Sicherheitsarchitektur „übermöbliert“

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Hintergrund
Mittwoch, 3. Februar 2016
Wie sicher ist
Afghanistan?
dpa Kabul. 250 000 neue Binnenflüchtlinge erwartet die UN für das Jahr
2016 in Afghanistan. Das geht aus dem
jüngsten Humanitären Reaktions-Plan
der Vereintzen Nationen hervor. 2015
waren 200 000 Menschen aus ihren
Dörfern geflohen.
� Um 20 Prozent ist die Zahl der in der
umkämpften Provinz Helmand tätigen
humanitären Helfer 2015 geschrumpft,
heißt es in dem Bericht.
� 23 Bezirkszentren eroberten die Taliban 2015. Ein Großteil konnte zurückerobert werden.
� 27 der 407 Bezirke stehen unter
direkter Kontrolle der Taliban oder ihrem Einfluss. 88 weitere Bezirke drohen
in ihre Hände zu fallen, schreibt der
Spezialinspekteur des amerikanischen
Senats für den Wiederaufbau in Afghanistan in einem neuen Bericht.
� 27 Prozent mehr tote und verletzte
afghanischen Polizisten und Soldaten
verzeichnet der am 15. Dezember veröffentlichte Bericht des US-Verteidigungsministeriums zur Sicherheit und
Stabilität in Afghanistan für 2015 verglichen mit 2014. Laut „Washington Post“
liegt die Gesamtzahl der 2015 (bis November) getöteten Soldaten und Polizisten bei mehr als 7000.
� 28 Angriffe und Anschläge verzeichnet derselbe Pentagon-Report allein in
Kabul zwischen Januar und Mitte November 2015 – ein Anstieg von fast 30
Prozent verglichen mit 2014. Ab Januar
setzte sich dies mit mindestens sechs
Anschlägen auf Regierung und Sicherheitskräfte, aber auch „weiche“ Ziele
wie ein Hotel und ein Restaurant fort.
� Eine der 101 Infanterie-Einheiten im
Land sei einsatzbereit, heißt es in einem
„Spiegel“-Report vom Januar.
� 6601 „sicherheitsrelevante Vorfälle“
verzeichnete der Dezember-Bericht des
UN-Sicherheitsrats allein bis 31. Oktober. Das sei ein Anstieg von 19 Prozent
verglichen mit 2014.
� 447 Ermordungen und Entführungen
von Zivilisten begangen von Extremisten verzeichnet derselbe UN-Bericht bis
31. Oktober 2015 – ein Anstieg von
12 Prozent verglichen mit 2014.
� 4921 tote und verletzte Zivilisten
zählten die Vereinten Nationen in ihrem Bericht zu Zivilopfern in Afghanistan allein in der ersten Hälfte von 2015
– ein neuer Rekord. Zwischen 1. August
und 31. Oktober verzeichneten die UN
laut UN-Sicherheitsratsbericht vom Dezember weitere 3693 zivile Tote und
Verletzte (26 Prozent mehr als 2014).
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Sicherheitsarchitektur „übermöbliert“
SIEGEN
FDP-Chef Christian Lindner sieht bei der inneren Sicherheit deutliches Verbesserungspotenzial
Die Struktur von
Zuständigkeiten und
Behörden könnte deutlich
gestrafft werden.
