Auslegung einer technisch dichten Flanschverbindung - IDT

FACHBEITRAG
Auslegung einer technisch dichten
Flanschverbindung – Leitfaden zur
Erhöhung der Anlagensicherheit
und -verfügbarkeit
In einer mehrteiligen Beitragsserie – beginnend mit dieser Ausgabe – wird ein Überblick über die Grundlagen zur
technisch richtigen Auswahl von Dichtsystemen gegeben. Dieser erste Teil befasst sich mit den allgemeinen und
theoretischen Grundlagen und dient als Leitfaden zur Erhöhung der Anlagensicherheit und -verfügbarkeit; die
folgenden Veröffentlichungen werden spezielles und praxisorientiertes Wissen vermitteln und detailliert Dicht­
systeme und ihre Anwendung und Einsatzbereiche darstellen.
JÖRG SKODA, MICHAEL BALCEREK
S
pätestens seit der Gründung der ersten chemischen Fabriken Mitte des 18. Jahrhunderts ist
das Abdichten von verschraubten Verbindungen
in Prozessanlagen ein Thema der Dichtungstechnik.
Dabei ist die Komponente „Dichtung“ (Bild 1) nur
Teil einer Gleichung, die aus einer Vielzahl weiterer
Parameter besteht. Erst die Betrachtung und technische Würdigung aller Teilkomponenten erlaubt in
Summe eine funktionale Aussage über die sichere
Auslegung einer Flanschverbindung und das emissions- und damit immissionsarme Betreiben einer
Anlage, wobei Emissionen die von einer Anlage
ausgehenden Luftverunreinigungen und Belastungen
sind und Immissionen die auf Mensch und Umwelt
einwirkenden Schadstoffe oder Belastungen.
Obwohl auf Seite der Anlagenbetreiber schon
immer Priorität auf betriebswirtschaftliche Optimierung und somit auch Minimierung von Medienverlust
in den Anlagen gesetzt wurde, so wurde auch – in
Ermangelung geeigneter Nachweismethoden sowie
empirischer Berechnungsmodelle – bis vor einigen
Jahrzehnten Emission an verschraubten Verbindungen
meist erst im laufenden Betrieb festgestellt; die Detektierung einer Leckage erfolgte in der Regel pragmatisch mittels visueller oder sensorischer Prüfungen.
Auf der Grundlage zahlreicher wissenschaftlicher
Studien und Projekte wurde in den zurückliegenden
Bild 1: Hochwertiges Dreikomponenten-Dichtsysteme (TALuft- und FDA-konform) aus Graphit, Edelstahl und PTFE
(IDT Basiswerkstoff WS 3870) mit minimaler Leckage und
maximaler Sicherheit bei hoher chemischer Beständigkeit
speziell für den Einsatz in Pharma- und Chemieanlagen.
Jahren die theoretische Beherrschbarkeit von emissionsträchtigen Flanschverbindungen grundlegend erforscht
und teilweise neu definiert. Im Zusammenspiel mit
Dichtungsherstellern wurden diese Erkenntnisse umgesetzt und neue Werkstoffe und Dichtungskonstruktionen
in den Werknormen der Anlagenbetreiber etabliert.
Einhergehend mit den gesetzlichen Anforderungen
unter anderem zum Immissionsschutz und UmsetDichtungstechnik
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FACHBEITRAG
zung in technischen Regelwerken konnte heute ein
Stand der Technik erzielt werden, der es erlaubt,
hohe Betriebssicherheit und Anlagenverfügbarkeit
zu gewährleisten.
AUSWAHL EINER GEEIGNETEN
FLANSCHVERBINDUNG: DER FÜNFSTUFEN-ANSATZ
Die VDI 2290 „Emissionsminderung-Kennwerte
für dichte Flanschverbindungen“ gilt als Richtlinie
für die Beurteilung der technischen Dichtheit und
ist Grundlage zur Auslegung und Berechnung von
verschraubten Flanschverbindungen für flüssige und
gasförmige Medien, für die emissionsbegrenzende
Anforderungen (Dichtheitsklassen) nach der TA Luft
festgelegt sind und somit für alle Verbindungen in
Rohrleitungen, an Apparaten und Armaturen; sie gilt
aber begrenzend nur für Metallflansche und nur bis
zu einer maximalen Betriebstemperatur von 400 °C.
Zusätzlich enthält die Richtlinie Erläuterungen zur
Auswahl der Dichtungskennwerte sowie die notwendigen zusätzlichen Informationen zur Berechnung von
Flanschverbindungen.
