9. – 10. NOVEMBER 2015 SPUR UND KONTEXT SACHKULTUREN IN BIBLIOTHEKEN VON SCHRIFTSTELLERN UND GELEHRTEN Herzog August Bibliothek Lessingplatz 1, Wolfenbüttel Seminarraum im Meißnerhaus SPUR UND KONTEXT SACHKULTUREN IN BIBLIOTHEKEN VON SCHRIFTSSTELLERN UND GELEHRTEN Tagungsleitung: Susanna Brogi und Dietrich Hakelberg Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel Veranstaltungsort: Herzog August Bibliothek Lessingplatz 1, 38304 Wolfenbüttel Termin: 9. bis 10. November 2015 ABSTRACTS Elisabeth Décultot (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) Über das Besitzen von Büchern. Exzerpt und Buchaneignung im 18. Jahrhundert Seit der Renaissance wurden die europäischen Gelehrten für gewöhnlich aufgefordert, Exzerpthefte anzulegen, die bei jeder Lektüre mit neuen Auszügen und Informationen angereichert wurden. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Beziehungen zu analysieren, die diese Sammlungen von Leseaufzeichnungen zu ihrer gedruckten Vorlage im 18. Jahrhundert unterhalten. Was vollzieht sich beim Abschreiben von gedruckten Auszügen, die in eigene handschriftliche Hefte ausgelagert und ggf. nach eigenen Rubriken sortiert werden? Welche Beziehung unterhält dabei das lesende und aufschreibende Subjekt zum gedruckten Material? Was bedeutet es, für einen frühneuzeitlichen Exzerptor ein Buch zu besitzen? Soll die weit verbreitete Lesekunst des Exzerpierens als ein Mittel betrachtet werden, die unpersönlichen Buchstaben des Verlagsprodukts in eigene Handschrift zu verwandeln? Ziel des Vortrags ist es, einiges Licht auf diese Fragen zu werfen. Petra Feuerstein-Herz (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) Im Dialog – Durchschossene Exemplare in frühneuzeitlichen Bibliotheken Der Beitrag wird sich dem Phänomen von sog. durchschossenen Exemplaren in frühneuzeitlichen Büchersammlungen widmen. Buchexemplare, die durch unbedruckte, freie Seiten erweitert wurden und damit einen unmittelbaren funktionalen Zusammenhang zu dem gedruckten Text herstellen, sollen sowohl in Hinblick auf die Arbeitsweisen gelehrter und publizierender Vorbesitzer wie auch aus der Perspektive des Sammlungskontextes betrachtet werden. Untersuchungsgegenstand werden die umfassenden Altbestände die Herzog August Bibliothek sein mit ihren für eine breiter angelegte Studie geeigneten unterschiedlichen Provenienzzusammenhängen. Am Rande soll die Problematik der Ermittlung geeigneter Stücke und die Rekonstruktion der Provenienz im Sammlungskontext thematisiert werden. Carola Piepenbring-Thomas (Hannover) Alte Buchsignaturen: Zur Aufstellung der Bibliothek des Hamburger Mediziners Martin Fogel (1634– 1675) Als der Hamburger Gelehrte Martin Fogel 1675 verstarb, hinterließ er eine Büchersammlung mit ca. 3.600 Titeln. Für die geplante Versteigerung wurde ein Auktionskatalog publiziert, in dem die Systematik der Bibliothek angepriesen wurde. Die Aufstellung der Bücher habe sich unabhängig vom Format allein auf den Inhalt der einzelnen Bände gestützt. Die vorbildliche Ordnung des Kataloges könnte als Abbild der tatsächlichen Buchaufstellung angesehen werden – wären da nicht handschriftliche Signaturen in den Büchern. Sie führen zu weiteren Vermutungen und dienen als Basis für eine Rekonstruktion der Bibliothek: ihrer Ordnung und ihrer materiellen Ausstattung. Dietrich Hakelberg (Deutsches Literaturarchiv Marbach, olim HAB Wolfenbüttel) Lebensspuren. Die Bücher des Musikers und Juristen Johann Caspar Trost (1616/17–1676) Im Bestand der Herzog August Bibliothek verstreut ist die Bibliothek des Organisten und Juristen Johann Caspar Trost, der aus Thüringen stammte und 1676 in Halberstadt starb. Hätte der Buchbesitzer nicht eindeutige Provenienzmerkmale in seinen Büchern hinterlassen, wäre seine rund 900 Bände umfassende Sammlung heute kaum rekonstruierbar. Was verraten Spuren an und in den Büchern zusammen mit weiteren flankierenden Quellen über Trosts Herkunft und Familie, seinen Umgang mit gedruckten und geschriebenen Texten? Trost scheint entlang seines Lebensweges gesammelt zu haben, was ihn professionell und intellektuell berührte: Bücher für den Schulgebrauch, Musiktheorie, Rechts- und Sprachwissenschaft. Gleichzeitig war er ein verhinderter Autor und Übersetzer musiktheoretischer Texte. Finden sich in Trosts Büchern Spuren seiner nie erschienenen Werke? Tobias Fuchs (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) Gedruckte und ungedruckte Bücher. Jean Pauls Privatbibliothek Die Privatbibliothek Jean Pauls versetzt dessen Besucher immer wieder in Erstaunen. „Jean Paul hat fast kein Buch selbst, er leiht und exzerpiert sie bloß“, berichtet einer von ihnen im Mai 1809. Tatsächlich besitzt der als außergewöhnlich belesen geltende Schriftsteller auch wenige Jahre vor seinem Tod kaum mehr als 200 gedruckte Bücher. Charakteristisch an Jean Pauls