Wenn im Alter das Geld ausgeht: Zum Verhältnis von Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe I. Fallbeispiele Fall 1: Mit seiner Pensionierung im Jahr 2012 entschied sich M. für einen Kapitalbezug seines Pensionskassenguthabens von total CHF 200‘000.--. Er gönnte sich damit Luxusreisen und lebte im Allgemeinen über seinen Verhältnissen. Ende 2014 sind von seinem Pensionskassenbezug lediglich noch CHF 1‘000.-- übrig. Auch sonst verfügt M. über kein nennenswertes Vermögen. Fall 2: Die betagte F. schenkte ihre Liegenschaft und einen Barbetrag von CHF 100‘000.-- im Jahr 2005 ihrem Sohn. Dieser räumte ihr im Gegenzug ein Nutzniessungsrecht an der Liegenschaft ein. Einige Jahre später war F. nicht mehr in der Lage, den Alltag alleine zu bewältigen und musste in ein Alters- und Pflegeheim ziehen. Im Jahr 2014 verfügt sie nicht mehr über die notwendigen Mittel, um für den Heimaufenthalt aufzukommen. II. 1. Ergänzungsleistungen zur AHV und IV1 Sinn und Zweck Weder F. noch M. verfügen im Jahr 2014 über die notwendigen Mittel aus der AHV und der Pensionskasse, um ihre laufenden Kosten im Alter decken zu können. Die Ergänzungsleistungen zur AHV sollen dort helfen, wo das Einkommen und die Renten nicht dazu ausreichen, die minimalen Lebenskosten zu decken. Gemäss Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG) werden die Ergänzungsleistungen in zwei Formen ausgerichtet. Ergänzungsleistungen bestehen gemäss Art. 3 ELG aus jährlichen Leistungen, welche monatlich ausbezahlt werden und in der Vergütung von Krankheits- und Behindertenkosten. Insbesondere wer Anspruch auf eine AHV- oder IV-Rente und in der Schweiz Wohnsitz oder tatsächlichen Aufenthalt hat, kann Ergänzungsleistungen beantragen. M. und F. erfüllen diese Voraussetzungen und stellen daher einen Antrag bei der zuständigen EL-Stelle auf Ergänzungsleistungen. Im Kanton Aargau hat die Anmeldung bei der Gemeindezweigstelle SVA der Wohnsitzgemeinde zu erfolgen. Frühestens mit Einreichen des offiziellen Antragsformulars kann ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen entstehen. 2. Berechnung2 Die jährlichen Ergänzungsleistungen entsprechen der Differenz zwischen den anerkannten Ausgaben und den Einnahmen, die angerechnet werden können (Art. 9 Abs. 1 ELG). Bei der Berechnung der Einnahmen sind ein Vermögensertrag und ein Vermögensverzehr zu berücksichtigen. 1 2 Merkblatt 5.01, Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (www.sva-ag.ch Merkblätter). Merkblatt 5.02, Ihr Recht auf Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (www.sva-ag.ch Merkblätter). 2.1 Übersicht über die anrechenbaren Ausgaben und Einnahmen Bei Ehepaaren, von denen zumindest der eine Ehegatte im Heim lebt, wird die jährliche Ergänzungsleistung für jeden Ehegatten separat berechnet. Die anrechenbaren Einnahmen und das Vermögen des Ehepaares werden den Ehegatten zu gleichen Teilen zugerechnet (Art. 9 Abs. 3 ELG). Es wird dabei zwischen Personen unterschieden, welche zu Hause leben und solchen, die im Heim wohnen (Art. 10 ELG). Bei Personen, die zu Hause leben, werden als Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf bei alleinstehenden Personen CHF 19‘210.-- als Ausgaben anerkannt. Bei Ehepaaren gelten CHF 28‘815.-- als anerkannte Ausgaben. Der jährliche Höchstbetrag für anerkannte Mietzinsausgaben und Nebenkosten beläuft sich bei alleinstehenden Personen auf CHF 13‘200.-- und bei Ehepaaren mit Kindern (die Anspruch auf eine Kinderrente der AHV oder IV begründen) auf CHF 15‘000.