Cornel Stan DRACFRIED Dracula versus Diesel Cornel Stan Dracfried – Dracula versus Diesel ISBN: 978-3-944829-XX-X Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © FORMAT Druckerei & Verlagsgesellschaft mbH Covergestaltung: Julia Netz Satz, Druck und Bindung: FORMAT Druckerei & Verlagsgesellschaft mbH, Jena www.format-jena.de Jena 2016 CORNEL STAN DRACFRIED Dracula versus Diesel Roman For mat Druckerei & Verlagsgesellschaft mbH prolog Seine großen, tiefschwarzen energiegeladenen Augen durchbohrten das Gestrüpp im steil abfallenden Gelände vor seiner Enduro Maschine, die den Kampf stets geradlinig suchte, soweit das ging. Siegfried hatte keinen Helm auf, seine Gedanken brannten – das hätte kein Helmmaterial ausgehalten. Seine rabenschwarzen, groß gelockten und etwas langen Haare flatterten hinter den strahlenden Augen, die gerade Nase streckte sich nahezu bis zur großen Unterlippe, die von seiner Mandibula weit in Front geschickt war. Siegfried war wütend, sehr wütend, was seine Maschine impulsartig spürte. Umso besser – wofür hatte sie sonst die zwei intelligenten Roboter zwischen dem harten und zackigen Willen von Siegfried und dem harten und zackigen Profil des Geländes. In jedem Rad war ein kompakter Antriebselektromotor integriert. Jeder davon bot von der ersten Umdrehung an sein maximales Drehmoment – so viel wie der Kolbenmotor eines Sportwagens erst ab fünftausend Umdrehungen schaffen kann. Eine Kette war nicht mehr nötig, der Antrieb auf beiden Rädern war variabel, steuerbar als Optimum zwischen Siegfrieds Mut und Laune und der Realität unter seinen Rädern. Die Lenkung der beiden Räder und zum großen Teil auch die Dämpfung waren von winzigen Elektromotoren gesteuert. Der Saft für so viel Elektrik am Vorder- und am Hinterrad kam von einem Stromgenerator unter dem Tank, der von einer Miniaturgasturbine angetrieben und mit einer kompakten Speicherbatterie verbunden war. Im Tank wiederum war der Schnaps für die Gasturbine. Das Gefährt entstand als Ergebnis einer sowohl angestrengten wie kreativen vierzehnmonatigen Teamarbeit: Initiator, Koordinator und Ausführer aller Kleinarbeiten war Siegfried selbst. Professor Albert Mann, sein Adoptivvater und Chef der namhaften ElektroautoSchmiede Voltornia sorgte für die intelligenten Radroboter samt Elektromotoren. Professor Constantin Sturm aus Berlin, guter Freund von Albert Mann, bemühte sich, seine kleinste Gasturbine noch viel kleiner zu machen. Die Motorradbaugruppen lieferte eine berühmte Firma aus Italien, deren Chefingenieur, wiederum ein guter Freund von Constantin Sturm, von dem Konzept begeistert war. Und schließlich war noch der Bauer Josef von der Partie, als Treibstofflieferant für die Gasturbine: 5 sein Gut war zwei Hügel vom Haus der Manns entfernt, seine Obstplantage war prächtig; und faule Äpfel und Birnen für Turbinenschnaps, den er selbst brannte, waren immer da – und wenn nicht, dann halfen die Nachbarn mit Kartoffelschalen und anderen Pflanzenresten. Mobilität auf Rädern, dazu noch mit Fremdantrieb, und noch schlimmer, mit etwas drin was auch noch brennt – pfui Teufel – hat allerdings jederzeit jede Art von Gegnern: Naturisten, Propagandisten, Fetischisten und sonstige Extremisten. Gegen Siegfrieds Maschine gab es hauptsächlich und grundsätzlich eine Gegnerin, sie war aber beachtlich – seine Mutter Waltraud, die ihn über alles in der Welt liebte und in jeder Lage offen oder getarnt über ihn, über sein Leben und über sein Wohl wie eine Löwin wachte. Mit dem Wohl war es ohnehin so eine Sache: obgleich sich Siegfried bei seinen Kommilitonen