Die älteste Taschenuhr

Die älteste Taschenuhr
Der sich Ende des 15. Jahrhunderts bei den Grossuhren durchsetzende Federantrieb – als Ergänzung beziehungsweise
Ablösung des bisherigen Gewichtsantriebs – war der letzte Schritt einer Miniaturisierung, die „Wearables“ ermöglichte.
Im 13. bis 15. Jahrhundert wurden Tischuhren immer
kleiner. Dies führte gezwungenermassen dazu, dass jemand eine solche in die Gürteltasche steckte und auf
Reisen mitnahm: damit war die Taschenuhr geboren.
Evolutionäre Innovationen
Die Uhrmacher des frühen 16. Jahrhunderts – damals
noch hauptamtliche Schlosser, Schmiede oder Geschützgiesser – witterten neue Märkte. Sie beeilten sich,
die Gehäuseform ihrer kleinsten Zeitmesser so zu gestalten, dass das Tragen nicht allzu unangenehm war
und schliesslich kaum mehr bemerkt wurde. Es ist darum müssig, die Frage zum „Erfinder“ der Taschenuhr zu
stellen, denn sie war keine Erfindung im herkömmlichen
Sinn des Wortes.
Mechanische Zeitmesser in der Form von Turm- und
Kirchenuhren wurden in England und Frankreich schon
im ausgehenden 11. Jahrhundert gebaut. Bald wollten
auch weltliche Fürsten solche Maschinen als Statussymbol haben. Dies führte zu den Stand- und Tischuhren aus denen letztlich die Taschenuhren hervorgingen.
Dosenuhr aus vergoldetem Messing, frühes 16. Jahrhundert. Sie stammt möglicherweise aus
Analog dazu war die Armbanduhr keine Erfindung:
Peter Henleins Werkstatt in Nürnberg. Bild: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
schon im 19. Jahrhundert gab es in Europa gelegentlich Exzentriker(innen), die eine kleine Taschenuhr an ihr
Handgelenk banden. Es dauerte dann noch eine Generation, bis solche Zeitmesser Mode wurden und die Taschenuhr in
gearbeitete, an der Kleidung getragene Behälter für Riechstoffe wie
eine kleine Nische verdrängten. Taschen- und Armbanduhr waren tyAmbra und Moschus. Sie bestanden aus zwei Kugelkalotten, die mit
pisch-evolutionäre Innovationen.
einem Scharnier verbunden waren. Im Lauf der Zeit baute man Uhrwerke ein, sie standen dem klassischen Taschenuhrgehäuse zu Pate.
Die ersten Dosenuhren
Wie bereits erwähnt, kam in den Brennpunkten der spätmittelalterlichen europäischen Zivilisation – das heisst England, Frankreich,
Italien und Deutschland – unweigerlich der Gedanke auf, eine kleine
Tischuhr in die Tasche zu stecken oder sie an der Kleidung zu befestigen. Nun stützt sich die Geschichtswissenschaft definitionsgemäss
auf schriftliche Dokumente. In Bezug auf die früheste Taschenuhr wird
immer wieder der französische König Louis XI erwähnt (der Sieger
in den Kriegen gegen Karl dem Kühnen von Burgund). Er liess sich
1480 eine taschenkompatible, dosenförmige Uhr bauen, die er überall
mitnahm.
In Deutschland wird Johannes Cochleus zitiert, der 1511 über den
Nürnburger Schlossermeister und Uhrmacher Peter Henlein folgendes schrieb: „Aus Eisen fertigt er mit vielen Rädern ausgestattete
Uhren, die wie man sie auch wenden mag, ohne Antriebsgewicht 40
Stunden lang gehen und schlagen, selbst wenn sie am Busen oder im
Geldbeutel getragen werden“. Und sehr bald wurden Uhren auch für
Rocktaschen, Degenknöpfe und sogar Fingerringe gefertigt.
Auf die Gehäuseform bezogen, waren die frühesten Taschenuhren
häufig Dosenuhren mit den Minimalabmessungen einer heutigen
Thunfischdose. Sie verfügten lediglich über einen Stundenzeiger;
Uhrgläser gab es noch nicht, das Zifferblatt blieb ungeschützt oder
war mit einem durchbrochenen Scharnierdeckel versehen.
Uhrwerke im Bisamapfel
Als Alternative zur Dosenuhr gab es schon im 16. Jahrhundert die sogenannte Bisamapfeluhr. Als Bisamäpfel bezeichnete man kunstvoll
Viele der frühen Taschenuhren sind leider verloren gegangen; unweigerlich stellt sich die Frage nach der frühesten, heute noch erhaltenen
Taschenuhr. Sie wird seit Jahrhunderten kontrovers debattiert und ist
nun aufgrund einer Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in
Nürnberg neu aufgeflammt.
Baltimore, Nürnberg oder London?
Im Frühjahr 2015 waren in Nürnberg insgesamt acht sehr frühe Taschenuhren aus dem 16. Jahrhundert ausgestellt. Als pièce de résistance fungiert eine Henlein zugeschriebene Dosenuhr, angeblich
aus dem Jahr 1510. Ein Teil des Werks stammt aufgrund neuester
Expertisen tatsächlich aus dem 16. Jahrhundert, doch wurde die Uhr
im 19. Jahrhundert umfassend „repariert“ unter Ersatz vieler Teile, die
zum Teil gar nicht zusammenpassen. Es scheint, dass die „reparierte“
Uhr gar nie funktionierte. Damit bestätigt sich einmal mehr das Bonmot, dass der ärgste Feind der Uhr der Uhrmacher ist!
Die weltweit am wenigsten umgebaute Uhr in einem Bisamapfelgehäuse besitzt das Walthers Art Museum in Baltimore (Maryland, USA);
sie kam als Leihgabe nach Nürnberg. Eine weitere Henlein zugeschriebene Bisamapfeluhr, die angeblich aus dem Jahr 1505 stammt,
wurde noch nicht wissenschaftlich untersucht. Anscheinend wurde
sie im Jahr 2000 auf einem Flohmarkt in London erworben und anschliessend umfassend restauriert. Ihr Wert wird auf 30 Millionen Euro
geschätzt.
Lucien F. Trueb
Quelle: Christian Pfeiffer-Belli, Klassik Uhren, 2/2015, S. 3
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