Referat IHK-Direktor Kurt Weigelt - IHK St.Gallen

GV IHK St.Gallen-Appenzell
Mittwoch, 24. Juni 2015, Degersheim
Rede Dr. Kurt Weigelt, IHK-Direktor
Liebe IHK-Mitglieder,
geschätzte Gäste,
meine sehr verehrten Damen und Herren
Als Wirtschaftsverband sind wir in hohem Masse auf die Nähe zu
unseren Mitgliedunternehmen angewiesen. Unsere Positionen und
unsere Arbeit gedeihen nicht in den grossartigen Räumlichkeiten
unseres Geschäftssitzes, dem Haus zum Engelskopf. Es ist vielmehr
der tägliche Kontakt mit Ihnen und die Einflussnahme von Vorstand,
Präsidialausschuss und Präsident, die sicherstellen, dass wir auf dem
richtigen Weg sind. Dieser Nähe zu unseren Mitgliedunternehmen ist
auch unsere Hauptversammlung verpflichtet. Im Zentrum stehen
nicht Traktanden, sondern die von uns besuchte Region mit ihren
Unternehmen. In den Werkhallen und den Räumlichkeiten unserer
Betriebe erleben wir die wirtschaftliche Realität. Und diese Realität
macht uns stolz. Dies gilt ganz besonders auch für den heutigen Tag.
Wir
alle
sind
beeindruckt
vom
Unternehmergeist,
dem
Kampfeswillen und der Innovationskraft der von uns besuchten
Unternehmen. Herzlichen Gratulation und vielen Dank. Dass wir alle
Besichtigungen in einem einzigen Dorf mit rund 4000 Einwohnern
durchführen können, ist bemerkenswert und dokumentiert die
besonderen Qualitäten der Ostschweizer Wirtschaft. Unseren Erfolg
verdanken wir nicht einigen wenigen Global Players, sondern einer
Vielzahl von kleineren, mittleren und grossen Unternehmen. Unser
Geheimnis
liegt
nicht
in
der
Verdichtung
auf
einzelne
Metropolitanräume, sondern in der Vielfalt, in starken Regionen und
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föderalen Strukturen. Dieses positive Bild kann nicht darüber
hinwegtäuschen, dass wir vor grossen Herausforderungen stehen.
Dazu gehört nicht nur der Frankenschock. In einer längerfristigen
Betrachtungsweise wohl noch entscheidender ist der von der
digitalen
Transformation
getriebene
Wandel
unserer
gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Die
grosse Herausforderung für unsere Unternehmen liegt darin, sich
äusseren und inneren Änderungen anzupassen, ohne dabei die
eigene Identität aufzugeben. Dabei sind wir auf gesellschafts- und
wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen angewiesen, die unseren
Unternehmen den Rücken stärken und Veränderungen zulassen.
Zumindest in den nächsten Monaten stehen wir diesbezüglich vor
grossartigen Zeiten. Wir alle können davon ausgehen, dass im
Vorfeld der nationalen Wahlen alle Parteien und die meisten
Kandidierenden das hohe Lied des Werkplatzes Schweiz mit seinen
kleineren und mittleren Unternehmen anstimmen werden. Als
Gegengeschäft zu unseren Stimmen wird man uns den Abbau von
Bürokratie, die Reduktion finanzieller Fehlanreize, die Stärkung des
dualen
Bildungssystems
oder
einen
liberalen
Arbeitsmarkt
versprechen. Mit anderen Worten, es erwartet uns einmal mehr das
Unternehmerparadies auf Erden.
Nur, wie es Heilsversprechen so an sich haben, mit der irdischen
Realität haben diese nur wenig zu tun. Einige Beispiele sollen dies
illustrieren. Mit der Bildung, den elektronischen Medien, dem
Gesundheitssektor und der Infrastruktur sind bei uns wichtige
Wachstumsbranchen verstaatlicht und als Service public der privaten
Initiative mehr oder weniger entzogen. Dort, wo es künftig um die
Wurst geht, ist in der Schweiz Unternehmertum nicht gefragt.
Vergleichbares gilt für den hochgelobten liberalen Arbeitsmarkt. Der
Vollzug der flankierenden Massnahmen stützt sich unter anderem
auf das Lohnbuch der Zürcher Volkswirtschaftsdirektion. Darin
werden auf nicht weniger als 801 Seiten die Schweizer Löhne für alle
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Berufe und alle Funktionsstufen bis ins letzte Detail definiert. Ein
bürokratisches Meisterwerk. Und wo wird das Lohnbuch der Zürcher
Regierung
gedruckt?