Zu beachten ist, dass jede Flanschverbindung
bzw. Rohrklasse für jeden Anwendungsfall einzeln
und differenziert betrachtet werden muss, da die
Richtlinie zusätzliche Vorgaben zur Dichtheit, Dokumentation und zum Qualitätssicherungsnachweis
enthält.
Die Auswahl für eine technisch dichte Flanschverbindung sollte daher mindestens auf den folgenden
fünf Stufen basieren:
1. Betriebsbedingungen Jeder Prozess, jedes Verfahren, jeder Betrieb stellt spezifische Anforderungen
an die verbauten Flanschverbindungen. Die wesentlichen Einflussgrößen, die bei der Auswahl eines
Dichtsystems berücksichtigt werden sollten, sind:
¡¡
¡¡
¡¡
¡¡
Druck (zum Beispiel Betriebsdruck)
Temperatur (zum Beispiel Betriebstemperatur)
Medium
Fahrweise der Anlage (zum Beispiel häufige
Lastwechsel, o. ä.)
Die Analyse und Bewertung dieser Parameter
erlaubt dann eine erste Orientierung für die Auswahl des geeigneten Dichtungswerkstoffs bzw. des
Dichtsystems.
2. Gesetzliche Forderungen und Verordnungen
Es gibt eine Vielzahl an Forderungen, die vom
Gesetzgeber an die Betreiber gestellt werden und
auch unmittelbar Einfluss auf die Auswahl des Dichtsystems nehmen. Zu den häufigsten Forderungen
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Dichtungstechnik
Heft 1 / 2014
gehören unter anderem:
¡¡ TA Luft 2002 [1]
¡¡ Ausblassicherheit [2]
¡¡ Fire-safe [3]
¡¡ BAM-Prüfung für Reaktionsfähigkeit mit
Sauerstoff
¡¡ FDA-Freigabe [4]
Dichtungen müssen die jeweiligen Anforderungen
meist durch standardisierte Prüfungen unabhängiger
Institute (zum Beispiel TÜV) bzw. durch entsprechende
Dokumentation und Bestätigung des Herstellers nachweislich erbringen, um von den Behörden akzeptiert
zu werden. Wenn das Dichtungsmaterial/Dichtsystem die betrieblichen und gesetzlichen Anforderungen für die spezifische Anwendung erfüllt, kann mit
der konstruktiven Auslegung begonnen werden.
3. Konstruktion In der Konstruktionsphase werden
unter Beachtung der relevanten Betriebsbedingungen
und gesetzlichen Forderungen auch die geeigneten
Werkstoffe für Flansche und Schrauben sowie Flanschgeometrie in geeigneter Kombination ausgewählt,
dimensioniert und dokumentiert. Im Zusammenspiel
der Komponenten der damit ausgelegten Flanschverbindung (Flansch-Schraube-Dichtung) ist abschließend
rechnerisch
a) ein Festigkeitsnachweis oder
b) ein Festigkeits-und Dichtheitsnachweis
für das gesamte System der ausgelegten Flanschverbindung zu erbringen und entsprechend dem jeweils
gültigen Regelwerk zu dokumentieren.
4. Berechnung Es gibt verschiedene Methoden,
um den geforderten Nachweis zur Festigkeit und
Dichtheit zu erbringen.
Der reine Festigkeitsnachweis wird überwiegend
dann gewählt, wenn eine Berechnung — zum Beispiel für Energieleitungen — erfolgen muss; diese
erfolgt dann in der Regel nach AD-Regelwerk 2000
[5] (Merkblätter B7 und B8). Als Ergebnis der Berechnung erhält der Anlagenplaner einen Nachweis darüber, dass die von ihm gewählte Flanschverbindung
richtig ausgelegt und die Anlagensicherheit ausreichend nachgewiesen wurde.
Nach heutigem Stand der Technik ist der reine
Festigkeitsnachweis dann als nicht geeignet einzustufen, wenn die Anlage der Verordnung nach TA Luft
unterliegt oder kritische (zum Beispiel toxische, kanzerogene Medien) in der Anlage gefördert werden.