im Deutschen Gymnasium von Kronstadt in Transsilvanien für Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft, aber insbesondere für seine ungewöhnliche Begabung in Physik und Mathematik etwas zwischen Ruhm, Respekt, Bewunderung und Neid verschaffte, brandmarkten sie ihn mit einem furchterregenden Stigma: Eines Tages erschien in der Klasse, anstatt des allgemein beliebten, messerscharfen und witzigen Physiklehrers Nowak, der sich einer Blutuntersuchung unterziehen musste, ein sehr unwillkommener Vertreter: Lehrer Gramenos war ein Choleriker, der die Physik als sein eigenes Königreich verstand – welches allerdings nur aus Luftschlössern und Luftnummern bestand, was er selbst aber bei keiner Gelegenheit, sei diese noch so peinlich oder lächerlich gewesen, realisierte. Als er reinkam, versuchten alle Schüler irgendwie zu Luft zu werden. Weil jedoch der König selbst Luftschlösser besaß, wurden die Delinquenten umso deutlicher für ihn. Von Siegfried, dem Physikass mit einem so berühmten Adoptivvater hatte er schon längst gehört. Nun bot sich endlich die erwartete Gelegenheit an, sich dieses Genie vorzuknöpfen. „Mann, Siegfried an die Tafel!“ Siegfried gehorchte, geräuschlos. „Physikgenie, was?“ Siegfried schaute ihn mit seinen großen Augen fragend an: „Was habe ich Ihnen getan?“ „Nun, von Albert Einstein hast du sicher gehört, oder glaubst du dich gar besser als er?“ 6 Siegfrieds Augen bekamen plötzlich Energie, die auf einer Frequenz im roten Bereich des Spektrums ausstrahlte, was Gramenos nicht sah, dafür aber seine Kommilitonen: „Schlag, Sieg!“ „Erläutere die Relativitätstheorie!“ Erklären, das wäre vielleicht etwas gewesen, aber erläutern, warum nicht gleich rezitieren? „Wie meinen Sie das?“ „Kennst du vielleicht eine Formel dafür, du Philosoph von der hinteren Dorfgasse?“ „Meinen Sie Energie ist gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat?“ „Auswendig gelernt, das kann meine Enkelin im Kindergarten auch! Wenn du etwas schlauer wärest, könntest du uns vielleicht erzählen, was Albert Einstein damit sagen wollte.“ Siegfrieds Blick strahlte nunmehr im Röntgenbereich, der richtete diese Waffe aber nicht auf den Gramenos. Nicht diese. „Herr Professor, mit Verlaub, nehmen wir mal ein Auto an …“ „Wo habt ihr sonst den Kopf, ihr verzogenen Burschen – Auto, Schnaps …“ (Das geilste Stück in der Aufzählung hatte er auf den Lippen, schluckte es aber schnell runter, es hätte vielleicht doch Ärger mit dem furztrockenen Direktor gegeben.) „Wenn ich fortfahren darf, Herr Professor: Das Auto hat einen Kolbenmotor, der genau wie in ihrem Beispiel, mit Schnaps fährt …“ „Du wirst langsam zu unverschämt, du … du … (der furztrockene Direktor erschien ihm wieder vor Augen). Lachst du den Einstein aus – oder gar mich?“ Das Einstein oder gar mich verursachte in der Klasse einen spontanen und gesunden Lachknall, der beim bösen Blick Gramenos abrupt verstummte. „Ich bitte um Verzeihung, Herr Professor, das hatte ich keineswegs im Sinne. Schauen Sie, Schnaps, beispielsweise Ethanol, hat einen Heizwert von sechsundzwanzig Megajoule je Kilogramm, wovon bei Verbrennung mit Luft leider nur noch etwa ein Siebtel zur Verfügung steht. Und dennoch, die dabei entfaltete Energie ist erheblich.“ „… und was hat das nun mit der Relativitätstheorie und mit deinem Auto zu tun, Herr Wissenschaftler?“ erwiderte der Lehrer, ziemlich verunsichert von den für ihn unerwarteten und zu schnellen Zusammenhängen. 7 „… nun, Albert Einstein will uns sagen, dass es besser wäre, wenn wir die Verbrennungsmotoren in Autos hinten platzieren würden, so wie es Porsche macht.