Vom Sinn der Bildung - Institut für Theoretische Astrophysik

Vom Sinn der Bildung
Matthias Bartelmann
Festrede zum 50. Jubiläum des Dientzenhofer-Gymnasiums
Bamberg, 02.10.2015
Sehr verehrte Frau Cleary,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Festgäste,
das Dientzenhofer-Gymnasium wird 50 Jahre alt. Selbst gerade 50 geworden, kann ich nur bekräftigen, dass sich unsere Schule damit im besten Alter befindet: erfahren genug, um Aufregungen mit
Gelassenheit zu begegnen, aber noch jung genug, um sich mitreißen und begeistern zu lassen
und immer wieder Neues zu wagen.
Von 1975 bis 1984 war ich Schüler in der Feldkirchenstraße, und ich habe diese Zeit auch
heute noch in lebhafter und bester Erinnerung. Rückschauend meine ich, dass ich hier viel gelernt
und eine prägende Phase meines Lebens durchlebt habe. Die lebendigsten Erinnerungen betreffen
aber weniger die vielen Unterrichtsstunden, obwohl meine gymnasiale Schulzeit am Ende etwa
11000 Schulstunden umfasst haben muss.
Am eindringlichsten in Erinnerung sind mir vielmehr solche Stunden geblieben, die mit Begeisterung verbunden waren. Das konnte die Begeisterung darüber sein, gerade etwas verstanden zu
haben; das konnte die Begeisterung sein, die sich einstellt, wenn man gemeinsam eine Aufgabe
gelöst hat; vor allem aber war es begeisternd, wenn spürbar wurde, dass die Lehrerin oder der
Lehrer eins mit ihrem oder seinem Fach war; wenn das Fach gewissermaßen aus dem Lehrer
sprach und dadurch lebendig wurde; wenn nicht die Vermittlung eines Stoffs im Zentrum stand,
sondern wenn dieser Stoff in der Person des Lehrers greifbar wurde, keiner Vermittlung mehr
bedurfte, sondern Kraft der Persönlichkeit des Lehrers unmittelbar im Raum stand.
Ich habe viele solcher Stunden erlebt, und ich bin dankbar dafür. Einige davon wurden für
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meinen Lebensweg prägend, vor allem in Mathematik und Physik, aber auch in Deutsch, Religion
und vielen anderen Fächern. Vor allem waren es jene Stunden, die mehr Fragen aufwarfen, als
sie Antworten boten. Sie ließen spüren, welche Freude es bereiten und wie befriedigend es
sein konnte, sich in bisher Unbekanntes hineinzudenken oder bisher unvermutete Fähigkeiten
entstehen zu sehen. Wo der Unterricht zu einer gemeinsamen Anstrengung von Lehrern und
Schülern wurde, da wurde er unvergesslich.
Meine Mitschüler und ich haben damals wesentlich mehr Zeit in der Schule verbracht, als
der Unterricht allein erfordert hätte. Über Jahre hinweg war die Unter- und Mittelstufenbibliothek
ein Treffpunkt am Nachmittag, wo wir zusammenkamen, Tee tranken und oft bis in den Abend
miteinander redeten. Überhaupt erinnere ich mich an meine Schulzeit, auch die im Gymnasium
verbrachte, als eine Lebensphase, in der ich immer Zeit hatte. Das lag nicht daran, dass wir damals
nennenswert weniger Schulstunden gehabt hätten. Hausaufgaben hatten wir auch zu erledigen.
Ich glaube, der wesentliche Unterschied zur heute oft beklagten Hektik und Zeitnot war, dass wir
weniger abgelenkt waren. Wir hatten so gut wie keine Elektronik, die unsere Zeit ganz ohne viel
Zutun hätte füllen können.
Jedenfalls waren wir oft und gern an der Schule. Wir haben auch viel Unsinn angestellt. Als
unsere Abiturprüfungen schon vorbei waren, haben wir die Rundspruchanlage heimlich gekapert
und so präpariert, dass sie unaufhaltsam die gesamte Schule fast eine halbe Stunde lang mit
unserer Meinung von den Eigenschaften unserer Lehrer beschallte, von Musik unterbrochen. Den
Text und die Musik haben wir in einer viele Tage währenden Arbeit auf ein damals professionelles
Tonband gespielt, Spur für Spur. Ich habe die Aufnahme heute noch, zeitgemäß in MP3 übertragen.