-- (Art. 10 Abs. 1 lit. a und lit. b ELG). Bei Personen, die dauernd oder längere Zeit in einem Heim oder Spital leben, werden als Ausgaben die Tagestaxe und der Betrag für persönliche Auslagen wie Kleidung, Pflegeprodukte, Zeitungen, Steuern usw. anerkannt. Die Kantone legen den Höchstbetrag für die Tagestaxe fest sowie den Betrag für persönliche Auslagen (Art. 10 Abs. 2 lit. a und lit. b ELG). Es werden weitere Ausgaben für beide Gruppen anerkannt. Dazu gehören beispielsweise Gebäudeunterhaltskosten und Hypothekarzinse bis zur Höhe des Bruttoertrages der Liegenschaft, geleistete familienrechtliche Unterhaltsbeiträge und ein jährlicher Pauschalbetrag für die obligatorische Krankenpflegeversicherung (Art. 10 Abs. 3 ELG). Als Einnahmen werden gemäss Art. 11 ELG insbesondere Einkünfte aus unbeweglichem und beweglichem Vermögen wie Zinsen, Miete, Pacht oder Nutzniessung oder der Eigenmietwert der Wohnung angerechnet. Soweit das Vermögen von Alleinstehenden den Betrag von CHF 37‘500.-- übersteigt und soweit das Vermögen von Ehepaaren den Betrag von CHF 60‘000.-- übersteigt, müssen sie sich einen Teil des Vermögens, das diesen Freibetrag übersteigt, als Einkommen anrechnen lassen (Vermögensverzehr). Bei Personen, die eine Altersrente beziehen, beträgt dies 1/10 des den Freibetrag übersteigenden Vermögens. Es sind die Vermögenswerte zu berücksichtigen, über welche die die Ergänzungsleistungen beantragende Person ungeschmälert verfügen kann.3 Vom angerechneten Vermögen sind die Schulden der beantragenden Person abzuziehen. Das kann Hypothekarschulden, Kleinkredite oder Darlehen betreffen.4 3. Vermögensverzicht5 Ebenfalls als Einnahmen angerechnet werden Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet wurde (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG). Damit ein Verzichtsvermögen in der Berechnung der Ergänzungsleistungen berücksichtigt werden kann, setzt die Rechtsprechung voraus, dass das Vermögen ohne rechtliche Verpflichtung weitergegeben wurde oder dass keine adäquate Gegenleistung erfolgte.6 Soweit bei den anrechenbaren Einnahmen der Vermögensertrag und 3 GARIGIET/KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf, 2009, S. 162 (zit. als: GARIGIET/KOCH). 4 GARIGIET/KOCH, S. 166. 5 Vgl. zum Forderungsverzicht, Glücksspiel, bedingten Vermögensverzicht, Verzicht auf Vermögenserträge und zu den erwähnten Verzichtstatbeständen: MARTIN KAISER, Das Verzichtsvermögen im Spannungsfeld des Rechts der Ergänzungsleistungen und des Rechts auf Sozialhilfe, in: Pflegerecht 2013, Bern, S. 146 ff. (abrufbar auf www.swisslex.ch). Vgl. auch: ANJUSHKA FRÜH, Anrechnung eines Vermögensverzichts im Ergänzungsleistungsrecht: Problemstellungen, Fehlanreize und Lösungsansätze, in: Jusletter 20. Oktober 2014. 6 BGE 131 V 329, Regeste und E. 4.3 f. 2 / 11 der Vermögensverzehr berechnet werden, ist auf das hypothetische Vermögen inklusive Vermögensverzicht abzustellen.7 4. Beispiele für Vermögensverzicht Pflegeleistungen, die ein Sohn und dessen Ehefrau gegenüber der (Schwieger-)Mutter erbrachten, ohne vorher die Entgeltlichkeit zu vereinbaren, wobei die Entgeltlichkeit in diesem Fall auch nicht üblich ist, können keine rechtliche Verpflichtung begründen. Eine Zahlung von CHF 90‘000.