“ „Geh’ nicht zu weit, du Schelm!“ „Sehen Sie, wenn auf der einen Seite der Gleichung die Energie durch Verbrennung steigt, wird doch auf der anderen Seite die Masse entsprechend größer – angenommen, wie Einstein meint, die Lichtgeschwindigkeit wäre konstant.“ Siegfried schrieb das nicht an die Tafel, sondern rezitierte es wie ein Gedicht, fairerweise aber langsam, was den Denkprozess unter der rot gewordenen Glatze von Gramenos zum Teil animierte, was die Schüler in seinem Gesicht auch sahen, ufff, denken muss bei manchen so weh tun … „… und was soll nun der Quatsch?“ „Wenn Sie erlauben, Herr Professor, es ist kein Quatsch, das Ergebnis ist wirklich bemerkenswert: während der Verbrennung wird demzufolge der Motor schwerer und wir haben damit mehr Druck auf den Rädern, was besonders gut bei Hinterradantrieb ist!“ Das war für den Choleriker Gramenos zu viel. Sein ganzer Kopf wurde plötzlich dunkelrot, seine Augen wollten rausspringen, der Mund schäumte, die Stimme kam aber nicht mit Schaum raus, sondern als Knall von Schwarzpulver: „Du … du … (denk an den furztrockenen Direktor, Gramenos. Gramenos konnte das aber leider nicht mehr tun, denken.) … du Urrrrrenkel von Dracula, hast du diesen bösen Geist mit der Milch von deiner großfüssigen Mama in Berlin gesaugt oder doch von dem Blut das du oben im Schloss zusammen mit deinem verflixten Urrrropa gesoffen hast?“ Siegfrieds Augen wurden zu energetisch schwarzen Löchern, sein Blick strahlte in einem schwarzen Bereich des Spektrums, der von niemandem, nicht mal von Siegfried selbst, geahnt wurde. Er richtete den Blick sehr kurz auf Gramenos, der infolgedessen, unerklärlicherweise, zunächst fast kollabiert wäre, als hätte jemand seine ganze Energie und den hohen Blutdruck augenblicklich abgesaugt. Das dauerte aber nur den Bruchteil einer Sekunde und blieb fast unbemerkt. In dem unmittelbar folgenden Sekundenbruchteil wurde Siegfried für seine Kommilitonen und für den Gramenos fast unsichtbar, als schwebte er auf einer anderen Frequenz, und der ganze Raum schien höchst magnetisch zu 8 sein, falls man das so hätte erklären können. Der Moment war aber so kurz, dass niemand mehr glaubte, es wahrgenommen zu haben. Siegfried war in diesem Moment, der für ihn eine Ewigkeit dauerte, im Schloss seines vermeintlichen Urrrropas Graf Dracula, dreißig Kilometer von Kronstadt entfernt … An den sehr hohen, schwarzen Wänden entlang des kathedralenartigen Thronsaals leuchteten alle zehn Meter lange Fackeln, zwischen denen sich jeweils fünf Meter lange Holzpfähle erstreckten, auf denen … uhhhh … Siegfried rannte den Saal entlang bis zum Thron, auf dem ein dunkelroter Stein in Form eines Herzens lag. Am Fuße des Throns strahlte ein helles Licht, in Form eines knienden Sultans mit gewaltigem Turban. Siegfried streckte die Hand nach dem Stein aus, das Licht war geschwinder, es kroch zwischen der Masse des Steins und der Energie der Hand … das gesamte Geschehen entflammte. Siegfried war Dracula selbst, er setzte sich auf den Thron und wuchs zusammen mit Thron, Kathedrale, Fackeln und Pfählen in eine unendliche Dimension. Von allen Pfahlspitzen verspotteten ihn die großen Augen von Gramenos, mehr als die Augen war nicht erkennbar. Besser so. Nach jenem ewigen Sekundenbruchteil folgte in der Klasse die lustigere, aber nicht weniger furchterregende Sequenz des Geschehens: Gramenos schien die ganzen magnetischen Wellen von der Klasse augenblicklich geschluckt zu haben, er stieg hastig von dem Holzpodest, auf dem der Lehrertisch neben der Tafel stand, rannte