Natürlich haben wir damals unsere Lehrer ein letztes Mal karikiert, bevor wir die Schule verließen,
aber ich meine, dass es respektvolle Karikaturen waren.
Zu den für mich unvergesslichsten Erinnerungen meiner Schulzeit gehört ein Skikurs, den
wir im Februar 1979 in Fieberbrunn in Tirol verbrachten. Der klare Sternhimmel in den kalten
Alpennächten hat mich mit Astronomie infiziert, als wäre ich von einem Virus befallen worden.
Unter der Anleitung eines wunderbaren Physiklehrers wurde aus einer Begeisterung für die
Astronomie eine Leidenschaft für die Astrophysik, die für mein Studium und meinen beruflichen
Weg entscheidend wurde. Mit unserem Physiklehrer bildeten einige interessierte Schüler und
ich eine Astronomische Arbeitsgruppe, die sich regelmäßig traf. Halb legale Handlungen, zu
denen auch die Bestechung der Putzfrauen mit Kaffee gehörte, ebneten den Weg zu einem
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selbst gebauten Schulplanetarium. Wir haben Schulfeste mitgestaltet und waren verblüfft, als
unsere aus zufälligen Sätzen zusammengezimmerten Horoskope mehr Glauben fanden als unsere
anschließende Beteuerung, der Computer habe diese Horoskope gerade eben zufällig aus Tabellen
von Satzbausteinen zusammengesetzt.
Ich erzähle Ihnen das nicht, um nostalgische Erinnerungen zu pflegen oder um meine Schulzeit
zu verklären. Wie es sich zum Geburtstag eines Gymnasiums gehört, verbinde ich damit natürlich
eine pädagogische Absicht.
Nach meinem Abitur habe ich 15 Monate Wehrdienst geleistet; danach ging ich nach München,
um Physik zu studieren. Ich habe mich auf die theoretische Physik spezialisiert, wurde theoretischer
Astrophysiker und beschäftige mich heute vor allem mit Kosmologie. Ich versuche zu verstehen, wie
unser Universum im Großen beschaffen ist, wie es sich entwickelt, wie die Strukturen entstehen
und anwachsen konnten, die das Universum durchziehen und wodurch diese Strukturen ihre
eigenartigen, universellen Eigenschaften bekamen.
Man könnte sagen, ich beschäftige mich mit vollkommen zwecklosen Fragen. Nichts von
dem, was ich durch meine Forschung herausgefunden habe oder noch herausfinden werde,
ist darauf angelegt, ins alltägliche Leben Eingang zu finden. Nichts davon hat einen konkreten,
materiellen Nutzen. Was meine berufliche Existenz vielleicht noch rechtfertigen könnte, ist auch
nicht meine Forschung, sondern die Lehre, die zu meinem Beruf gehört. Immerhin lehre ich auch
theoretische Physik, Astronomie und Astrophysik und trage dadurch wenigstens dazu bei, immer
neue Generationen junger Menschen in Physik auszubilden.
Soweit ich mich zurückerinnern kann, hat mich das scheinbar Nutzlose wesentlich mehr
interessiert als das unmittelbar Nützliche. Wir hatten damals in der Kollegstufe zwei sechsstündige
Leistungskurse. Sechs Stunden in beiden Fächern pro Woche; ich sagte ja schon, unserem
Gefühl nach hatten wir damals immer Zeit. In einem dieser Leistungskurse mussten wir eine
Facharbeit schreiben. Meine Facharbeit bestand darin, einen Sonnenspektrografen zu bauen, also
ein Gerät, mit dem das Sonnenlicht wie in einem Regenbogen in seine farblichen Bestandteile
zerlegt werden konnte. Mit diesem Sonnenspektrografen habe ich schließlich an heißen Tagen im
August 1983 das Spektrum der Sonne aufgenommen und auf den Aufnahmen die Fraunhoferlinien
mit einem ebenso selbstgebauten, schwachen Mikroskop identifiziert. Zum Einsatz kamen so
moderne Mittel wie Fotoplatten, und ein Fernglas musste eines seiner Objektive opfern. Ein
Mitschüler im Leistungskurs baute zu diesem Spektrografen mithilfe einer Fotodiode und eines
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Analog-Digital-Wandlers ein digitales Messgerät, mit dem ein damals erhältlicher Computer gerade
noch zurechtkam.