-- an den Sohn und dessen Ehefrau, die die Mutter während elf Jahren regelmässig pflegten, wurde durch das Bundesgericht daher als Schenkung, Erbvorbezug oder ähnliches Rechtsgeschäft und damit als Vermögensverzicht qualifiziert.8 Das Anlegen von Vermögen stellt gemäss Bundesgericht noch kein Vermögensverzicht dar, selbst wenn das Risiko eines Totalverlusts besteht. Das Risiko des Totalverlusts besteht prinzipiell bei jeder Vermögensanlage. Entscheidend für die Risikoabschätzung ist die Wahrscheinlichkeit, mit der sich dieses Szenario verwirklicht. Der Vermögensverzicht muss daher grundsätzlich auf Sachverhalte beschränkt bleiben, in denen bewusst ein Vermögen weggegeben oder zumindest in fahrlässiger Weise eine risikoreiche Investition getätigt wurde, bei welcher ein (erheblicher) Verlust von Anfang an sehr wahrscheinlich und damit absehbar war. Fehlt es an einem von Anfang an absehbaren Verlust, könnte auf die spätere Entwicklung höchstens dann abgestellt werden, wenn ein bevorstehender, beträchtlicher Verlust für eine breite Anlegerschaft klar erkennbar geworden wäre und der Beschwerdeführer geradezu grobfahrlässig wirksame Vorkehren zum Vermögensschutz unterlassen hätte, die jeder vernünftige Anleger in gleicher Lage getroffen hätte.9 Werden Liegenschaften übertragen, so ist der Verkehrswert des unentgeltlich entäusserten Grundstücks für die Prüfung des Vermögensverzichts massgebend. Der Verkehrswert gelangt gemäss Art. 17 Abs. 5 ELV nur dann nicht zur Anwendung, wenn von Gesetzes wegen ein Rechtsanspruch auf den Erwerb zu einem tieferen Wert besteht (z.B. gemäss BGBB; vgl. BGE 138 III 548). Die Adäquanz ist dann gegeben, wenn der Wert der kapitalisierten Nutzniessung mindestens 90 % des Verkehrswertes ausmacht. Die Differenz zwischen dem Verkehrswert der Liegenschaft und dem Wert der Nutzniessung entspricht dem anzurechnenden Vermögensverzicht.10 5. Amortisation des Vermögensverzichts Gemäss Art. 17a ELV wird der anzurechnende Betrag von Vermögenswerten, auf die verzichtet wurde, jährlich um CHF 10‘000.-- vermindert. Der Wert des Vermögens im Zeitpunkt des Verzichtes ist unverändert auf den 1. Januar des Jahres, das auf den Verzicht folgt, zu übertragen und dann jeweils nach einem Jahr um CHF 10‘000.-- zu vermindern. Für die Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung ist der verminderte Betrag am 1. Januar des Bezugsjahres massgebend. Die Anrechnung des Vermögensverzichts kann im Ergebnis nicht verjähren, aber amortisiert werden. 7 Vgl. zur Berechnung des Vermögensverzehrs bei Anrechnung von Verzichtsvermögen das Urteil des Kantonsgerichts BL KGE SV vom 6. Februar 2009 i.S. S. (745 08 199): http://www.baselland.ch/007htm.311396.0.html (zuletzt besucht: 20.11.2014). Für die Berechnungsbeispiele der Ergänzungsleistungen siehe: Merkblatt 5.01, Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (www.sva-ag.ch Merkblätter) 8 BGE 131 V 329, E. 4.2. 9 Urteil des BGer 9C_180/2010 vom 15. Juni 2010, E. 6. 10 GARIGIET/KOCH, S. 177. 3 / 11 Was bedeutet das für F. konkret? Die kapitalisierte Nutzniessung, welche der Sohn F. einräumte, beträgt nur 40 % des Verkehrswertes der Liegenschaft, weshalb keine adäquate Gegenleistung für die Entäusserung der Liegenschaft vorliegt und das Verzichtsvermögen anzurechnen ist. Die Differenz zwischen dem Verkehrswert der Liegenschaft und dem Nutzniessungswert ist F. als Vermögensverzicht anzurechnen. Ebenso ist F. der Verzicht auf das an ihren Sohn verschenkte Barvermögen von CHF 100‘000.-- anzurechnen. F. hat durch die Übertragung der Liegenschaft und des Bargeldes an ihren Sohn im Jahr 2005 auf ein Vermögen von insgesamt CHF 400‘000.-- verzichtet. Das Verzichtsvermögen von CHF 400‘000.