Entspannung und ein Nickerchen während des kurzen Zwischenhalts: Die beiden Ardenner Siena und Bonito dösen in der Wintersonne und erholen sich von der Anstrengung. Acht Zentner geballte Kraft Auf Hufen und Kufen Wenn Werner «Wohli» Wohlwend seine imposanten Kaltblüter vor den Schlitten spannt, werden Menschen fröhlich, entspannt und glücklich. Ein Wintermärchen im Engadin. 62 Text Corinne Schlatter Fotos Romeo Polcan 63 Die Stuten Ramona und Florina traben munter durch die Winterlandschaft, bescheren den Passagieren herrliche Momente des Glücks. 64 Foto Pierluigi Macor «Schlittenfahren ist nicht nur Genuss – nein, das ist Gottesdienst» 65 «Ich habe den schönsten Beruf, den es gibt. Ich mache Menschen glücklich» Wohli nimmt sich Zeit für seine Pferde. Bevor er Moritz einspannt, kämmt der Bündner die Mähne und striegelt das Fell des mächtigen Noriker Wallachs. 66 67 «Ich habe die Pferde einfach gern» Die Arbeit ruft: Wohli holt die Stuten Jessica (Shire Horse/Belgier; links) und Elfi (Süddeutsches Kaltblut) von der Weide, um sie einzuspannen. E ine Ausfahrt im Pferde schlitten durch eine stille Winterlandschaft ist Freude, Romantik und Besinnlichkeit in einem: «Schlittenfahren ist nicht nur Genuss – nein, das ist Gottes dienst», schrieb zum Beispiel im 17. Jahrhundert der schwedische Graf Carl Gustav Wrangel in seinem hippologischen Standardwerk «Das Buch vom Pferde». Wer jemals, in Pelz gehüllt und von einer warmen Lammfelldecke zugedeckt, in einem Pferdeschlitten durch die kalte Winterluft geglitten ist, der ahnt, wie der berühmte Hippologe diese Aussage meinte: Rhythmisch klingen die kleinen Schellen am Geschirr der munter trabenden Pferde, singend knirschen die Kufen auf dem körnig gefrorenen Schnee. Ab und zu schnaubt eines der Tiere, sonst ist es ganz still. Kein Mucks ist zu vernehmen, und der Blick verliert sich im weiten Weiss der friedvoll vorüberziehenden Landschaft. Andächtig, ja erhaben und feierlich wird es einem bei einer Schlittenfahrt durch das verschneite 68 Land zumute. Aber auch die freudige Stimmung der vorwärtsdrängenden Pferde überträgt sich auf den Fuhr mann und die P assagiere. Sie werden fröhlich und innerlich ruhig, sind alsbald ganz bei sich. Kein Wunder, liessen sich im Laufe der Jahr hunderte unzählige Komponisten (von Mozart bis Schubert) oder Dichter (von Goethe bis Tolstoi) inspirieren und wurde das Winter vergnügen sowohl musikalisch als auch literarisch immer wieder neu interpretiert. Natürlich fehlen Pferdeschlitten auch in Winter märchen wie zum Beispiel «Die Schneekönigin» oder «Drei Nüsse für Aschenbrödel» nie. Häufig gleiten sie geheimnisvoll durchs Schneegestöber, geben der Szenerie einen mystischen Touch. Ehre und Verpflichtung Schlitten spielen auch bei Werner Wohlwend während der Winter monate eine wichtige Rolle. Denn Wohli, wie der 49-Jährige von allen genannt wird, unterhält in Pontresina GR eine Fuhrhalterei. Seit einem Jahr betreibt er dort Die Schellen bimmeln im rhythmischen Takt des Trabs. In der verschneiten Landschaft wird es einem feierlich zumute. den offiziellen Pferde-Omnibus, jenen gedeckten Pneuwagen samt Anhänger mit insgesamt mehr als dreissig Sitzplätzen, der sowohl im Sommer als auch im Winter – von imposanten Pferden gezogen – fahrplanmässig und mehrmals pro Tag ins Rosegtal und zurück nach Pontresina verkehrt. Die begehrte Konzession dafür hat der Bündner von der Gemeinde erhalten: «Eine Ehre und Verpflichtung zugleich, wie er unterstreicht. Und manchmal auch ziemlich stressig. In der Hoch saison sind mehrere Omnibusse gleichzeitig unterwegs, die Einsatz Der Kanadische Schäfer Juma rennt während den Ausfahrten stets mit. Dazwischen ruht er sich gern im Schlitten unter den warmen Fellen aus. pläne der Pferde und angestellten Fuhrleute, die Buchung der Fahr gäste, das Ein- und Ausspannen