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AEON – Forum für junge Geschichtswissenschaft // Gegründet 2009
Herausgegeben von Golo Ley und Hassan Soilihi Mzé
Meine Verlag, Magdeburg // ISSN 1869-4519
Rezension
Gunter Janoschke:
Von der Erlebnis- zur Erinnerungsgemeinschaft.
Militärvereine und militärische Erinnerungskultur im Königreich
Sachsen 1863–1913
Altenburg 2009
Julia Cholet, Leipzig
Zitationsvorschlag: Cholet, Julia: Gunter Janoschke, Von der Erlebnis- zur Erinnerungsgemeinschaft. Militärvereine und militärische Erinnerungskultur im Königreich Sachsen
1863–1913, Altenburg 2009. In: AEON – Forum für junge Geschichtswissenschaft 2
(2010). S. 39–42.
Online: http://www.wissens-werk.de/index.php/aeon/article/viewFile/61/28
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AEON // Jahrgang 2 (2010)
Die heutige Erinnerungskultur an die Kriege 1864–1871 wird weitgehend von der
Erinnerung an die beiden Weltkriege des
20. Jahrhunderts überlagert. Dennoch kann
die jüngere Militärgeschichte – trotz einer
merkbaren Preußenzentrierung – auch
der Mittelstaaten in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts als gut erforscht gelten.
Neuartig ist daher weniger der Sachsenbezug, den Gunter Janoschke seiner Dissertation zugrunde legt, sondern eher die
Fokussierung auf die Erinnerungskultur
sowie deren Bedingungsfaktoren in der
Alltagsgeschichte. Von der Erlebnis zur Erinnerungsgemeinschaft dokumentiert – wie
der Titel bereits verrät – Erlebnis und Erinnerung militärischen Lebens königlichsächsischer Soldaten an der Schwelle zum
20. Jahrhundert. Dabei setzt die Darstellung zwei Schwerpunkte.
In narrativem Duktus berichtet Janoschke
zunächst über Ereignisse im soldatischen
und militärischen Erleben der Zeit. Hierzu
gehören unter anderem der Kriegseinsatz
gegen Dänemark, die Einbindung Sachsens
im Norddeutschen Bund, der Alltag während des deutsch-französischen Krieges,
das Verhältnis sächsischer Soldaten sowohl zu anderen deutschen Kontingenten
als auch Franzosen sowie die Bedingungen
des Militärdienstes im Frieden. Im zweiten
Teil der Untersuchung analysiert er dann,
wie diese Ereignisse als erinnerungsstiftende Elemente konserviert werden. Eine
entscheidende Rolle, so Janoschkes These,
spielen dabei die Militärvereine, die mit
ihren Gedächtnisfeiern sowie der immanenten Symbol- und Traditionspflege zur
Verfestigung der Erinnerung in der Gesellschaft beitragen.
Womit auch schon der Kern der Arbeit
umrissen wäre: Janoschkes Von der Erlebnis- zur Erinnerungsgemeinschaft zeichnet
anhand des sächsischen Militärs im späten
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19. und frühen 20. Jahrhundert den Vorgang kollektiver Erinnerungsbildung nach,
in der das eigentliche, doch lediglich durch
den Soldaten subjektiv-individuell erfahrene Kriegserlebnis zu einem überindividuellen Gegenstand der Gesamtgesellschaft
transformiert wird. Dabei verdeutlicht Janoschke, dass privates Handeln und öffentliche Erwünschtheit nicht selten im Widerspruch zueinander standen. So bestand
beispielsweise zwar seitens der Deutschen
dank der umfangreichen „Propagandierung
von Feindbildern“ offiziell ein common sense über den Erbfeind (S. 13), doch hinderte
dies den sächsischen Soldaten nicht, während des deutsch-französischen Kriegs als
wesentliche Informationsquelle französische Zeitungen zu benutzen, die er – allen
offiziellen Vorbehalten zum Trotz – „unmittelbar bei französischen Soldaten erwarb.“ (S. 63)
Überhaupt, im Krieg macht Janoschke eine
nicht zu unterschätzende Komponente
der Identitätsstiftung aus und erachtet ihn
als Bedingungsfaktor des Individuums:
„Anknüpfend an erinnerte kriegerische
Ereignisse bildete sich sowohl in der aktiven Armee als auch in den aus ehemaligen
Soldaten bestehenden Militärvereinen ein
Konstrukt der jeweiligen Eigengeschichte
heraus.“ (S. 15) Als Beispiel für diese These wird der Krieg von 1870/71 herangezogen. Durch ihn wurde bei den deutschen
Teilstaaten durch die gemeinsame Feindschaft zu Frankreich ein Nationalgefühl
erzeugt, das erheblich dazu beitrug, die
bisherige Zersplitterung – nicht zuletzt
markiert durch das Fehlen eines Nationalheeres – zu überwinden. Die Kontingentskoalition ging nach 1871 in ein Reichsheer
mit Kontingentcharakter und zahlreichen
Sonderrechten über, die sich nicht zuletzt
in der Heeresfinanzierung deutlich widerspiegeln.