-wird unverändert auf den 1. Januar des Folgejahres 2006 übertragen. Ab dem Jahr 2006 wird somit das Verzichtsvermögen um jährlich CHF 10‘000.-- vermindert. Am 1. Januar 2007 beträgt das anzurechnende Verzichtsvermögen folglich noch CHF 390‘000.--, am 1. Januar 2008 CHF 380‘000.-- usw., bis F. im Jahr 2014 schliesslich noch CHF 320‘000.-- als Verzichtsvermögen angerechnet werden. Leider ergibt die Prüfung des Antrags auf Ergänzungsleistungen, dass F. keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat. Wie aber steht es um M., welcher sein ganzes Pensionskassenguthaben für Luxusreisen und schöne Dinge ausgab? Er kann sich den Lebensunterhalt nicht mehr weiter leisten. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung11 fällt ein Vermögensverbrauch nicht unter den Tatbestand von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG, solange die Gegenleistung marktüblich bzw. adäquat ist oder solange nicht ohne rechtliche Verpflichtung auf Vermögen verzichtet wurde. Kann M. die Adäquanz der Gegenleistung für seinen gesamten Vermögensverbrauch belegen, wird ihm der Vermögensverzicht nicht angerechnet. Da M. kein Geld verschenkt hat, sondern sich zu marktüblichen Preisen Ferienreisen und sonstige Luxusgüter gegönnt hat, hat er auf kein Vermögen verzichtet, sondern hat eine adäquate Gegenleistung dafür erhalten. Gemäss Bundesgericht bietet das Ergänzungsleistungssystem keine gesetzliche Handhabe für eine „Lebenskontrolle“. Im Ergebnis führt das dazu, dass die Berechnung der Ergänzungsleistungen für M. ergibt, dass M. einen Anspruch auf monatliche Ergänzungsleistungszahlungen hat. Wenn eine versicherte Person in kurzer Zeit viel Geld für Luxusgüter ausgibt und über ihre Verhältnisse lebt, kann ihr kein Verzichtsvermögen angerechnet werden, solange ihren Ausgaben adäquate Gegenleistungen gegenüberstehen. Werden jedoch Erbvorbezüge gewährt oder wird für wohltätige Zwecke Geld gespendet, so kann aufgrund der fehlenden Gegenleistung das Vermögen, auf welches verzichtet wurde, als Verzichtsvermögen angerechnet werden.12 Manch einer empfindet diese Rechtslage als stossend. 6. Reform der Ergänzungsleistungen13 Im Juni 2014 hat der Bundesrat erste Richtungsentscheide für eine Reform der Ergänzungsleistungen gefällt. Grundsätzlich soll das Niveau der Ergänzungsleistungen erhalten bleiben. Es soll damit sichergestellt werden, dass die Ergänzungsleistungsreform nicht zu einer Leistungsverschiebung in die Sozialhilfe führt. Um das Risiko einer Ergänzungsleistungsabhängigkeit im Alter zu minimieren, soll die Verwendung der Eigenmittel für die Altersvorsorge verbessert werden. Zu diesem Zweck soll insbesondere der Kapitalbezug aus der Pensionskasse ausgeschlossen werden. Konkret bedeutet dies, dass in Zukunft nicht nur ein Kapitalbezug nach der Pensionierung nicht mehr möglich sein soll, sondern dass auch ein Verbot des Vor- 11 BGE 115 V 352. ANJUSHKA FRÜH, Rz. 64. Vgl. zu alternativen Vorschlägen zur aktuellen Rechtslage: ANJUSHKA FRÜH, Rz. 63 - 81. 13 Richtungsentscheide für eine Reform der Ergänzungsleistungen vom 25.06.2014, abrufbar unter: https://www.news.admin.ch/message/index.html?lang=de&msg-id=53491 (zuletzt besucht am 20.11.2014). 