Wir hätten damals vielleicht auch etwas Sinnvolles tun können. Dazu hat uns niemand weder
angehalten noch aufgefordert, unsere Lehrer nicht und unsere Eltern auch nicht, und so haben
wir uns eben mit sinnlosen Dingen beschäftigt. Heute würde man vielleicht sagen, wir hätten
uns damals immerhin allerlei Kompetenzen angeeignet, aber darum ging es ja nicht. Es ging um
die Freude daran, aus eigener Kraft etwas herauszufinden. Die Physik, die wir im Leistungskurs
gelernt hatten, reichte dafür völlig aus.
Wir hatten damals viel Zeit, und wir haben sie genutzt, um teils außerhalb der Schule, teils
mit schulischer Anleitung unserer Nase nach zu gehen und die Interessen zu verfolgen, die uns
gerade in den Sinn kamen. Entscheidend war, dass wir für diese Interessen einen Nährboden in
der Schule fanden, und Gärtner, sprich Lehrer, die diesen Nährboden zu düngen verstanden.
Darauf will ich hinaus: Meine Schulzeit am Dietzenhofer-Gymnasium ist mir vor allem deswegen
in so guter und angenehmer Erinnerung geblieben, weil ich angeregt und herausgefordert wurde,
weil ich gefördert wurde in den Eigenschaften und Fähigkeiten, für die ich Anlagen mitgebracht
hatte.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle gestehen, dass ich, als mein Wehrdienst zu Ende ging,
ein Entlassungszeugnis bekam, in dem der lapidare Satz stand: Keine besonderen Fähigkeiten
”
erkennbar.“ Meine Lehrer am Dientzenhofer-Gymnasium hatten Gott sei Dank die Hoffnung nicht
so früh und nicht so schnell aufgegeben.
Meine gymnasiale Schulzeit war vor allem deswegen so schön, weil sie zweckfrei sein durfte.
Sie musste keinem äußeren Zweck dienen. Ihr alleiniger Sinn war es, Anlagen zu erkennen, Fähigkeiten zu entwickeln, Interessen anzuregen und Wissen zu vermitteln. Es war nicht wichtig, wofür.
Nicht die Ausrichtung auf eine spätere Anwendung oder einen späteren Nutzen war entscheidend,
sondern das Werden, die Entwicklung von Eigenschaften und Kenntnissen. Die durften wachsen,
ohne nach dem Ziel zu fragen. Ich glaube, das war ein wesentlicher, vielleicht der wesentliche
Unterschied zwischen meiner Schulzeit und der meiner Töchter, die vor Kurzem zu Ende gegangen
ist.
Ich möchte überzeugt und leidenschaftlich für eine zweckfreie Bildung argumentieren und
dafür, dass das Gymnasium eine der wichtigsten Stationen einer solchen zweckfreien Bildung
sein soll. Oft höre ich, das Gymnasium solle auf das Leben nach der Schule vorbereiten, und
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dafür müsse den Schülerinnen und Schülern eben mitgegeben werden, was sie im Leben erwarte.
Zugegeben – aber worin besteht eine gelungene Vorbereitung auf das Leben“? Ich meine, dass
”
es keine bessere Vorbereitung auf ein gelungenes Leben geben kann als eine, die entdeckt und
fördert, was in den Schülern angelegt ist. Zugleich meine ich, dass eine Vorbereitung, die sich an
der beruflichen Wirklichkeit orientiert und darauf schaut, welche Fähigkeiten von den Absolventen
erwartet werden, weitgehend ihren Sinn verfehlt. Gymnasiale Bildung soll, davon bin ich überzeugt,
nicht danach fragen, was ein Schüler später im Beruf können soll. Sie soll danach fragen, was
in dem Menschen angelegt ist, der als Schüler ins Gymnasium kommt, und dabei helfen, diese
Anlagen freizulegen und zu entwickeln.
