Die Gäste von morgen Nicht schon wieder Fischstäbchen Gastronomen mit gehobenem Anspruch betonen immer wieder, wie wichtig ihnen der Nachwuchs ist. Nur, wenn man bereits Kinder an gutes Essen heranführt, hat Essen aus frischen Zutaten in Zukunft eine Chance. Was aber passiert, wenn man tatsächlich ein echtes Kind ins Restaurant mitnimmt? Ein Erfahrungsbericht von Simone Hoffmann. E s ist nur ein nervöses Zucken um die Augen des Kellners, als ich mit meiner 4-jährigen Tochter um die Mittagszeit ein Spitzenrestaurant in Berlin Mitte betrete. Dann hat er sich gleich wieder im Griff und weist uns den Tisch neben der Toilette zu. »Hier stinkt´s«, sagt meine Tochter und will wieder gehen. Sofort hinsetzen können wir uns ohnehin nicht, weil gerade das Tischtuch abgedeckt wird. »Wir möchten aber gern etwas essen«, wende ich ein. »Die Kleine könnte kleckern«, meint der Kellner und setzt ein verschwörerisches »Wir-beiden-Erwachsen-kennen-das-doch«Lächeln auf. Ich wundere mich ein bisschen, dass Flecken auf dem Tischtuch in einem Restaurant dieser Preisklasse nicht einkalkuliert sind. Ist das Tischtuch nicht da, um es schmutzig zu machen und dann wieder auszuwechseln? Und das auch bei Erwachsenen? Ich jedenfalls werfe dauernd Weingläser um, wenn ich mit Freunden abends essen gehe und, wie so oft, zu wild gestikuliere. Meine Tochter dagegen ist nun mal so ein Kind, das fast nie kleckert, sondern langsam genießt. Die Lolli-Bestechung Dafür ist sie reichlich aufmüpfig, denn als der Tisch abgedeckt wird, will sie protestieren. Der Kellner weiß aber mit Kindern umzugehen und stellt sie zur Sicherheit gleich mit zwei Lollis ruhig. Jetzt brauchen wir hier wirklich nichts mehr zu essen und gehen deswegen wieder. Ein anderes Restaurant wird im Internet als besonders kinderfreundlich beschrieben. Dort gibt es sogar eine spezielle Kinderkarte. Auf kleinen, lustigen Zeichnungen ist dargestellt, was es für Kinder zu essen gibt: Fischstäbchen, Nudeln mit Tomatensauce und Pommes. »Warum denken die 68 Slow Food | 06 /2014 Erwachsenen eigentlich, dass Kinder immer nur Fischstäbchen wollen?« fragt meine 4-jährige Tochter die Kellnerin. Die ist ratlos und schlägt Pommes vor. Meine Tochter möchte aber lieber gefüllte Aubergine. »Das schaffst du doch gar nicht«, bestimmt die Kellnerin. Ich bestelle die gefüllte Aubergine selbst und schiebe sie über den Tisch. Das Kind isst sogleich alles auf. Ich selbst esse Nudeln – allerdings mit Chili-Öl statt mit Tomatensauce. Beim dritten Versuch in der gehobenen Gastronomie essen zu gehen, werden wir direkt angesprochen: »Der Mittagstisch ist an sich für Geschäftsleute aus den umliegenden Büros gedacht. Sie können bleiben, wenn die anderen Gäste sich nicht gestört fühlen.« Zu diesem Zeitpunkt haben wir noch nichts weiter als »Hallo« gesagt. Zu mobil, zu laut Die Angst vor Kindern, die sich im Restaurant wie Kinder benehmen, greift um sich. Weil sie herumlaufen, andere Gäste ansprechen oder unter dem Tisch verschwinden, wenn die Erwachsenen zu lange langweilige Gespräche führen. Weil sie manchmal schrill aufschreien, wenn irgendetwas anders ist, als sie es sich vorgestellt haben. Weil sie viel zu laut reden und peinliche Bemerkungen über die Leute am Nachbartisch machen. Auch die Eltern trinken deswegen ihren Wein oft lieber zuhause. Die Gastronomie reagiert auf ihre Weise darauf. Im kanadischen Calgary gibt es ein japanisches Restaurant, das 5 Dollar Preisnachlass gewährt, wenn sich die Kinder gut benommen haben. »well-behaved kids -5 $« steht dann auf der Rechnung. Bei einem Italiener in Washington spendiert man für den gleichen Tatbestand immerhin 4 US-Dollar. Man stel- KINDER & ESSEN le sich vor, wenn diese Sitte auch im sparsamen Deutschland um sich greift. Ich höre schon jetzt, wie die Eltern ihren Kindern über den Tisch zuraunen: »Sei still, sonst verlieren wir die 5 Euro!« Aber wie war das denn nochmal gleich mit der viel beschworenen Heranführung des Nachwuchses an gutes Essen? Darf sie nur zuhause stattfinden? Oder gehört es auch dazu Restaurants als Teil der europäischen Esskultur zu erleben? Baguette mit Sauce unterm Tisch In Frankreich habe ich mehrfach beobachtet, wie die Erwachsenen am Abend mehrere Stunden lang genüsslich ihr Abendmenü zu sich nehmen und die Kinder derweil im Restaurant herumlaufen. Wenn ein neuer Gang serviert wird, setzen sie sich wieder und probieren etwas davon. Wenn sie erschöpft unter dem Tisch liegen, reicht jemand ihnen ein Stück in Sauce getunktes Baguette herunter. Die Keller tolerieren das wie selbstverständlich. Und die Kinder erleben ungebremsten Genuss und Lebensfreude. Etwas anderes als frisch zubereitetes, gutes Essen werden sie mit Sicherheit ihr Leben lang nicht mehr akzeptieren. »Sitz still, mach den Mund zu, kipple nicht« – die Freude an gutem Essen lernt man bestimmt nicht über ständig neue Verbote. Wer aufgrund der strafenden Blicke vom Nachbartisch nervös wird und die eigene Unsicherheit an seinem Kind auslässt, hat bereits verloren. Aus dem gemeinsamen Erlebnis kann danach nichts mehr werden. Wie wäre es stattdessen, wenn wir die Kinder einfach fragen, was sie essen wollen und auch dann locker bleiben, wenn es immer wieder Pommes sind? Wie zahlreiche Studien belegen, wird nicht nur das, was man als Kind gerne isst, das spätere Lieblingsessen, sondern vor allem das, was man immer wieder angeboten bekommt. Wer also mit sechs keine Oliven mag, hat gute Chancen sie mit zwanzig wie zufällig für sich zu entdecken, sofern sie in der Familie immer mal wieder auf dem Tisch standen. Und allen Kellnern sei gesagt: Ob ihr es glaubt oder nicht, es gibt tatsächlich Kinder, die eigentlich alles essen, was Erwachsene auch mögen. Gemüsesuppe, Fischfilet auf der Haut gebraten und frischen Spinat – ganz egal. Hauptsache, es ist mit Phantasie und Hingabe aus frischen Zutaten gemacht. Meine Tochter isst gern klein geschnittenen Ingwer, Knoblauch und sogar Meerrettich. Nur zu viel Chili empfindet sie als Problem. Aber Gerichte, die so scharf sind, dass man all die anderen Gewürze nicht mehr schmeckt, mag ich auch nicht. Slow Food | 06 /2014 69
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