12 4 / 11 bezugs von Vorsorgegeldern für den Erwerb eines Eigenheims und zur Unternehmensgründung eingeführt wird. In der Öffentlichkeit wurde dieser Richtungsentscheid kritisiert, da ein direkter Zusammenhang zwischen Kapitalbezug und Ergänzungsleistungen bisher nicht belegt ist. Es fehlen die Zahlen, welche eine Aussage über den Verlust von Vorsorgegeldern aufgrund eines Vorbezugs zwecks Kauf einer Immobilie oder zwecks Unternehmensgründung belegen würden. Nach dem Richtungsentscheid des Bundesrates hätten Personen wie M. keine Möglichkeit mehr, das gesamte Pensionskassenguthaben als Kapitalzahlung im Zeitpunkt der Pensionierung zu beziehen und dann zu verprassen. Jene Personen, die nicht über die liquiden Mittel verfügen und von einem Eigenheim oder von der Selbständigkeit träumen, müssten diesen Traum in Zukunft aber begraben. III. 1. Die Sozialhilfe Wenn alle Stricke reissen In der Schweiz sind die häufigsten Lebensrisiken wie Alter, Invalidität, Krankheit, Mutterschaft und Arbeitslosigkeit versichert. Diese Versicherungen sind alle auf Bundesebene geregelt. Nicht so die Sozialhilfe, welche in der kantonalen Gesetzgebung verankert ist. Die Sozialhilfe kann dann beantragt werden, wenn und soweit die bedürftige Person sich nicht selber helfen kann oder wenn Hilfe von dritter Seite nicht oder nicht rechtzeitig erhältlich ist, z.B. wenn keine Angehörigen oder Sozialversicherungen Leistungen erbringen. Sind nicht genügend Mittel zum Leben vorhanden und erbringt weder die Invalidenversicherung (IV) noch die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die Krankenversicherung (KV), die Arbeitslosenversicherung (ALV), die Unfallversicherung (UV), die Erwerbsersatzordnung (EO) noch die Familienzulagen (FZ) genügend Leistungen, um den Existenzbedarf zu decken, so ist die Sozialhilfe zuständig. Die Sozialhilfe ist somit subsidiär, d.h. nachrangig zu sämtlichen Sozialversicherungen und sonstigen Leistungen Dritter. Das soziale Existenzminimum gewährleistet Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinische Grundversorgung sowie die Teilhabe am Sozialund Arbeitsleben nach den individuellen Verhältnissen. Die immaterielle Hilfe beinhaltet insbesondere Beratung, Betreuung und Vermittlung von Dienstleistungen. Diese Hilfe ist unabhängig von einem Gesuch um materielle Hilfe. Sozialhilfe erhält auch, wer seine Notlage selber verschuldet hat. Nur wenn sich die Sozialhilfe beantragende Person mit gutem Willen selbst unterhalten könnte, dies aber mutwillig unterlässt, ist eine Notlage und somit der Sozialhilfeanspruch zu verneinen.14 Im Kanton Aargau sind die Gemeinden zuständig für die Ausrichtung von Sozialhilfe. Wir erinnern uns: Der Antrag von F. auf Zahlung von Ergänzungsleistungen wurde abgewiesen, insbesondere aufgrund des hohen Vermögensverzichts. F. kann aber ihren Lebensunterhalt, insbesondere die Kosten für das Pflegeheim, nicht decken und beantragt daher bei ihrer Wohngemeinde im Kanton Aargau Sozialhilfe. 2. Bemessung der Sozialhilfe Für die Bemessung der materiellen Hilfe gilt im Kanton Aargau – mit Abweichungen – die von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe erlassenen Richtlinien (SKOS-Richtlinien), Stand 1. Juli 2004. Die meisten Kantone stellen auf die SKOS-Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe ab. Die SKOS-Richtlinien definieren, wie die Sozialhilfe berechnet wird. Es sind Empfehlungen zuhanden der Sozialhilfeorgane des Bundes, der Kantone, der Gemeinden sowie der Organisationen der privaten Sozialhilfe. Die Richtlinien werden durch 14 BSK ZGB I, Art. 328/329 N 12. 