und die Pflege der Tiere, der Unterhalt der Fahrstrecke, die Organisation von Heu, Hafer und anderem Kraft futter für die Mittagspause, von Dutzenden von Decken für die Gäste und die Pferde bedeuten zu Stoss zeiten einen logistischen Parforce akt. Denn zusätzlich zum Omnibus können bei Wohli und s einem Team auch private Tages- und Nacht fahrten mit Kutschen oder im Winter mit Schlitten gebucht werden. Trotz Hektik und 16-Stunden-Tagen ist 69 der gelernte Elektriker aber über zeugt, den schönsten Beruf zu haben, den es gibt. «Ich kann mit Pferden arbeiten. Und ich mache Menschen glücklich. Was will man mehr?» Ein schelmisches Lächeln huscht über das wettergegerbte Gesicht des knorrigen Berglers. Locker hält er die Fahrzügel in der Hand, spornt die drei Pferde, die an diesem kalten Wintermorgen vor den Omnibus gespannt sind, zum flotten Trab an. Ramona, Florina und die alte Ulli lassen sich nicht zwei mal bitten. Kraftvoll ziehen sie an, unter ihren Hufen stiebt der Schnee. Spürbar freudig preschen sie den kleinen Schneeweg hinauf, was die Gäste hinten auf dem Wagen mit ausgelassenen Juchzern quittieren. Imposante Hünen – 800 Kilo an geballter Kraft Nach getaner Arbeit verbringen die Pferde ihre Ruhezeit und die Nacht im Herdenverband im Freien. Auch im Winter. alten Pferdeschlag beleben Wohli und seine Pferde sind weit herum, bis über das Engadin hinaus, bekannt. Das Original mit wildem Bart und unverkennbarem Hut hat es als Kutscher sogar ins Fern sehen gebracht. In Martin Suters vor Kurzem verfilmten «Teufel von Mailand» führte er die Gäste mit seinen Pferden zum Hotel. Nicht nur der Fuhrmann, der stets von seinem Kanadischen Schäfer Juma begleitet wird, auch die Pferde fallen auf: Alle sind imposante Hünen, 700 bis 800 Kilo an geballter Kraft. Grosse, starke Kaltblutrassen haben es Wohlwend beson ders angetan – Noriker, Comtois, Ardenner sowie bayrische oder holländische Vertreter des schweren Arbeitspferdetyps. 21 Tiere stehen täglich im Fahreinsatz, ein weiteres Dutzend verdient den Hafer in der Reitschule, die von Wohlis Frau Gina geführt wird. In den Übergangs saisons werden einige der Pferde zusammen mit ihrem Meister ausser dem von Waldbesitzern zum Holz rücken engagiert: eine alte Hand werkstradition, die aber zusehends verschwindet. Wohli ist stolz auf seine Pferde, vor allem auf diejenigen aus eigener Zucht. Seinen Comtois-Hengst Speedy bringt er mit Noriker oder Ardenner Stuten zusammen und versucht so, den alten Schweizer Pferdeschlag der Burgdorfer wieder 70 zu beleben. Das Burgdorfer Pferd war neben dem Freiberger das einzige Kaltblut, das in der Schweiz herausgezüchtet worden ist. Es war ein mittel- bis schweres Zug- und Arbeitspferd, das in den Sechziger jahren jedoch ausgestorben ist. Durch die Bemühungen des Burg dorfer Pferdezuchtvereins sowie der Familie Wohlwend entsteht dieser Pferdeschlag nun verschiedenenorts wieder neu: durch Kreuzung von Ardenner und Freiberger Pferden, der leichteren Kaltblutrasse aus der Schweiz. Wohli setzt neben den Ardennern auch Noriker Stuten ein Netzwerk www.engadin-reiten.ch j www.burgdorferpferd.ch x www.pontresina.ch und kreuzt sie mit seinem ComtoisHengst. «Der französische Comtois kommt dem Ursprungstyp des Freibergers näher als die heutigen Freiberger, die stark veredelt worden sind», erklärt er seine Strategie. Die fünfeinhalbjährige NorikerComtois-Stute Florina und deren um ein Jahr ältere Vollschwester Ramona sind Wohlis besonderer Stolz. «Zwei fast gleiche Pferde am Wagen zu haben, davon träumt jeder Fuhrmann», verweist er auf das ähnliche Exterieur der beiden Blauschimmel, die durch lebhaftes Temperament, Arbeitswillen, Kraft, Belastbarkeit, Wendigkeit, Robustheit und Freundlichkeit überzeugen. Sie sollen dereinst mit Speedy gekreuzt werden und die wohlwendsche Linie des Burgdorfer