AEON // Jahrgang 2 (2010)
Nicht weniger interessant wird die Arbeit,
wenn Janoschke im Laufe der Analyse über
seine Zielstellung im engeren Sinne hinaus
geht, und eher sozialgeschichtliche Probleme des Militärdienstes wie Misshandlungen von Soldaten oder deren Selbstmorde thematisiert, obwohl – oder: gerade
weil – diese keine Rolle in der offiziellen
Erinnerungskultur, deren Hauptträger die
Militärvereine waren, spielten und verschwiegen wurden.
Obgleich auch hier durchaus auf bereits
vorhandene Literatur zurückgegriffen
werden kann, liefert Janoschke eine sinnvolle Synthese des vorhandenen, ergänzt
um Selbstzeugnisse einzelner Militärs,
Erinnerungsschriften von Einheiten oder
Vereinen sowie Aktenbestände zur Militärverwaltung. Damit gelingt es Janoschke,
seinem Leser einen überzeugenden Einblick in den soldatischen Mikrokosmos zu
ermöglichen, der zeigt, dass Soldaten auch
im Krieg Menschen mit allen Malessen
bleiben. Durch die verschiedenen Formen
der Memoiren wird auch über gesundheitsschädliche Anordnungen wie das Trinkverbot auf Märschen oder zu fest geschlossene
Halsbinden informiert. Außerdem finden
sich in den Erinnerungsschriften zahlreiche Alltagsprobleme wie die schlechte Informationslage an der Front, Probleme mit
der Lebensmittelbeschaffung durch Kauf
und Requirierungen oder Klagen über
minderwertige Bekleidung und kaputtes
Schuhwerk. Besonders schwerwiegend war
das Urteil über die Pickelhaube, denn diese
bot „nicht nur keinen Schutz gegen Splitter
und Geschosse, ihre Metallbeschläge stellten zusätzlich bei Treffern ein erhebliches
Risiko für schwere Kopfverletzungen dar.“
(S. 65)
Neben der physischen Lage wird auch die
psychische Situation der Soldaten nachgezeichnet: So berichten beispielsweise im
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Zuge eines Gefechts einige Kriegsteilnehmer „von einer Art Rauschzustand, der die
Wahrnehmung stark beeinträchtigte und
die natürliche Tötungshemmung minderte.“ (S. 87) An anderer Stelle löste die Tatsache, dass die Artillerie ganze Regimenter
dahinstreckte, sogar beim Kriegsgegner
Mitleid aus. Enttäuschung herrscht, als
die „Hoffnungen auf einen Frömmigkeitsschub, ausgelöst durch die existenzielle
Gefährdung im Krieg“ (S. 67) beim Gegner
ausbleiben.
Gerade letzteres führt Janoschke zu einer,
von der Forschung bisher nur wenig problematisierten Frage: der nach der seltenen
Darstellung negativer Aspekte, beispielsweise den Kriegsfolgen. „In ihren Erinnerungen glorifizierten die Veteranen den
Krieg, um ihren eigenen Leiden und den
zahlreichen Todesopfern einen Sinn zu
verleihen.“(S. 267). Janoschke sieht vor allem die überwiegend meliorativ darstellende Literarisierung und heldenhaft-überhöhende Stilisierung kriegerischen Handelns
als Ursache dafür an, dass bei den nachgeborenen Generationen die Hemmschwelle, einen Krieg zu beginnen, dramatisch
gesenkt wurde. Erst die letzte der von ihm
herausgestellten Wellen der literarischen
Verbreitung der Kriegserlebnisse in den
1890er Jahren, gelangte zu einer schonungsloseren Darstellung des Geschehens,
konnte – so Janoschkes These – das öffentliche Gedächtnis aber nicht mehr maßgeblich beeinflussen. Der mediale Vorsprung
der positiven Darstellungen war bereits zu
groß geworden.
Insgesamt liegt mit diesem Band in großen
Teilen eine flüssig lesbare und gut strukturierte Arbeit vor. Die wenigen Ausnahmen
bilden einige unvermittelte, mitunter aus
dem Zusammenhang gerissene sozialphilosophische Abhandlungen und anekdotenhafte Einzelheiten, die sich nicht immer
AEON // Jahrgang 2 (2010)
in den Erkenntniszusammenhang einordnen lassen. Janoschke bietet damit mehr als
den bloßen Ansatz einer militärgeschichtlichen Zustandsbeschreibung, wenn er
die Erinnerungskultur des späten 19. und
frühen 20. Jahrhunderts aufzeigt. Sicher, er
tut dies aus einer sächsischen Perspektive.
Die soziologischen und zu Teilen psychologisch reflektierenden Darstellungen der
Erinnerungsgemeinschaft dieser Zeit aber
machen die Arbeit auch für Historiker
ohne landesgeschichtlichen Schwerpunkt
zu einer lohnenden Lektüre.
Gunter Janoschke, Von der Erlebnis- zur Erinnerungsgemeinschaft. Militärvereine und
militärische Erinnerungskultur im Königreich Sachsen 1863–1913, Altenburg 2009
(Leipziger Universitätsverlag). 306 Seiten.
Preis: 49,00 Euro (Deutschland). ISBN 9783-86583-434-8.
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