5 / 11 die kantonale Gesetzgebung und die kommunale Rechtsetzung und Rechtsprechung verbindlich.15 3. Die Verwandtenunterstützung16 Gemäss Art. 328 Abs. 1 ZGB sind Personen, die in günstigen Verhältnissen leben, verpflichtet, Verwandte in auf- und absteigender (Kinder-Eltern-Grosseltern) Linie zu unterstützen, die ohne diese Unterstützung in Not geraten würden. Der Anspruch auf Leistung ist in der Reihenfolge der Erbberechtigung geltend zu machen. Soweit mehrere Verwandte in Frage kommen, sind primär Verwandte ersten Grades (Eltern, Kinder) heranzuziehen. Unter Verwandten gleichen Grades besteht eine nach ihren Verhältnissen anteilmässige Verpflichtung. Was aber bedeuten günstige Verhältnisse? Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung lebt in günstigen Verhältnissen, wem aufgrund seiner Einkommens- und Vermögenssituation eine wohlhabende Lebensführung möglich ist. Gemäss § 7 Abs. 1 des Sozialhilfe- und Präventionsgesetzes des Kantons Aargau (SPG) prüfen die Gemeinden das Vorliegen von Ansprüchen aus Unterhalts- und Verwandtenunterstützungspflicht gemäss Art. 131 Abs. 3, Art. 289 Abs. 2 und Art. 329 Abs. 3 ZGB und treffen nach Möglichkeit eine Vereinbarung mit der pflichtigen Person über Art und Umfang der Leistung. Kommt es zu keiner Einigung mit der pflichtigen Person, so können die Gemeinden aber nicht einfach die verwandte Person mittels Verfügung verpflichten. Die Gemeinden müssen den Anspruch auf dem Wege des Zivilprozesses geltend machen (§ 7 Abs. 2 SPG). Gemäss § 6 Abs. 2 der Sozialhilfe- und Präventionsverordnung des Kantons Aargau (SPV) sind die Gemeinden verpflichtet, Unterhalts- und Verwandtenunterstützungsansprüche im Rahmen von Richtlinien des Regierungsrates geltend zu machen. Gemäss § 1 der Richtlinien über die Geltendmachung von Verwandtenunterstützung (VUR) ist der Zweck der Richtlinien die einheitliche Geltendmachung von Ansprüchen aus Verwandtenunterstützungspflicht durch die Gemeinden, welche Sozialhilfe gewähren. Soweit die VUR keine abweichenden Bestimmungen enthalten, gelten die Kapitel F.4 und H.4 der SKOS-Richtlinien mit Stand 12/08. 3.1 Zumutbarkeit Gemäss Art. 329 Abs. 2 ZGB kann das Gericht die Unterstützungspflicht ermässigen oder aufheben, wenn die Heranziehung des Pflichtigen wegen besonderer Umstände unbillig ist. Die Verwandtenunterstützung muss somit in persönlicher Hinsicht zumutbar sein. Die Leistung der Verwandten muss in individueller Hinsicht angemessen sein. Bei Vorliegen unbilliger Umstände kann von einer Verwandtenunterstützung abgesehen werden. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn zwischen dem Berechtigten und dem Verpflichteten keinerlei familiäre Bindung besteht. So wurde im Urteil des Bundesgerichts (BGer 5C.298/2001) vom 21. Februar 2002 das Urteil der Vorinstanz bestätigt, wonach das Begehren der Wohngemeinde des Sohnes abgewiesen wurde, den Vater zu verpflichten, an den Sohn in Zukunft Unterhalt zu bezahlen und der Gemeinde an den Sohn geleistete Sozialhilfe zu entschädigen. Vater und Sohn hatten bis auf einen einzigen persönlichen Kontakt seit über 20 Jahren keinen Kontakt mehr miteinander gepflegt. Es hat somit keine persönliche Bindung mehr bestanden und es fehlte an einer tragfähigen Basis für die Solidarität unter den Generationen. Die Unterstützungspflicht eines Kindes gegenüber seinem Vater kann ermässigt oder aufgehoben werden, wenn der Vater früher seiner Unterhaltspflicht nicht nachgekommen ist oder das Besuchsrecht missbraucht hat. In der Gerichtspraxis wird teilweise die Auffassung vertreten, bei erwachsenen 15 Homepage der SKOS: http://skos.ch/; SKOS-Richtlinien: http://skos.ch/skos-richtlinien/richtlinienkonsultieren/ (zuletzt besucht am 20.11.2014). 