Bei diesen Gegebenheiten erfolgt der Nachweis nach der Berechnungsnorm EN 1591-1
[6]. Mit dieser ist es nun möglich, einen Festigkeits- und Dichtheitsnachweis zu erbringen. Bei
TA-Luft-Anwendungen ist der Nachweis zur Einhaltung einer spezifischen, geforderten Leckagerate zwingend und in der Richtlinie VDI 2290
gefordert; die dort festgelegte Leckagerate
≤ 0,01 mg · s–1·m–1 muss für die vorhandenen
Betriebsbedingungen nachgewiesen werden. Für
alle anderen, kritischen Anwendungsfälle wird die
Berechnung analog empfohlen. Als Ergebnis erhält
der Anlagenbetreiber ergänzend zu dem notwendigen Festigkeitsnachweis hier nun eine Aussage über
die technische Dichtheit der Flanschverbindung.
Eine aus dichtungstechnischer Sicht wesentliche
Grundlage für die Berechnung nach der Norm EN
1591-1 ist, dass Dichtungskennwerte nach der Prüfnorm EN 13555 [7] in die Berechnung eingehen.
Hierfür sind die Dichtungshersteller verpflichtet, die
relevanten Dichtungskennwerte prüftechnisch zu ermitteln (Bild 2). Die Anlagenbetreiber fordern zudem
eine Verifizierung der durch den Dichtungshersteller
ermittelten Werte und die Veröffentlichung in der
Datenbank des Fachbereichs „Dichtungstechnik“ der
FH Münster (www.gasketdata.org).
5. Montage Der Einfluss einer fachgerechten Mon-
Großchemie ein Leitfaden zur Umsetzung einer kontrollierten Montage erstellt, der über den Verband der
Chemischen Industrie (VCI) erhältlich ist. Durch die
Umsetzung einer qualifizierten Montage kann somit
eine definierte Leckageklasse im Betrieb eingehalten
und abgesichert werden.
Mit der hinreichenden Würdigung und Umsetzung
des hier benannten fünfstufigen Ansatzes wird dem
Anlagenbetreiber die Möglichkeit gegeben, eine
sichere und technisch dichte Flanschverbindung im
Betrieb zu realisieren; das bedeutet für den Betreiber in Summe die Erhöhung der Anlagensicherheit,
eine Minimierung von Medienverlusten und deutliche
Optimierung der Anlagenverfügbarkeit.
GLOSSAR
[1] TA Luft 2002 „Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft“
[2]Ausblassicher „Dichtung kann nicht durch den Innendruck
aus dem Sitz gedrückt werden“
[3]
Fire-safe „Beibehaltung der Dichtheit unter Einwirkung einer
Temperatur von 650 °C während einer Dauer von 30 Minuten“
[4] FDA-US Food und Drug Administration
[5]
AD Regelwerk 2000 „konkretisiert alle grundlegenden Sicherheits- und Konformitätsfestlegungen, die nach der europäischen Druckgeräterichtlinie (DGRL) beachtet werden müssen. [6]EN 1591-1 „Flansche und Flanschverbindungen – Regeln
für die Auslegung von Flanschverbindungen mit runden Flanschen und Dichtung – Teil 1: Berechnungsmethode“
[7]EN 13555 „Flansche und ihre Verbindungen –– Dichtungskennwerte und Prüfverfahren für die Anwendung der Regeln
für die Auslegung von Flanschverbindungen mit runden Flanschen und Dichtungen“
AUTOREN
Bild 2: Prüfstand zur Ermittlung von Dichtungskennwerten
nach EN 13555 im Forschungs- und Entwicklungszentrum
der Firma IDT
tage auf die technisch dichte Flanschverbindung
wurde in der Vergangenheit leider unterschätzt. Dieser Bereich wurde mit Inkrafttreten der Richtlinie VDI
2290 ergänzt. Hier wird nun neben dem benannten
rechnerischen Nachweis auch die Umsetzung einer
qualifizierten Montage gefordert.
Präzisiert wird diese Forderung durch die Einführung der Norm EN 1591-4:2013, die die
Grundlage für die Qualifizierung und Befähigung
von Montagepersonal von Schraubverbindungen in
druckbeaufschlagten Systemen im kritischen Einsatz
beschreibt. Ergänzend wurde durch die deutsche
DIPL.-ING. JÖRG SKODA
Leiter Anwendungstechnik
IDT Industrie-und Dichtungstechnik
GmbH
45307 Essen
Tel.: +49 201 85511-0
MICHAEL BALCEREK
Staatl. gepr. Techniker
Anwendungstechnik
IDT Industrie-und Dichtungstechnik
GmbH
45307 Essen
Tel.: +49 201 85511-0
Dichtungstechnik
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