Dirk Westerkamp IKONISCHE PRÄGNANZ Dirk Westerkamp IKONISCHE PRÄGNANZ Wilhelm Fink Umschlagabbildung: Gerd Winner, Christuskopf (Detail), 2002, Chromnickelstahl, 4 x 4 x 0,06 m, Altenpflegeheim Bethanien, Marienstift, Braunschweig. © Gerd Winner Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio¬grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Text-abschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Knut Amtenbrink Satz: Michael Sellhoff, http://michael-sellhoff.de Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5937-4 Meinen Kindern Elsa, Emilia und David INH ALT Was ist ikonische Prägnanz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I Der prägnanteste Augenblick Ikonische Zeit und ästhetischer Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Der überzeugende Eros Platons Peithō und die Ikonographie sokratischer Gesten . . . . . . . . . . . . . 65 Der dramatische Moment Vier Zeitformen ikonischer Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 II Das tragische Bild Patristische Anfänge und ikonische Prägnanz des Schmerzenskindes . . . . . . 103 Der lachende Christus Versuch über ein Bild, das es nicht gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Der verklärte Körper Kleine Ästhetik der Mandorla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Siglen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Text- und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 WAS IST I KONI SCHE PRÄGNAN Z? 1. Symbolische Prägnanz Nur was uns anblickt, sehen wir auch.1 Walter Benjamin sprach als Phänomenologe des frühen Films, als er diese Einsicht formulierte. Aufmerksam macht seine Beobachtung aber nicht nur auf die eigentümliche Optik des Kinos, sondern auch auf die Selbstverständlichkeit alltäglicher Wahrnehmungserlebnisse. Ihnen haftet etwas doppelt Rätselhaftes an. Zum einen gibt sich unserer Wahrnehmung stets ein identisches Objekt mit bestimmtem »Erscheinungsrelief«. Was wir hören, sehen oder fühlen, zerfällt nicht in Wellenlinien, Farbkorpuskeln oder Gestaltsegmente.2 Zum anderen sind Wahrnehmungserlebnisse stets symbolisch prägnant. Ob das Zeichen ∼ eine Welle, einen logischen Negationsoperator oder eine mathematische Zuordnung symbolisieren soll, geht unmittelbar aus dem Kontext hervor, in dem es erfasst wird. Deshalb wissen wir in der Regel immer schon, ob eine bestimmte Linie eine Sinuskurvenfunktion, eine ornamentale Zierform oder eine Hogarthsche Schönheitslinie zeigt (Abb. 1). Ernst Cassirer, von dem dieses Beispiel stammt, hat den Begriff symbolische Prägnanz für jenen grundlegenden Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit geprägt, der konkreten Wahrnehmungserlebnissen unmittelbar Bedeutung verleiht. Zumeist sind sinnliche Erlebnisse für uns auch sinnvoll. Sie »sagen« uns etwas, ohne dass Sinnerzeugung durch einen nachträglichen, in Cassirers Worten: »aufgepfropften« Bewusstseinsakt erst hergestellt werden müsste. Schon die Wahrnehmung eines Sitzungssaals lässt bei seinem Betreten auf intuitive Weise ein Formganzes erkennen, in das unser Wissen von der jeweiligen Institution oder eigenen Erlebnissen in Sitzungssälen eingeht.3 Kaum je werden wir gewahr, dass wir mit der Fülle unserer erlernten und »gehabten« symbolischen Formen so virtuos umgehen und Welt ordnen, dass es uns schwer fällt, Wahrnehmungserlebnisse nicht sinnvoll zu interpretieren: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. [. . . ] In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie [die Wahrnehmung] zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren.«4 Alles Sinnerfassen erhält durch »immanente Gliederung« der Wahrnehmung einen zweifach bestimmten »Richtungscharakter«5 : subjektivisch durch die Zeitform des Bewusstseins, objektivisch durch die Symbolsysteme, in denen sich uns das Erlebte darbietet. Denn erst symbolische Ordnungen gestatten, das Gegebene als Etwas, eben als Ausdruck und Bedeutung eines Bestimmten zu erfassen. Die verschiedenen symbolischen Formen bestimmen Gliederung und Sinnprägnanz selbst einfachster Wahrnehmungserlebnisse. Hier kommt Cassirer auf das eingangs zitierte Beispiel der Linienzüge zu sprechen. Denn als Wahrnehmungserlebnis ist 10 IKO N I S CH E PR ÄGNA N Z Abb. 1 The Line of Grace/Variety Frontispiz, (Detail), 1753 Aus: William Hogarth The Analysis of Beauty. die Linie zunächst in der Tat ein bloßes Datum: sichtbar und konkret. Was Cassirer dann beschreibt, ist die – der Form sprachlicher Darstellung geschuldete – Zerdehnung eines selbst instantanen Wahrnehmungserlebnisses. Während man nämlich das Auf und Ab einer solchen Kontur verfolgt, »beginnt plötzlich der Linienzug sich gleichsam als Ganzes von innen her zu beleben. Das räumliche Gebilde wird zum ästhetischen Gebilde«6 . Der damit verknüpfte Sinn bleibt gleichwohl perspektivisch. Denn während der eine den Stil einer bestimmten Epoche erkennt, fasst ein anderer den Linienzug als Repräsentanten eines Funktionsverlaufs auf, während ein dritter »das Gesetz für eine periodische Schwingung erkennt«7 . Dass dem sinnlichen Grunderlebnis drei verschiedene symbolische Ordnungen zugeordnet werden können, zeigt nur, dass keine Perspektive an sich selbst schon die richtige oder zu privilegierende ist. Umgekehrt aber ist auch der Bedeutungszusammenhang immer schon da. Nur selten kommt es zu sinnsuchenden Bewegungen. Vielleicht gehört zu den Charakteristika moderner Kunst, dass sie eine Symbolprägnanz zu suspendieren trachtet, von der sie zugleich abhängt. Symbolischen Formen kommt eine doppelte, gegenwendige Funktion zu. Sie stiften die Sinnkontexte unserer Wahrheitserlebnisse und doch auch eine Distanz zu ihnen – was sich vor allem an der symbolischen Form der Sprache zeigt. Als »Synthesis des Verschiedenen«8 ereignet sich in der Sprache jene prägnante Einfaltung von Andersheit, die desto mehr Bedeutung umfasst, je verschiedener das Synthetisierte ist. Für die symbolische Form der Sprache kann Cassirer zeigen, dass die Copula prädikativer Sätze, also das Wörtchen »ist«, selbst noch einmal so etwas wie die höchste Synthesis jener »Synthesis des Verschiedenen« darstellt, als welche er die Sprache bestimmt. Kein prädikativer Satz kommt ohne sie aus, sie »ist« dessen notwendige Bedingung – auch dieses Satzes selbst: »Dieses ›Ist‹ der Kopula ist die reinste und prägnanteste Ausprägung für diese [. . . ] Dimension der Sprache, die man [. . . ] als ihre Darstellungsfunktion bezeichnen kann.«9 Anders gesagt: Die repräsentative Kraft normaler Sprachen wurzelt in der symbolischen Prägnanz ihrer innersten darstellenden Funktion, in der Copula. Man könnte Cassirers symbolphilosophische Einsichten zu der Pointe verdichten, dass sich dem animal symbolicum Sinnerlebnisse wie der Linienzug nicht in der Logik eines Entweder-Oder erschließen. Vielmehr lassen sie sich sowohl als WAS I ST IKO N I S CH E PR ÄG NA N Z ? 11 ästhetisches als auch mathematisches als auch physikalisches Phänomen interpretieren. Insofern die symbolische Prägnanz der Sprache dem funktionalen Unterschied von Symbolsystemen entspringt, die ihrerseits sowohl mimetische als auch deiktische als auch ikonische Elemente aufweisen, fragt man sich, warum in Cassirers Werk nicht auch der nahe liegende Begriff der ikonischen Prägnanz auftritt.10 Auch in Bildern ereignet sich eine vergleichbare, wenngleich subsprachliche Synthesis von Verschiedenem. So dienen die folgenden Überlegungen der Präzisierung eines möglichen Konzepts ikonischer Prägnanz, das bildanthropologische und bildphänomenologische Perspektiven berücksichtigt. 