16 F.4, H.4 der SKOS-Richtlinien 12/08. 6 / 11 Drogensüchtigen könne es nur zu einem gänzlichen Entfallen der Zahlungspflicht kommen, wenn besonders qualifizierte Umstände vorlägen. Bei weniger schwerwiegenden Umständen kommt allenfalls eine Ermässigung der Unterstützungspflicht in Frage.17 3.2 Die Berechnung der Verwandtenunterstützung18 Die Prüfung der Fähigkeit einer verwandten Person zur Erbringung von Unterstützungsleistungen wird nur vorgenommen, soweit das anrechenbare Einkommen, d.h. das steuerbare Einkommen gemäss Bundessteuer zuzüglich Vermögensverzehr, folgende jährlichen Sätze übersteigt: CHF 120‘000.-- für Alleinstehende und CHF 180‘000.-- für Verheiratete, wobei für jedes minderjährige oder in Ausbildung befindliche Kind ein Zuschlag von CHF 20‘000.-- getätigt werden kann. Der Vermögensverzehr berechnet sich, indem vom steuerbaren Vermögen ein Freibetrag von CHF 250‘000.-- für Alleinstehende, CHF 500‘000.-- für Verheiratete und CHF 40‘000.-- pro Kind abgezogen wird. Der verbleibende Betrag wird aufgrund der durchschnittlichen Lebenserwartung umgerechnet und zum Einkommen gezählt. Übersteigt der resultierende Betrag, d.h. das anrechenbare Einkommen, die genannten Schwellen von CHF 120‘000.-- für Alleinstehende bzw. CHF 180‘000.-- für Verheiratete (zzgl. CHF 40‘000.-- pro Kind, das minderjährig oder in Ausbildung ist), so nimmt die Sozialhilfebehörde eine nähere Prüfung der Beitragsfähigkeit vor. Als Verwandtenunterstützungsbeitrag kann grundsätzlich die Hälfte der ermittelten Differenz zwischen dem anrechenbaren Einkommen und der Pauschale für gehobene Lebensführung eingefordert werden. Die Pauschale für gehobene Lebensführung beträgt für einen 1-Personenhaushalt CHF 10‘000.-- im Monat und für einen 2-Personenhaushalt CHF 15‘000.-- im Monat. Für jedes minderjährige oder pro Kind in Ausbildung kann ein monatlicher Zuschlag von CHF 1‘700.-- dazugerechnet werden. Da F. Sozialhilfe beantragt hat, wird ihr Sohn mittels Fragebogen durch die Sozialhilfebehörde dazu aufgefordert, seine finanziellen Verhältnisse offenzulegen. Die Prüfung ergibt, dass der kinderlose alleinstehende F. mit seinem anrechenbaren Einkommen knapp unter dem Schwellenbetrag von CHF 120‘000.-- jährlich liegt. Es wird daher von einer näheren Prüfung der Verwandtenunterstützung an seine Mutter abgesehen. Schliesslich ist es der Moralvorstellung von F. überlassen, ob er seine von der Sozialhilfe abhängige Mutter, nachdem diese ihn grosszügig bedacht hatte, unterstützen will oder nicht. IV. Zusammenfassung Soweit im Alter die Geldflüsse aus der AHV und der Pensionskasse nicht ausreichen, um den notwendigen Lebensunterhalt zu decken, können Ergänzungsleistungen beantragt werden. Wurden in den Jahren zuvor Vermögenswerte ohne rechtliche Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung veräussert, beispielsweise an Nachkommen im Rahmen eines Erbvorbezuges, so wird dieses Vermögen im Rahmen der Berechnung des Ergänzungsleistungsanspruchs nach Abzug einer jährlichen Amortisation von CHF 10‘000.-- berücksichtigt, wie wenn es noch vorhanden wäre. Der Vermögensverzicht verjährt folglich nicht, er kann aber amortisiert werden. Wird der Anspruch auf Ergänzungsleistungen nicht gutgeheissen oder reichen 17 18 BSK ZGB I, Art. 328/329 N 19. Vgl. zur genauen Berechnung der Verwandtenunterstützungspflicht: H.4 der SKOS-Richtlinien; für ein Berechnungsbeispiel siehe Anhang. 