Privatbibliothek ist, dass diese – wie er selbst früh erklärt – „theils aus gedruckten, theils aus ungedruckten Büchern“ besteht, wobei mit Letzteren vor allem seine umfangreichen Exzerpte gemeint sind, die eine der wichtigsten Ressourcen seines literarischen Schreibens darstellen. Der Vortrag beleuchtet die Zusammensetzung von Jean Pauls Bibliothek und seinen besonderen Umgang mit dem gedruckten Buch als Objekt und Medium. Stefan Höppner (Klassik Stiftung Weimar) Der Kosmos der Dinge: zur Materialität von Goethes Bibliothek Die Privatbibliothek Goethes ist als Erkenntnisgegenstand noch nicht annähernd ausgeschöpft: Was sagt der Bestand über die Arbeitsweise des Autors und seine sich wandelnden Interessengebiete aus? Welche personalen Netzwerke werden in den zahlreichen Widmungen an Goethe sichtbar? Wie typisch war Goethes Bibliothek für eine Autorenbibliothek um 1800? Diesen Fragen widmet sich die neue Untersuchung des Bestandes im Rahmen des Forschungsverbundes, die Ende diesen Jahres beginnen wird – es ist erst die zweite in fast 200 Jahren. Neu ist ihr methodischer Ansatz auf zwei Ebenen: zum einen erfolgt sie nach neuesten bibliothekarischen Richtlinien, zum anderen sucht sie auf der Basis aktueller Methoden der Provenienzforschung erstmals die Materialität der Bücher als Basis für neue Erkenntnisse zu nutzen. Der Vortrag wird einen ersten Überblick über das Forschungsvorhaben geben und die zu benutzenden Methoden zur Diskussion stellen. Caroline Jessen (Deutsches Literaturarchiv Marbach) Bibliotheken im Exil. Zur Genese und Signifikanz eines Bilds In ihrer Vielgestaltigkeit entsprechen die Büchersammlungen emigrierter Autoren selten dem Vorstellungsbild der Zeitkapsel. Und doch sind sie Monumente einer Lesekultur, die sich nach 1933 aus Deutschland zu retten vermochte, Medien des kulturellen Gedächtnisses. Der Vorstellung eingefrorener Zeit und der damit verbundenen Vereinnahmung der Bibliotheken und ihrer Besitzer – die weiterlasen– widersprechen nahezu alle überlieferten Sammlungen. So ist ihre symbolische Überhöhung zum Erinnerungsort beunruhigend, denn das suggestive Bild der Exilbibliothek als abgeschlossenes Ganzes trägt in sich die Spuren einer Arretierung des Unbequemen. Es erscheint zugleich – als präsent gehaltener Verlust – notwendig. Diese Ambivalenz des Bilds der Exilbibliothek soll im Beitrag an Bibliotheken jüdischer Autoren expliziert und diskutiert werden. Stephan Matthias (Landesbibliothek Oldenburg) und Oliver Matuschek (Hannover) Wien, Salzburg, London, Petrópolis – Spurenlese in Stefan Zweigs Bibliothek(en) In einem internationalen Projekt werden derzeit Teilbestände der Bibliothek des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig (1881–1942) in Europa und Südamerika ermittelt und verzeichnet. Durch Umzüge und seinen Weggang aus Österreich, der schließlich ins Exil mündete, hinterließ Zweig Bücher an verschiedenen Orten in der Welt. In diesen Bänden konnten nun erstmals unterschiedliche Provenienzmerkmale identifiziert und zugeordnet werden. Sie geben Einblicke in Zweigs schriftstellerische Tätigkeit und die Benutzung der Bibliothek als Arbeitsraum, sein gesellschaftliches Umfeld und das Verhältnis zu Schriftstellerkollegen sowie seine Betätigung als Sammler von Autographen und Objekten. Mit der Erschließung eröffnet der Bestand eine bisher unbekannte Perspektive auf das Leben und Werk Stefan Zweigs. Susanna Brogi und Ellen Strittmatter (Deutsches Literaturarchiv Marbach) good / bad. Wissensordnungen und Ordnungssysteme in Siegfried Kracauers Exilbibliothek und Fotoarchiv Im französischen Exil entsteht Siegfried Kracauers Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit – publiziert 1937 bei Allert de Lange in Amsterdam und beinahe zeitgleicherschienen auf Französisch (Paris, 1937) und Englisch (New York, 1938). Das Text- und Bildmaterial, das Kracauer in diesem Kontext sichtet, exzerpiert, abzeichnet, zusammenstellt, montiert und anfertigen lässt ist genuin verbunden mit den ihrerseits Spuren hinterlassenden Arbeitsplätzen und Schreiborten von der Bibliothèque Nationale bis hin zum Straßencafé im Paris seiner Zeit. Eine Voraussetzung für das Gelingen des Schreibprozesses an diesem Roman, der nichts Geringeres als Gesellschafts- und Zeitkritik, Künstler- und Stadtporträt, aber auch Garant des Überlebens als Schriftstellerim Exil sein soll, stellen in dieser durch Unsicherheit und Diskontinuität gekennzeichneten Situation Verfahren des Ordnens dar. Materieller Ausdruck dieser Wissensorganisation ist eine große Anzahl überlieferter Karteien, Oktavhefte, Fotostrecken und Zeittafeln. Ihre systematische Anlage, strukturelle Flexibilität und nicht bezwingbare Heterogenität und Vielfalt lässt die Antinomien zentrifugaler und zentripetaler Kräfte im Arbeitsprozess und im Exil evident werden.
© Copyright 2024 ExpyDoc