2. Artifizielle Präsenz Cassirers Einsicht in die Formgebungsprozesse von Wahrnehmungserlebnissen ließe sich auch in phänomenologische Begriffe fassen. Denn ihrer hatte sich seine gestaltphilosophische Terminologie bedient, um den Phänomenen ihren kulturphilosophischen Gehalt abzulesen. Cassirer konnte Edmund Husserls frühe Vorlesungen über Phantasie und Bildbewusstsein von 1904/5 nicht kennen, deren instruktive Unterscheidungen Lambert Wiesing ausgearbeitet und auf den Begriff der artifiziellen Präsenz gebracht hat. Dabei versteht sich die an Husserl anknüpfende Bildphänomenologie als Alternative zu bildsemiotischen, bildanthropologischen oder kulturphilosophischen Positionen. Umstritten ist deshalb, ob sich ihre konkurrierenden Theoriemodelle zu einer philosophischen Ikonologie verbinden lassen.11 Wahrnehmungsphilosophisch geht wohl jede philosophische Ikonologie davon aus, dass uns Phänomene nie anders denn gebrochen »durch das Medium eines Erscheinungsreliefs«12 begegnen. Ein solches Relief zeigt das Wahrgenommene, weil es sich stets in »Abschattungen« und Erscheinungsabwandlungen gibt.13 Diese werden durch die Orientierungswechsel unserer Wahrnehmungsaktivitäten hervorgerufen. Deshalb muss von dem Ensemble der Abschattungen jener identische Gegenstand unterschieden werden, der sich dort in Abschattungen präsentiert. Nicht abgeschattet ist dagegen stets das Erlebnis unserer Wahrnehmung als das Erlebnis vom Abgeschatteten selbst.14 Denn als Erlebnismannigfaltigkeit geben die Erscheinungsabwandlungen stets andere Anschauungen, aber als Erlebnismannigfaltigkeit erhält unsere Wahrnehmung doch so etwas wie einen »den einzelnen Erlebnissen immanente(n) und doch in der sie übersteigenden Identität transzendente(n) Identitätspol«15 , der ein einheitliches Wahrnehmungsobjekt vorstellt. Dieser Gegenstand kann auch das sein, was Husserl »Bildobjekt«16 genannt hat, nämlich die Erscheinung dessen, was wir auf einem materiellen Bildträger sehen. Dabei muss die Gegebenheitsweise des Bildes, wie die aller anderen Wahrnehmungserlebnisse auch, zunächst am Punkt ihrer Präsenz aufgesucht werden: »Betrachten wir Wahrnehmung abstrakt für sich, so finden wir als ihre intentionale Leistung die Präsentation, die Gegenwärtigung, das Objekt gibt sich als ›da‹ [das ist die Gegenwart des Zeigens], original da und in Präsenz. Aber in dieser Präsenz, als der eines ausgedehnten und dauernden Objekts, liegt eine Kontinuität von Nochbewusstem, 12 IKO NI SCHE PRÄGNA N Z Verströmtem, in keiner Weise mehr Anschaulichem, eine Kontinuität von ›Retentionen‹, und in anderer Richtung eine Kontinuität von ›Protentionen‹.«17 Präsenz ist ein Modus des »Da«. Insofern aber sowohl ein »noch« als auch ein »noch nicht« in die Präsenz des in »Präsentation« gegebenen Objekts miteingeht, wird es auch perfektisch und futurisch prägnant. Entsprechend unterstellen wir Objekten, auch im nächsten Moment noch selbstidentisch zu sein. Das Erklärungspotential der Bildphänomenologie besteht darin, dass ihre Theorie des Ikonischen am konkreten Phänomen orientiert ist und doch höchst verschiedene Bildtypen zu erfassen erlaubt. Ganz allgemein lässt sich mit Husserl an Bildern dreierlei unterscheiden: ihr Bildträger (»Ding«), ihr Bildobjekt (»Abbildung«), ihr Bildsujet (das »Abgebildete«).18 Bilder sind Gegenstände, deren Material zugleich durchscheint, aber dennoch nicht, als Bilderscheinung oder Bildobjekt, in ihrer Materialität restlos aufgeht.19 Deshalb meint artifizielle ikonische Präsenz nicht die Wahrnehmungspräsenz realer Objekte, die sich unmittelbar und unmedialisiert darstellen (wie »Pierre aus der Rue d’Ulm«), sondern die künstlich hervorgebrachte Präsenz eines medial vermittelten Gegenstandes (wie »Pierre« im Bild).20 Diese Trias wird zumal den verschiedenen Aspekten des Bildsehens gerecht: artifizielle Präsenz erlaubt ein Sehen von Etwas (Bildobjekt), das Etwas stets als Etwas (Bildsujet), aber auch mit Etwas (Bildträger) sehen lässt.21 Erklärungskraft gewinnt die phänomenologische Bildtheorie durch ihre Überwindung des zweidimensionalen Modells von Bildsujet und materialem Bildsubstrat, von Signifikant und Signifikat.22 Es ist ein dreistufiges Modell, das genauer zwischen Dargestelltem, Darstellung und Darstellendem zu unterscheiden erlaubt. Denn erst das Moment artifizieller Darstellung ermöglicht, ein Bildsujet als Bild zu sehen.23 Trefflich streiten lässt sich über die Frage, in welchem Maße das Bildobjekt von seinem Trägermedium abhängt: ob vorgestellte oder mit anderen Apparaturen auf die Leinwand reproduzierte