zwischen zwei Reihen von Bänken nach hinten, die Schüler links und rechts verschwanden wie Dominosteine unter den Tischen, Gramenos gelbes Hemd hing aus der grauen Hose über seinem gewaltigen Bauch, die grün-lila gestreifte, zu kurze Krawatte flatterte über die rechte Schulter der grauen, zu kurzen und zu engen Jacke. Von der hinteren Wand der Klasse nahm er nach einer Hundertachtzig-Grad-Pirouette einen gewaltigen Anlauf durch den schmalen Gang zwischen den Bankreihen, sprang dann auf das Podest, auf dem er noch zwei laute Schritte machte – der nächste Schritt war dann vertikal, auf der Tafel, dann noch ein Schritt, über die Tafel, zwei auf der weißen Decke, die ein Timberland Sohlenmuster bekam, dann Salto rückwärts und schließlich eine perfekte Punktlandung neben seinem Stuhl am Lehrertisch. Nochmal eine Hundertachtzig-GradPirouette, bumm, er saß. Es saß. Die Klasse applaudierte frenetisch, Siegfrieds Blick lenkte in einem pinken Bereich des Spektrums zum Fenster, in Richtung Schloss hin. Gramenos fuhr mit seiner Tirade fort, ohne gemerkt zu haben, dass etwas passiert sein soll … 9 „Zum Teufel mit dir, Johannes Honterus würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wissen würde, was für Lümmel, ein halbes Jahrtausend nach Gründung, sein geliebtes Gymnasium aufnehmen muss. Ihm zu Ehren werde ich dich rausschmeißen, auch wenn dein so-zusagen-Vater das ist, was er ist, dein Kopf gehört auf einen Pfahl auf dem Glockenturm der Schwarzen Kirche nebenan, du hässlicher Dracfried!“ Von dem Gymnasium flog Herr Gramenos selbst, im gegenseitigen Einvernehmen mit dem Schulamt – sein Blutdruck war immer wieder gefährlich hoch und seine Ausfälle immer wieder gemeingefährlich. Dracfried blieb aber für immer und für alle Dracfried – besonders beliebt in der rumänisch-englischen Fassung seines stolzen urdeutschen Namens: DracFried, der frittierte Teufel – Urrrenkel von Vlad Dracul, Graf von Transsilvanien. Zugegeben, die Ähnlichkeit beider Gesichter war erstaunlich, furchterregend und unerklärlich zugleich. Am Morgen nach der Einstein-Geschichte hing in seiner Klasse, an der Wand über dem Lehrertisch, anstatt des eingerahmten Portraits des Staatspräsidenten, ein eingerahmtes Portrait des Grafen Dracula und daneben ein stark vergrößertes Passfoto von Siegfried. 10 kapitel 1 Die schwarze Enduro Maschine schaffte es durch das Gestrüpp zu einem steil angelegten Garten, an dessen unterer Seite das Haus des Produktionschefs von Voltornia stand. Siegfried fuhr bis an den langen Holzzaun und öffnete von innen das Tor zur Straße. Auf der Außenseite, neben dem Tor, auf einer Holzbank saß, wie jeden Morgen, klein und ganz in schwarz vermummt, die neunzigjährige Mutter des Produktionschefs, die auf ihren geliebten Sohn wartete, der aber immer so spät am Abend kam. Ja, und? Von der Welt draußen war immer etwas Schönes zu erfahren, sie konnte ihrem lieben Sohn, der bald in Rente gehen sollte, in den schönen, kurzen Augenblicken des Abends, in denen sie ihn für sich haben konnte – nach Frau, Kindern, Enkeln und anderen zu lösenden Problemen – und immer eine aufbauende Gute-NachtGeschichte erzählen. „Guten Morgen, Oma Gertrud!