In
der
durch
das
Lohnbuch
staatlich
geschützten Hochlohninsel Schweiz? Nein, in Deutschland. Nicht aus
Deutschland, sondern aus Bern kommt anderes Unheil. Geht es nach
dem von einem freisinnigen Bundesrat geführten seco und den
Kartellabsprachen von Schweizerischem Arbeitgeberverband und
dem
Schweizer
Gewerkschaftsbund,
dann
soll
künftig
Vertrauensarbeitszeit nur noch für Mitarbeitende mit einem
Mindesteinkommen von 120’000 Franken und mit Zustimmung der
Gewerkschaften möglich sein. Ein Frontalangriff auf unsere kleineren
und mittleren Unternehmen. Und ausgerechnet diejenige Partei, die
in besonderem Masse auf Schweizer Werte setzt, beglückte uns mit
einer Volksinitiative, die den Arbeitsmarkt für Einwanderer und
Grenzgänger verstaatlichen will. Künftig werden nicht mehr Private,
sondern Staatsstellen darüber entscheiden, wann, wo und zu
welchen Bedingungen Einwanderer arbeiten dürfen. Dass bei diesem
Pokerspiel um Kontingentsarbeitsplätze marktmächtige und politisch
einflussreiche Unternehmen besonders gute Karten haben und die
kleineren und mittleren Betriebe zu den Verlierern gehören werden,
wissen wir aus der Vergangenheit. Soviel zur gelebten Realität. Nun
aber genug der negativen Beispiele. Ganz verderben möchte ich
Ihnen die Festlaune nun doch nicht.
Wenden wir uns daher der grundsätzlichen und damit wenigstens
vordergründig etwas weniger provokativen Frage zu, wie sich die
Diskrepanz
zwischen
politischen
Versprechen
und
politischer
Wirklichkeit erklären lässt. Nach meiner Überzeugung hat dies nichts
mit einer fehlgeleiteten „Classe politique“ zu tun. Im Gegenteil. Ich
bin
immer
wieder
beeindruckt,
mit
wieviel
persönlichem
Engagement insbesondere in der medial und finanziell wenig
spektakulären kommunalen und kantonalen Politik gearbeitet wird.
Meines Erachtens haben wir es nicht mit personellen, sondern
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vielmehr mit der grundlegenden strukturellen Herausforderung zu
tun, dass die Koordinatensysteme von Politik und privater Wirtschaft
immer stärker auseinanderdriften. In Zeiten von Globalisierung und
Digitalisierung sind Raum und Zeit nicht mehr, was sie über
Jahrhunderte waren. Auf den damit zwingenden verbundenen
Veränderungsdruck reagieren staatliche und private Institutionen
vollkommen unterschiedlich. Unsere politischen Körperschaften und
damit unsere Politik bewegen sich innerhalb der im 19. Jahrhundert
erkämpften regionalen, kantonalen und nationalen Grenzen. Wahlen
gewinnt man nicht mit Konzepten und Bauvorlagen, die unsere
funktionalen Räume abbilden, sondern mit Projekten, die jede
Region mit einer eigenen Brücke, einem eigenen Spital und einer
eigenen
Berufsschule
Abstimmungen.
bedienen.
Erfolgreich
Herausforderungen
sind
globalisierter
Vergleichbares
nicht
Parteien,
Arbeitsmärkte
gilt
für
die
die
thematisieren.
Wahltaktisch weit erfolgsversprechender ist es, vom Sonderfall
Schweiz, von Schweizervorrang, von der vermeintlichen Sicherheit
staatlich vorgeschriebener Löhne, von allgemeinverbindlich erklärten
Gesamtarbeitsverträgen und einer durch Zölle und nicht-tarifäre
Handelshemmnisse abgeschotteten Marktstellung zu träumen. Ganz
anders unsere Unternehmen. Deren Herausforderungen lassen sich
nicht mit den Parolen der geistigen Landesverteidigung bewältigen.
Hier weht der Wind aus allen Richtungen und vor allem über alle
politischen und geografischen Grenzen hinweg.
Noch ausgeprägter sind die Unterscheide zwischen Politik und
Wirtschaft
beim
Faktor
Zeit.
Politische
Prozesse
laufen
in
Generationen, es geht, so Max Weber, um ein starkes langsames
Bohren
von
harten
Brettern.
Mit
einer
bemerkenswerten
Planungsgläubigkeit wird heute festgelegt, dass das Toggenburg bis
ins Jahr 2040 um 527 Personen wachsen darf. Das Bundesamt für
Energie kennt den Energiemix im Jahre 2050. Und kurz nach dem
Frankenschock
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beschliesst
der
St.Galler
Kantonsrat
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für
das
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kommende Jahr eine Reallohnerhöhung für Staatsangestellte.
Erstaunlich. Ganz anders sieht es in unseren Unternehmen aus. Hier
gilt es über Nacht Massnahmen zur Bewältigung der Aufwertung des
Schweizer Frankens um rund 20% zu verabschieden. Statt
Lohnerhöhungen
für
das
Arbeitszeitverlängerungen
nächste
und
Jahr
gibt
es
Lohnreduktionen
sofortige
für
Kader.