sob � Von ihrem Widerstand gegen
die Vorratsdatenspeicherung rückt die
FDP nicht ab. Im Gespräch mit der Siegener Zeitung lenkt FDP-Parteichef Christian Lindner das Augenmerk von rund 80
Millionen Daten-Bürgern im Land auf die
tatsächlich verdächtigen Gefährder – wie
auch immer sie als Sicherheitsrisiko identifiziert werden sollen. Konkreter Anhaltspunkte für einen Eingriff des Staates in die
Bürgerrechte bedarf es laut Lindner in jedem Fall. Liegt ein begründeter Verdacht
vor, ist für die FDP bei der Zusammenarbeit von Diensten mehr vorstellbar als bislang praktiziert. Auch im Hinblick auf die
so oft gescholtene NSA. Lindner: „Ich finde
den dumpfen Anti-Amerikanismus, den es
bei uns gibt, schrecklich.“
Gleichwohl: Ihr eigenes Recht schaffen
dürften sich die Nachrichtendienste bei
der Anti-Terrorbekämpfung nicht. So plädiert Lindner zwar für eine Zusammenarbeit deutscher und ausländischer Behörden, aber: „Es kann doch nicht sein, dass
über den Umweg amerikanischer oder
französischer oder britischer Geheimdienste der Bundesnachrichtendienst
Dinge macht, die er nach unserem Recht
nicht darf, nämlich eigene Bürger auszuspähen.“
Und wie steht es um die Polizei? Der
FDP-Chef lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass „die Aufstellung der Polizei
verbessert werden muss“. Insbesondere in
NRW werde sie „belästigt mit Blitz-Marathons, obwohl sie Besseres tun könnte“.
Nicht nur hinsichtlich des Aufgabenund Einsatzbereichs der Ordnungshüter
konstatiert Lindner Handlungsbedarf, um
die innere Sicherheit zu stärken. Auch die
Zusammenarbeit zwischen dem Bundeskriminalamt, den Landeskriminalämtern
und den Verfassungsschutzorganisationen
der Länder sei verbesserungswürdig und
-fähig: „Die Sicherheitsarchitektur, die wir
haben, ist völlig übermöbliert“, verweist
der FPD-Chef auf die Landesämter für
Verfassungsschutz, die Landeskriminalämter, das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für den Verfassungsschutz, den
Militärischen Abschirmdienst und das
Zoll-Kriminalamt. Zu viel, zu kompliziert,
findet der Liberale. Sinnvoll und erforderlich ist in den Augen Lindners eine Straffung der zahlreichen Sicherheitsbehörden:
„Ich glaube, dass wir genug demokratische
Reife bewiesen haben, dass wir hier mehr
zusammenarbeiten können.“
Themenwechsel – Energiepolitik: Das
energiepolitische Rad zurückdrehen will
Christian Lindner nicht. Obwohl in seinen
Augen bei der Energiewende und insbesondere bei der Windkraft längst nicht al-
Innere Sicherheit und Energiepolitik standen im Mittelpunkt des Gesprächs von FDP-Chef Christian Linder (l.) mit SZ-Chefredakteur
Dieter Sobotka.
Foto: kalle
les rund läuft. „Aus heutiger Sicht zeigt
sich, dass der Verzicht auf die Kernenergie
für unsere Volkswirtschaft eine große Belastung ist“, redet der FDP-Chef im Gespräch mit der Siegener Zeitung Klartext.
„Wenn man sieht, was daraus gefolgt ist,
würde man die Energiewende komplett
anders anlegen.“ Ebenso klar: Lindner will
die FDP nicht zurück zur Kernkraft führen, der Energiewende nicht eine Rolle
rückwärts folgen lassen.
Energiesicherheit für Bürger und Unternehmen sind für Lindner nicht nur eine
Frage von technischen Voraussetzungen
wie Speicherkapazitäten oder Stromtrassen. Der FDP-Vorsitzende knüpft Erfolg oder Misserfolg an weitere zentrale
Bedingungen. So dürfe man nicht „die
nächste aus der Hüfte geschossene Entscheidung treffen, nämlich nach dem Verzicht auf die Kernenergie jetzt auch noch
den Verzicht auf die Kohle erklären“.
Denn: „Wir werden auf unabsehbare Zeit
Ressourcen aus der Kohle brauchen.“ Zudem gelte es, die deutschen KlimaschutzZiele an die europäischen Zielvorgaben
anzupassen. Deutschland dürfe beim Klimaschutz „nicht zum zweiten Alleingang
starten“.