“ Ihre gutmütigen Augen strahlten unter dem schwarzen Kopftuch, sie hatte so eine warme, wohltuende Stimme: „Moiin Siegfried, pass auf dich auf, dein schwarzes Eisenross ist so wild …“ „Ja, Oma Gertrud, heute nur Trab, kein Galopp …“ aber seine Augen funkelten, Omas auch, weil sie seine Augen sah, und er sah, dass sie sie sah … der Galopp bleibt heute unser Geheimnis, wie gestern und wie sonst, nicht wahr, Oma Getrud? Nur, dass heute mich der Teufel reitet, ich habe die zwei treibenden Räder nur als mögliche Erklärung unter den Beinen … Das sagte er Oma Gertrud lieber nicht. Siegfried fuhr zunächst sanft und geräuschlos davon, nur mit dem hinteren Elektromotor, die Gasturbine stand still, wie immer im Stadtgebiet. Der Saft für den Motor kam nur von der Speicherbatterie. Er überquerte zwei ruhige Gassen mit traditionellen Häusern von Siebenbürgen-Deutschen und gelangte zum Rathausplatz, von wo aus eine gerade Gasse voller kleiner Läden, Cafés und Kneipen direkt zur Talstation der Seilbahn führte. Der mutige Rossreiter nahm den steilen Streifen hinter der Talstation, auf dem die Bäume bis zur Bergstation abgesägt waren, um den Seilbahnmasten Platz zu machen, frontal auf. Die Turbine freute sich darüber mit einhundertzehntausend Umdrehungen pro Minute, die Batterie freute sich nicht, weil der ganze Saft 11 nicht zu ihr, sondern direkt zu den schwitzenden Elektromotoren hin musste. Der Teufel ritt ihn tatsächlich, das Ross komplizierte nur etwas die Lage, weil es Räder hatte, die gesteuert werden mussten. Siegfried hätte bis oben, unter der Leitung der Seilbahn, mit den Feldlinien die derzeit seinen Kopf umgaben, magnetisch schweben können. Die intelligenten Räder schafften aber Wunder: zwischen Baumstümpfen, Wurzeln und Löchern half nur seine besondere Lenkung – die Räder stellten sich manchmal zum Teil diagonal zur Motorradlängsachse, aber parallel zueinander, der Antrieb kam oft nur vom Hinterrad, manchmal aber gleichmäßig von beiden Rädern. Siegfried wusste nur eins – volle Power, koste es was es wolle, die Steuerelektronik rechnete die Kompromissszenarien vor Katastrophen aller Art im Millisekundentakt durch. Von dem Restaurant an der Bergstation führte ein schmaler aber gerader Weg durch den dichten Wald, weit, bis zur Sohle der Piste, wo er zum ersten Mal in seinem Leben, zwischen Waltraud und Albert auf den Skiern stand. Die Motoren atmeten im langsamen Trab, die Batterie bekam endlich von der Turbine eine ordentliche, langzeitige Ladung. Wieso? Siegfried versuchte die Szenen des Geschehens langsam, hintereinander zu verarbeiten, was ihm nicht gelang, aber er begann es immer wieder. Wieso? Er hatte zweimal zwei Schuljahre in einem absolvieren können, besser gesagt müssen, obgleich er das nicht wollte, er mochte seine Klassenkumpel, es war so schade sie zu verlieren. Einmal in der siebten, dann noch in der elften Klasse. Es war so schade, so viele schöne Geschichten über die ägyptischen Pharaos, über die Tafelberge in Venezuela und über die Impressionisten in Paris zu überspringen, nur weil Mathe und Physik für ihn kein Problem waren. Und dennoch: die Schulleitung brauchte einen besonderen Erfolg, das Lehramt eine besondere Schule und der Bildungsminister ein besonderes Lehramt. Mutter Waltraud hatte volles Verständnis für die Sicht von Siegfried, außerdem und überhaupt – den liebsten Sohn hätte sie so gern im Haus gehabt, so lange es ginge … Adoptivvater Albert, den eine feste Männerfreundschaft mit Siegfried verband, seit dieser von ihm durch den Tiergarten in Berlin, im Kinderwagen spazieren gefahren werden durfte, sah es doch etwas anders. Siegfried begann im Alter von zwei Jahren alle Schrauben die 12 er an irgendeinem Gegenstand im Haus sah, zu ziehen oder zu drehen und alle Schalter auf eine mögliche Demontage zu untersuchen, die manchmal, zum Entsetzen von Albert oder von Waltraud – Strom und Hunde tun aber kleinen Kindern niemals weh – auch geschah. Sein erstes Motorrad, auch wenn nur ohne