Wie diese Freilegung und Entwicklung geschehen kann? Sie braucht die vielseitigste Anregung,
die Konfrontation mit fremden Gedanken, die Herausforderung durch Schwierigkeiten und die
Freude daran, sie zu meistern. Sie braucht nicht Microsoft Powerpoint, keinen Mobilfunk und
kein Tablet. Letztere mögen nützlich sein, aber sie sind vollkommen nebensächlich. Was unsere
Schülerinnen und Schüler, unsere Studentinnen und Studenten von uns brauchen, ist nicht, dass
wir sie in die Handhabung der Elektronik einführen, die sie ohnehin viel schneller und fließender
beherrschen als wir. Sie brauchen es auch nicht, dass wir ihnen beibringen, was heute in der
Berufswelt gefragt und gefordert wird. Zum Einen soll sich die Berufswelt selbst darum kümmern,
die speziellen Fähigkeiten zu vermitteln, die sie braucht. Auf dem Fundament einer soliden und
vielseitigen Bildung wird das schnell gelingen. Zum anderen ist morgen schon veraltet, was heute
als Anforderung der Berufswelt an uns herangetragen wird.
Das Gymnasium hat eine ganz andere und viel größere Aufgabe als die, junge Menschen
auf ein berufliches Leben vorzubereiten. Es hat die Aufgabe, junge Menschen zu bilden. Es soll
entwickeln helfen, was da ist – nicht auf ein Ziel hin, sondern aus einer Anlage und einer Begabung
heraus. Menschliche Anlagen und Begabungen sind zeitlos. Sie werden in der Antike schon mit
Worten geschildert, die wir heute noch dafür gebrauchen können. Menschliche Anlagen und
Begabungen dienen keinem Zweck, auch wenn ihr Träger sie auf einen Zweck richten kann und
soll.
Deswegen möchte ich zu diesem 50. Geburtstag meiner früheren Schule leidenschaftlich für
eine zweckfreie Bildung werben. Was wir in einer hektischen, schnellen, von Elektronik bis zur
Übersättigung abgelenkten und unkonzentrierten Wirklichkeit lehren können, sind menschliche
Qualitäten, die über diese Wirklichkeit hinausgehen und jenseits von ihr Bestand haben. Die
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Elektronik und die Unterhaltung erschließen sich den jungen Leuten von selbst, viel leichter als
uns. Verständnis für die Welt, Orientierung in der Welt erwächst daraus nicht.
Wir sollen Möglichkeiten vermitteln, die Welt im Kopf und im Herzen zu ordnen, in ihr einen
Sinn zu finden. Wir sollen Wege zeigen, wie junge Menschen sich auf eine Gesellschaft beziehen
und eine sinnvolle, erfüllende Rolle darin finden können. Um diese Orientierung, um dieses
Überziehen der Welt mit einem Netz aus Sinn haben sich alle Wissenschaften, die Geistes- wie die
Naturwissenschaften, die Kultur und die Kunst seit jeher bemüht. Vermitteln wir die Antworten, die
dabei entworfen wurden, ebenso wie die Leidenschaft, nach solchen überdauernden Antworten zu
suchen.
Die oft gehörte Frage: Wozu brauche ich das?“ hat eigentlich nur eine, einfache Antwort: Weil
”
ein gebildeter Mensch so etwas kann oder weiß, weil Bildung nicht nach Nutzen und Gebrauch
fragt – und weil ohne Bildung die Welt wirr, unüberschaubar und beängstigend wirkt.
Bildung befähigt – sie zu vermitteln, ist Sache der Schule; sie auf ein Ziel zu richten, ist
Sache jedes einzelnen, gebildeten Menschen. Zum Geburtstag wünsche ich dem DientzenhoferGymnasium, an dem ich so viele prägende Jahre verbracht habe, dass es als eine Bildungseinrichtung wahrgenommen und geachtet wird, die weit über den Tag hinausschaut, wo Bildung nicht
auf einen Zweck hin vermittelt wird, sondern weil sie aus sich heraus ihren viel höheren Wert hat.
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