Schlags weiterführen. Neben Ramona und Florina haben auch Wohlis andere Pferde Tempe T www.npz.ch V www.avenches.ch g roseg-gletscher.ch E www.kutschen.com 71 Fachwissen und Charakter sind zentral Osteuropa. Daraus ergeben sich manchmal lustige Momente: Letzte Saison etwa verstand ein rumänischer Fuhrmann kein Wort Deutsch, lernte aber die Kommandi in Schwiizertüütsch auswendig und gab sie an die Pferde weiter: «Uuf passe», «zäme», «hü», «Scheritt», klang es astrein durch den Winter wald. «Meine Leute müssen ein heitlich kommunizieren, denn sie fahren immer wieder andere Tiere. Sonst schleichen sich Mödeli ein», sagt der Engadiner, dessen Frau und drei Töchter ebenfalls fahren können und gern im Betrieb aushelfen. Der Sohn derweil hilft lieber mit den Maschinen auf dem Hof mit. rament – und ein ausgeglichenes, zugängliches Wesen. Das liegt nicht nur an ihren Rassen, sondern ebenso an der Haltung: Sind die Pferde nicht im Arbeitseinsatz, sind sie sommers wie winters im Freien anzutreffen. Auf der Pontresiner Gemeindeweide mit Unterständen leben sie im Herdenverband. Dabei müssen sie mitunter das eine oder andere Hickhack ausfechten, bis sie ihren Platz in der Gruppe mit fester Rangordnung gefunden haben. Gleichzeitig können sie herum laufen, fressen, schlafen, sich erholen, mit Artgenossen spielen, soziale Kontakte pflegen oder sich zurück ziehen und einfach nur Pferd sein. Zuckerbrot und Peitsche Korrekter Umgang zentral Wenn die Zugpferde am Arbeiten sind, haben sie es derweil streng – vor dem Omnibus mit Anhänger, der voll besetzt gut und gern drei Tonnen wiegt, oder am eleganten Schlitten. Umso wichtiger sei ein professioneller Umgang, sagt Wohli, in dessen Betrieb je nach Saison fünf bis acht Angestellte arbeiten. Es sei je länger, je schwieriger, gut ausgebildete Fuhrleute zu finden, sagt der Patron, der nur Mitarbeitende engagiert, die die Pferde fair, korrekt und nie grob behandeln. Seine Leute schickt er in der Zwischensaison ins Nationale Pferdezentrum in Bern, damit sie den Fahrbrevet-Kurs absolvieren. Vor allem in der Hoch saison müssen die Fahrer an ihre Grenzen gehen. «Wenn die Nerven blank liegen, zählen Fachwissen und Charakterstärke doppelt.» Mangels einheimischen Fach personals heuern die Wohlwends auch professionelle Fuhrleute aus dem Ausland an: aus Deutschland, Österreich, dem Elsass oder aus Ein munteres Trio: Bonito, Jana und Xenia (von links) vor dem Omnibus, hier gefahren vom Fuhrmann Christoph Schmidt. Florina und Ramona schnauben, die schwarzen Mähnen flattern im Wind, lustig spielen ihre Ohren und horchen Wohlis Stimme. Dieser nimmt die Zügel sanft auf, hält die Stuten auf dem Heimweg von einer ausgedehnten Schlittenpartie an zu verlangsamen. Gehorsam fallen sie vom Trab in den Schritt, wirken zwar müde, aber gleichzeitig entspannt. Dies hat sich längst auch auf die Gäste im Schlitten übertragen: Die Kinder sind im Takt des beruhigenden «Trin-trin-trin» der Glöckchen eingeschlafen, die Eltern strahlen Zufriedenheit aus. Zurück in Pontresina, schirrt Wohli die zwei Pferdedamen behutsam aus, nimmt die schmucken Geschirre und Kummete von den athletischen Körpern und die selber entwickelten Fahrhalfter von den Köpfen. Dann bürstet er das verschwitzte Fell, tätschelt die Stuten, lobt sie, entlässt sie mit einem Klaps auf die Weide, wo sie zum Futterplatz trotten und genüsslich fressen. «Nein», sagt er, «ich bin kein Pferdeflüsterer.» Er habe seine Tiere einfach nur gern und liebe es, mit ihnen zu arbeiten. «Was nicht heisst, dass ich ihnen alles durchgehen lasse», fügt Wohli an. Denn Pferde testeten wie Kinder Grenzen aus. Worin besteht also die Kunst des Fahrens? «Mit Zuckerbrot und Peitsche richtig umzugehen und gut zu kommunizieren», meint der Bergler. «So wie im Leben.» C
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