Motor, ein Geschenk von Albert zu seinem dritten Geburtstag, nahm er nach der ersten Fahrt sorgsam aber völlig auseinander. Albert brachte ihm bei, wie man es wieder montiert. Erstmal bauten sie es gemeinsam, dann Siegfried unter Anleitung, dann Siegfried ohne Anleitung. Siegfried erstreckte dann die Demontage auf den Kinderfuhrpark des Kindergartens, zum Entsetzen der Kindergärtnerinnen. Unter deren Protesten fand auch die Wiedermontage ohne Anleitung statt, was das Entsetzen in Verwunderung verwandeln ließ. Ab der zweiten Klasse durfte er Albert bei der Jeep Instandsetzung helfen, ab der fünften Klasse bei der Motormontage. Albert brachte ihm Spielregeln wie im Flugzeugbau bei: alle demontierten Scheiben, Schrauben, Splinte und sonstige Teile säubern und jedes in einer eigenen Plastiktüte mit Beschriftung aufbewahren. Die Werkzeuge in weißen Schubfächern wie beim Zahnarzt ordnen; bei der Montage jeden fehlenden Schraubenzieher freiwillig melden – der könnte doch im Motor sein, wie damals die Zange im Darm des Patienten bei einem ziemlich bekannten Berliner Chirurgen. Die größte Freude war aber für Siegfried, von Albert in dessen Autofabrik mitgenommen zu werden. Die Roboter, die die Teile in alle Richtungen durch die Luft schweben ließen, um andere Roboter schweißen, bohren, nieten oder schrauben zu lassen, erledigten ihre Aufgaben zackig, schnell und präzise, weit und breit war kein Mensch zu sehen. Und dann waren es die Montagebänder, insbesondere die Hochzeit des starken und großen Antriebs mit der zarten und grazilen Karosserie war so harmonisch, aber leider so schnell. Faszinierend war aber für Siegfried das, was die jungen Kerle, die eigentlich wie DJs aussahen, an ihren Bildschirmen tanzen ließen, in allen Richtungen und in allen Farben. Eine Sache war dabei absolut toll: Ein Kolben bewegte sich in einem Zylinder, der DJ drehte das Bild räumlich in alle möglichen Positionen, alles war entweder transparent wie Glas, grün, grau, blau, oder aber wie aus silbernen Drähten gebaut. Siegfried schaute mit ganz großen Augen, wie blaue Luft in die Zylinder rein strömte und sich drehte, dann kam ein grüner Kraftstoffstrahl wie ein Kegel rein und irgendwann ein heller Blitz von der Zündkerze. Ab dort begann dann die schönste Aktion: das Feuer! 13 Für Siegfried war das viel mehr als jedes Silvesterfeuerwerk und jedes Osterlagerfeuer. Die Flamme expandierte in alle Richtungen und war ziemlich bunt, zumindest an ihren Oberflächen, die die DJs von allen Seiten zeigen konnten. Und Siegfried wartete jedes Mal gespannt auf die Preisfrage, die ihm einer von den Jungs stellte: „Siegfried, wo ist die Kirsche?“ Nun, dieses Feuer war wie eine Sahnetorte, die man von allen Seiten angucken konnte – aber was war eigentlich drin? Hatte sie auch Kirschen, mit oder ohne Kernen, und wenn ja, wo genau? Die Jungs konnten die Torte auf dem Bildschirm durchschneiden, längs wie quer. Und irgendwann sah man die Kirsche: das war eine Stelle an der die Flamme besonders heiß war; oder ein Sprittropfen der nicht ganz durchbrennen konnte und zur schwarzen Kirsche in der Torte wurde. Siegfried bekam eines Tages eine etwas vereinfachte Programmversion und spielte damit immer wieder seine Art von Lego. Dadurch waren so viele furchtbar trockene Gleichungen und Skizzen in Mathe und Physik auf einmal lebendig und farbenfroh. Wieso? Die Frage ließ ihn nicht los, seine Wut war ungebändigt. Er hatte doch das Abitur ohne Probleme bestanden, als jüngster Schüler aller dokumentierten Zeiten im Johannes-Honterus-Gymnasium. Die nächste Stufe sollte das