7 / 11 die gewährten Ergänzungsleistungen nicht aus, um den Existenzbedarf zu decken, so bleibt nur die Beantragung von Sozialhilfe. Die Sozialhilfebehörde prüft, ob allenfalls eine Unterstützung durch Verwandte in Frage kommt, wobei diese in günstigen Verhältnissen leben bzw. aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögenssituation eine wohlhabende Lebensführung geniessen müssen. Kommt eine Verwandtenunterstützung nicht in Frage, so kommt die Sozialhilfe für den notwendigen Bedarf auf. Möhlin, 25. November 2014 Studer Anwälte und Notare AG Für RA Pius Koller MLaw Myriam Hidber Anhang: 1. Tabellen betreffend Verwandtenunterstützungspflicht 2. Berechnungsbeispiel Verwandtenunterstützung 8 / 11 V. Anhang 1. Tabellen betreffend Verwandtenunterstützungspflicht19 Steuerbares Einkommen gemäss Bundessteuer zuzüglich Vermögensverzehr Alleinstehende Verheiratete Zuschlag pro minderjähriges oder in Ausbildung befindliches Kind 120‘000.-- 180‘000.-- 20‘000.-- Eine nähere Prüfung der Fähigkeit, Verwandtenunterstützung zu leisten, wird nur vorgenommen, wenn die obigen Sätze überstiegen werden. Freibeträge Alleinstehende Verheiratete 250‘000.-- 500‘000.-- Zuschlag pro minderjähriges oder in Ausbildung befindliches Kind 40‘000.-- Vom steuerbaren Vermögen sind die hiervor aufgeführten Freibeträge abzuziehen. Vermögensverzehr Alter des Pflichtigen Umwandlungsquote (Verzehr pro Jahr) 18-30 1/60 31-40 1/50 41-50 1/40 51-60 1/30 ab 61 1/20 Vom Betrag, der nach Abzug der Freibeträge übrig bleibt, wird der jährliche Vermögensverzehr berechnet. Dies gemäss den obigen Umwandlungsquoten. 19 Zur Berechnung der Verwandtenunterstützungspflicht: F.4, H.4 der SKOS-Richtlinien 12/08. 9 / 11 Pauschale für gehobene Lebensführung 1-Personenhaushalt 2-Personenhaushalt 10‘000.-- 15‘000.-- 10 / 11 Zuschlag pro minderjähriges oder in Ausbildung befindliches Kind 1‘700.-- Berechnungsbeispiel Verwandtenunterstützungspflicht20 2. Clara, 20 Jahre, hat ihre Lehre als Chemielaborantin abgebrochen und ist arbeitslos geworden. Sie hat keinen Anspruch auf Arbeitslosentaggelder, da sie bereits ausgesteuert ist. Ihre Eltern kämpfen auch mit finanziellen Problemen. Ihre verwitwete Grossmutter, 58 Jahre, hat ein Vermögen mit einem Steuerwert von CHF 2 Mio. und erwirtschaftet jährlich ein steuerbares Einkommen von CHF 150‘000.--. Berechnung des anrechenbaren Einkommens = steuerbares Einkommen + monatlicher Vermögensverzehr Steuerbares Einkommen pro Monat CHF 150‘000.-- : 12 = CHF 12‘500.-- Vermögensverzehr pro Monat CHF 58‘333.-- = CHF 4‘860.--* Total anrechenbares Einkommen CHF 12‘500.-- + CHF 4‘860.-- = CHF 17‘360.-- : 12 CHF 17‘360.-- x 12 = CHF 208‘320.-- anrechenbares Einkommen pro Jahr. Der Schwellenwert von CHF 120‘000.-- pro Jahr ist somit überschritten und die Verwandtenunterstützungspflicht wird näher geprüft. *Berechnung des jährlichen Vermögensverzehrs = (steuerbares Vermögen – Freibetrag) x Umwandlungsquote je nach Alter CHF 2 Mio. – CHF 250‘000.-- = CHF 1.75 Mio. CHF 1‘750‘000.-- x 1/30 = CHF 58‘333.-- Berechnung des Unterstützungsbeitrags = (anrechenbares Einkommen – Einkommenspauschale) : 2 Anrechenbares Einkommen CHF 17‘360.-- Abzüglich Einkommenspauschale CHF 10‘000.-- Total CHF 7‘360.-- : 2 = Unterstützungsbeitrag pro Monat CHF 3'680.-- 20 Zur Berechnung der Verwandtenunterstützungspflicht: F.4, H.4 der SKOS-Richtlinien 12/08; www.verwandtenunterstuetzung.ch/berechnungsbeispiel (zuletzt besucht: 20.11.2014). 11 / 11
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