaterduos, wie das mit der Pistole und
den Schüssen war. Warum der Spartaner ein Totalverweigerer ist. Und weshalb der Freund – ein Erwachsener, der
nicht erwachsen sein will – nicht offenlegen kann, was war.
Mehr darf man von dieser Geschichte
nicht verraten, wenn man nicht die
Spannung töten will. Der junge KlinikPatient sei im Gymi ein sehr begabter
Aufsatzschreiber gewesen; seine Texte
seien kurios gewesen, aber auch unterhaltsam und nicht ohne Tiefsinn, heisst
es an einer Stelle. Das Gleiche lässt sich
über diesen originellen Roman sagen.
Tom Zürcher: Der Spartaner.
Lenos. 256 S., 26.90 Fr.