Studium werden – Flammen, Strom, Räder – was sonst? Ab dem Punkt waren weder seine Eltern einig noch er selbst mit sich im Klaren. Papa Albert hätte ihn gerne an die Berliner Universität geschickt, an die er selbst als Professor Ehrenhalber für Elektromobilität seit vielen Jahren berufen war. Und dort war auch noch Professor Constantin Sturm, bekannter Spezialist für alternative Automobilantriebe und Vorstand eines bekannten Forschungszentrums für Kraftfahrzeugtechnik. Ein Mann, der den Albert Mann am Anfang zwar respektierte, aber sehr auf Distanz hielt. Mit der Zeit wurde aus dem gegenseitigen Respekt eine sehr solide Freundschaft. Albert wusste, dass der Siegfried, falls er nach Berlin gehen wollte, keine Almosen, sondern eben Sturm von allen Seiten bekommen würde, umso mehr, weil er der Sohn seines Freundes war. Aber das ging doch nicht mit Mama Waltraud zu machen! Ihren Sohn nach Berlin, zu seiner Wiege zurück zu schicken, das war im Grunde nicht abwegig. Aber ohne Mama? Niemals. Und nun? Albert liebte Waltraud immer noch wie ab dem zweiten gemeinsamen Spaziergang hinter dem Kinderwagen mit Siegfried durch den Tiergarten, Waltraud liebte Albert immer noch wie ab dem ersten 14 gemeinsamen Spaziergang hinter dem Kinderwagen mit Siegfried durch den Tiergarten, Siegfried liebte Mama Waltraud und Papa Albert wie bei allen gemeinsamen Spaziergängen durch den Tiergarten, aus dem Kinderwagen. Nun Kronstadt hatte aber doch die Transsilvanien-Universität, die sehr solide aufgestellt war. Albert hatte viele Absolventen von dort, mit denen er sehr zufrieden war, so auch seine Kollegen von anderen deutschen Satellit-Unternehmen in Kronstadt. Der einzige Unterschied zwischen Berlin und Kronstadt bestand in der Aufnahme der Studenten: in Berlin auf Basis von Abiturnoten, in Kronstadt mit Aufnahmeprüfung. Beide Bedingungen waren für Siegfried offensichtlich kein Problem: Super Abitur an einem anerkannten deutschen Gymnasium versus Prüfung in Mathe und Physik, wo sollte das Problem sein? Waltraud, Albert und Siegfried sprachen oft darüber, immer zu dritt. Dabei wurde ein Aspekt immer deutlicher, der am Anfang nicht als Argument betrachtet wurde: Siegfried fühlte seine Wurzeln hier, obwohl Mama Waltraud Berlinerin war und sein leiblicher Vater, die Kanaille Adolf Schlunze von irgendwo in Niedersachsen stammte. Und das mit Dracula? In Berlin hätte er die Chance gehabt, sein Stigma DracFried für alle Zeiten los zu werden. War es aber Stigma oder Karma? 15 rnative Anoskana und ür die interwei Dutzend n übersetzt über auto- Automacher AUTOMACHER nten stellen eneinander. stitute und Berlin über dney. Spann. Cornel Stan roMan Cornel Stan nschen mit altevermör auch mit äumen und en und entfür die Zutroantrieb, n und Wase oder gar m Flugzeug. Bereits erschienen: Automacher – Menschen mit Kreativität, Durchhaltevermögen, Disziplin, aber auch mit Leidenschaften, Träumen und Ängsten. Sie erfinden und entwickeln die Autos für die Zukunft, ob mit Elektroantrieb, mit Brennstoffzellen und Wasserstoff, ob Hybride oder gar Gasturbinen, wie im Flugzeug. Zwei Automobilgiganten stellen zwei äußerst risiko reiche Automobilkonzepte gegeneinander. Ihre Entstehungswege führen über Fabriken, Institute und Flughäfen, über Berge, Inseln und Meere – von Berlin über Paris und Detroit bis nach San Francisco und Sydney. Spannung, Dynamik, Intrigen und Liebe sind inbegriffen. For mat Druckerei & Verlagsgesellschaft mbH 03.07.2015 12:43:16 Softcover · 214 Seiten · 14,90 € · ISBN: 978-3-944829-40-1
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