Ohnehin, so beklagt der FDP-Chef, „ist
unsere Energiepolitik völlig außer Kontrolle geraten und folgt nur noch ideologischen Festlegungen und nicht mehr dem
gesunden Menschenverstand“. Beispiel-
Zur Person:
Christian Lindner (37) ist in vielen Debatten, Talkrunden und Pressegesprächen Gesicht und Stimme der
FDP. Der Parteichef muss nicht immer
glatt rasiert sein. Aber muss sich auskennen, in vielen Fragen, nicht nur in
der Politik. Wie informiert und präpariert man sich da? Lindner verweist auf
die Experten in seiner Partei und in der
Landtagsfraktion, die ihm zur Seite stehen. Und er sei ja auch zwangsläufig
viel unterwegs, das lasse ihm Zeit zu lesen. Nicht nur Akten, sondern natürlich
auch Zeitungen. Die Frankfurter Allge-
meine Zeitung ist morgendliche Pflichtlektüre, aber auch die Süddeutsche, der
Kölner Stadtanzeiger, die Rheinische
Post. Hinzu gesellen sich die Welt, das
Handelsblatt und die Bild-Zeitung. Zur
tagesaktuellen Lektüre hinzu kommen
die Wirtschaftswoche, der Spiegel und
die Zeit. Und über den Ausschnittdienst
des NRW-Landtags auch der eine oder
andere Beitrag aus der Siegener Zeitung. „Lesen ist für mich keine Last“,
versichert Lindner glaubhaft. „Ich bin
voller Leidenschaft, am politischen Geschehen teilzuhaben.“
haft dafür seien die jetzt bekannt gewordenen Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums, Anlagen an besonders windarmen
Standorten besonders hoch zu subventionieren, „damit man bloß die ideologischen
Ausbauziele erreicht“. Lindners Fazit: „So
kann man die Energieversorgung einer Industrienation nicht aufrechterhalten.“
Sein Plädoyer: EEG-Subventionen stoppen, Tempo rausnehmen, Einspeisevorrang für die Erneuerbaren streichen und
nur für den Strom zahlen, der auch gebraucht wird.
Lindner bekräftigte im Pressegespräch
die bereits seit längerem von der FDP erhobene Forderung nach einem Einwanderungsgesetz, auch angesichts des Bedarfs
an Fachkräften in den nächsten Jahren
und Jahrzehnten: „Wir brauchen dauerhaft eine bestimmte Quote von Zuwanderung, die aber nicht Asyl sein kann“, sagt
er, weil für einen dauerhaften Verbleib in
Deutschland die Qualifikation entscheidend sei: „Bei Flüchtlingen sagen wir, du
bist bedürftig, wir nehmen dich auf. Bei
Zuwanderern in den Arbeitsmarkt sagen
wir: Du bist qualifiziert, wir wollen dich.
Das ist etwas völlig anderes.“
Vom Verfahren her plädiert die FPD –
ähnlich wie in Kanada praktiziert – für ein
Punktsystem: „Es gibt Punkte für Sprachkenntnisse, Alter, Ausbildung und anderes
mehr. Wir sagen dann etwa, in einem Jahr
lassen wir 100 000 qualifizierte Einwanderer in unser Land, und dann nimmt man
die mit den höchsten Punktzahlen.“
Der Mann mit den Klarsichthüllen wird 90
Hans-Jochen Vogels SPD-Karriere war von mancherlei Niederlage geprägt / Partei- und Fraktionschef zugleich
afp Berlin. In seiner aktiven Zeit galt
Hans-Jochen Vogel als der Mann mit den
„Klarsichthüllen“, der pedantisch und autoritär sein konnte. Er hatte die verschiedensten Spitzenfunktionen in der SPD
inne, musste aber auch mancherlei Niederlage einstecken.
Und doch gehörte Vogel zu den wenigen
in der SPD, die das Amt des Partei- und
Fraktionschefs zugleich innehatten. Er
war Bürgermeister in München und Berlin, und einmal versuchte er sich auch als
Kanzlerkandidat seiner Partei. Heute wird
Hans-Jochen Vogel 90 Jahre alt.