Technologische Quantensprünge machen aus Erfolgsprodukten
innert kürzester Zeit Ladenhüter, globale Marktführer werden durch
disruptive Geschäftsmodelle von Aussenseitern herausgefordert. Auf
dem Höhepunkt des Erfolges hatte Kodak 140‘000 Mitarbeiter und
war an der Börse 28 Milliarden wert. Heute ist Kodak bankrott.
Instagram, eines der Nachfolgeunternehmen, beschäftigte bei der
milliardenschweren
Übernahme
durch
facebook
lediglich
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Mitarbeiter. Dies, meine Damen und Herren, ist die Realität in
unseren Unternehmen.
Die Koordinatensysteme der Wirtschaft und der Politik haben sich
unterschiedlich entwickelt. Unsere Unternehmen bewegen sich
innerhalb
der
beiden
Achsen
globaler
Wettbewerb
und
Veränderung, das Koordinatensystem der Politik dagegen wird durch
die beiden Achsen nationale Gesetzgebung und Besitzstandwahrung
definiert. Die Absenz von Unternehmensvertretern in unseren
Parlamenten ist nicht Ausdruck von fehlendem Gemeinsinn, sondern
widerspiegelt
die
unterschiedliche
Interessenlage,
das
Auseinanderdriften von Wirtschaft und Politik als Folge des
gesellschaftlichen Wandels. Umso wichtiger ist es, dass wir in den
bevorstehenden Wahlkämpfen die verbliebenen Vertreter unserer
Unternehmen geschlossen unterstützen. Und zwar, für einmal
können wir von der Landwirtschaft lernen, über die Parteigrenzen
hinweg. Als kantonaler Wirtschaftsverband haben wir nicht die Kraft,
die politische Grosswetterlage zu verändern und es fehlen uns die
Mittel,
um
wirtschaftsferne
Bevölkerungsgruppen
von
der
Notwendigkeit einer arbeitsplatzorientierten Politik zu überzeugen.
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Wir haben aber die Möglichkeit dafür zu sorgen, dass innerhalb der
einzelnen Listen unsere Vertreter möglichst gut abschneiden. Dies
setzt voraus, dass wir von den Möglichkeiten des Panaschierens
Gebrauch
machen
und
unabhängig
von
der
Parteifarbe
Unternehmensvertreter wählen. Um ihnen ihre persönliche Auswahl
zu
erleichtern,
werden
wir
nach
den
Sommerferien
eine
Sondernummer unserer Verbandszeitschrift IHKfacts mit Portraits der
unternehmensnahen Kandidierenden verschicken und diese durch
einen
eigenen
Webauftritt
unter
der
domain
„wir-wählen-
wirtschaft“ unterstützen. Anders als in den vergangenen Jahren
stellen wir dabei nicht auf politische Versprechen ab, sondern
präsentieren die Positionen der einzelnen Kandidierenden anhand
ihres Abstimmungsverhaltens in den vergangenen vier Jahren. Uns
interessiert das Stimmverhalten bei denjenigen Abstimmungen, bei
denen die IHK St.Gallen-Appenzell eine Parole fasste. Unserem
eigenen Anspruch entsprechend setzen wir auch in diesem
Zusammenhang auf Fakten und nicht auf Wahlversprechen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren. Im kommenden Jahr feiert
die IHK St.Gallen-Appenzell ihr 550-Jahr-Jubiläum. Die JubiläumsGeneralversammlung findet am 22. Juni auf dem Gelände der OLMA
Messen statt. Diese ausserordentliche Geschichte dokumentiert, dass
es unsere Vorgänger immer wieder verstanden haben, sich
veränderten
politischen
und
wirtschaftlichen
Begebenheiten
anzupassen. Dies gilt auch für die Mitwirkung an der politischen
Willensbildung.
Die
Feststellung
auseinanderdriftender
Koordinatensysteme von Politik und Wirtschaft ist keine Absage an
unser politisches Engagement. Im Gegenteil. Unsere Funktion als
politische Interessenvertreterin der Ostschweizer Unternehmen
gewinnt damit an Bedeutung. Angesichts der angesprochenen
Veränderungen müssen wir uns jedoch aus der Komfortzone der
eidgenössischen Verhandlungsdemokratie verabschieden und uns
ganz
im
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Sinne
unserer
Statuten
auf
die
Rede IHK-Direktor
konsequente
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Interessenvertretung der privat gehaltenen Unternehmen und einer
marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaft konzentrieren und dabei
auch diejenigen Themen ansprechen, die keine kurzfristige politische
Rendite
versprechen.
Diese
Haltung
bringt
uns
nicht
nur
Sympathiepunkte. Damit müssen und können wir leben. Als privat
organisierter Verein sind wir nicht Teil des politisch-administrativen
Bereichs, sondern gehören Ihnen, unseren Mitgliedunternehmen. Mit
Blick auf diese klare Ausgangslage freue ich mich sehr auf die
weitere Zusammenarbeit und danke Ihnen im Namen aller
Mitarbeitenden
unserer
Geschäftsstelle
von
Herzen
für
Ihre
Unterstützung.
Es gilt das gesprochene Wort.
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