Es war Vogels Bonner Zeit, welche die
durchsichtigen Plastikhüllen zu seinem
Markenzeichen machte und ihm den Beinamen „Oberlehrer“ einbrachte. Nach dem
Rücktritt von Kanzler Helmut Schmidt
1982 hatte Vogel die undankbare Aufgabe,
bei der Bundestagswahl im darauffolgenden Jahr als SPD-Kandidat gegen den
neuen Regierungschef Helmut Kohl (CDU)
anzutreten. Die Wahl vom März 1983 war
für die SPD nicht zu gewinnen, so sackten
die Sozialdemokraten auf die für sie damals schlechten 38,2 Prozent ab.
Doch dem Mitbegründer des konservativen Seeheimer Kreises wurde die Pleite
nicht angelastet, so konnte er danach seine
Position in der Partei ausbauen. Direkt
nach der Wahl übernahm er den Fraktionsvorsitz von Herbert Wehner, 1987 dann
zusätzlich den Parteivorsitz von Willy
Brandt. Diese Machtfülle hatten die
Sozialdemokraten zuvor nur in den 50er-
genden Jahr beide Posten ab,
um sich aus der aktiven Politik
zurückzuziehen.
Damit ging eine wechselhafte politische Karriere zu
Ende, in der sich Vogel auch
nicht vor schwierigen Jobs
drückte: Während sein jüngerer Bruder Bernhard zur CDU
ging und später Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und
Thüringen wurde, wurde der
am 3. Februar 1926 in Göttingen geborene Hans-Jochen
Vogel schon mit 34 Jahren
Münchener Oberbürgermeister. Er holte die Olympischen
Spiele in die bayerische Landeshauptstadt, kurz vor der
Eröffnung der Spiele gab er
1972 sein Amt ab.
Noch im selben Jahr machte
ihn der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zum
Bauminister, unter Schmidt
übernahm er 1974 das Justizressort. Im selben Jahr kassierte Vogel als Spitzenkandidat der bayerischen LandtagsHans-Jochen Vogel (SPD) nahm am 27. Januar an einer wahl eine schlimme Pleite.
Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Mün- Auch in Berlin hatte er wenig
chen teil.
Foto: dpa Glück: Er wurde Anfang 1981
als Folge einer Senatskrise ReJahren Erich Ollenhauer überlassen. Nach gierender Bürgermeister im Westteil der
der ersten gesamtdeutschen Bundestags- Stadt und verschaffte sich zwar Anerkenwahl Ende 1990 gab Vogel im darauffol- nung dadurch, dass er bei den Ausein-
andersetzungen mit den damaligen Hausbesetzern die „Berliner Linie“ durchsetzte:
Die Besetzer konnten Miet- und Nutzungsverträge abschließen, wenn sie auf
weitere Besetzungen verzichteten.
Bei der Neuwahl wenige Monate später
unterlag Vogel dann aber dem späteren
Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker von der CDU. Trotz der Niederlage
blieb Vogel der Berliner Landespolitik treu
und wurde für knapp zwei Jahre Oppositionsführer im Abgeordnetenhaus, ehe er
als Kanzlerkandidat aufs Bonner Parkett
zurückkehrte.
Nach dem Ausscheiden aus der aktiven
Politik hat sich Hans-Jochen Vogel immer
wieder öffentlich zu Wort gemeldet und
dabei auch Sorge über den Zustand seiner
Partei geäußert. Heute zeigt sich der Pensionär, der sich Ende 2014 zu seiner Parkinson-Erkrankung bekannt hat, zufrieden über die große Koalition: „Ich kann
nur sagen, in der Opposition hätten wir
nur einen Bruchteil der sozialdemokratischen Ziele verwirklicht, wie es dann in
dieser Koalition möglich war“, konstatiert
er in einem Interview.
Trotz der Flüchtlingskrise und vieler
anderer Probleme wendet sich Hans-Jochen Vogel dagegen, die Situation in
Deutschland schlecht zu reden. „Wenn wir
uns weltweit vergleichen, müssen wir doch
feststellen, dass es uns unglaublich gut
geht“, betont er – und fügt hinzu „Ich greife
mir da manchmal ein bisschen an die
Stirn.“
Jürgen Petzold