Bildobjekte als miteinander identisch aufgefasst werden können; und ob Bilder in diesem Sinn tatsächlich »den Blick in eine physikfreie Zone«24 erlauben, weil ein Bildobjektsein, das sich im Verschwinden seines Bildträgers gleichwohl erhält, recht eigentlich nur für digitale Bildlichkeit zutrifft.25 Solche Überlegungen zur artifiziellen Präsenz folgen der Bildphänomenologie Sartres, die sich vor allem für das Bildbewusstsein des Imaginären interessierte. Denn in der Phantasie ist das Bildobjekt auch ohne materiellen Bildträger präsent – jedenfalls dann, wenn wir nicht die Hirnfunktionen als einen solchen unterstellen wollen. Versteht es das menschliche Bewusstsein, Vorgestelltes auch darstellen zu können, so gilt zugleich das Umgekehrte: Von Dargestelltem kann es sich jederzeit Vorstellungen machen. Beide Vorgänge setzen eine Abstraktionsleistung voraus. Denn das sich Darstellende hat eine andere Gegenwart und Feinkörnigkeit als das Vorgestellte. Umgekehrt erhält das Vorgestellte neue und andere Bestimmungen als das Reale. Der dritte Gewährsmann des dreiwertigen Bildbegriffs ist Hans Jonas. Seine Studien zum homo pictor unterscheiden zwischen Dargestelltem, Darstellendem und Darstellung.26 Auf ein berühmtes Beispiel Panofskys bezogen: Das Darstellende sind Leinwand und Ölfarben in einer bestimmten Figuration und Pastosität, die WAS I ST IKO N I S CH E PR ÄG NA N Z ? 13 grundsätzlich physikalisch beschreibbar sind. Das Dargestellte wäre dann vielleicht eine Salome mit dem Haupt des Täufers oder eine Judith mit dem Haupt des Holofernes.27 Dasjenige aber, was nicht schon in dem einen oder dem anderen aufgeht, wäre die Darstellung selbst, das Bildobjekt. Freilich bedarf dies spätestens dann der Deutung, wenn das Bildsujet nicht eindeutig ist; etwa weil das Zeigen des Bildobjekts nicht immer ein extensionales Zeigen, das Zeigen auf etwas genau Bestimmtes ist. Diese Unterscheidung ist, wie Husserl zeigt,28 auch für das Bildbewusstsein des Imaginären relevant. Denn hier wie dort lässt sich zwischen dem Vorgestellten (etwa dem Eiffelturm), dem Vorstellenden (dem Ich mit seinen psychophysischen Funktionen) und der Vorstellung (dem spezifischen, jemeinigen Vorstellungsbild des Eiffelturms) selbst unterscheiden.29 Wo es Husserls Bildphänomenologie allerdings gerade um Vermeidung voreiliger Sinnunterstellungen geht, dort setzt Cassirers Symbolphilosophie die historisch-apriorische Medialität symbolischer Formen schon voraus. Denn Bilder sind nicht Bilder aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu den Dingen, deren Bilder sie sind.30 Vielmehr werden sie aufgrund erlernter Wahrnehmungskonventionen als Bilder eingeübt. Dieses Etwas-als-etwas-Wahrnehmen ist aber weder reduzierbar auf die Einheit sich selbst gebender Akte noch auf die Zweiheit von dargestellter Bedeutung und darstellenden Materialien. Denn die Darstellung selbst kann nicht der Referent sein, das Abgebildete. Artifizielle Präsenz meint daher zum einen, dass wir im Sehen des Bildes dessen Bildsein mitsehen, zum anderen aber, dass die Bilderscheinung ihren Gegenstand nicht einfach den Gesetzen der Optik verdankt. Auch sollte es nicht mit dem Bildsujet vermengt werden, welches sich auch auf eine Realität außerhalb des Bildes beziehen kann. Bildobjekt ist vielmehr eine Darstellung, die ihre Realität einzig und allein im und als Bild hat. Deshalb entsteht auch aus dem gleichen Sujet und dem gleichen Material stets ein anderes Bildobjekt. Ikonisch prägnant wird artifiziell Präsentes dort, wo durch den Bildträger an einem Bildsujet Vergangenes und Künftiges, Teile und Ganzes im stets gegenwärtigen Bildobjekt als ein untrennbarer Gegenstand durchscheinen. Die Einsicht übrigens, dass sich diese ikonische Präsenz als ein Durchscheinen des Dargestellten (Sujets) und des Darstellenden (materiellen Trägers) in der Darstellung (Bildobjekt) bestimmen lässt, ist, bei aller verständlichen bildphänomenologischen Distanz zu Hegel, ein kunsttheoretisches Erbe seiner Ästhetik. Denn was sollte Hegels Diktum, dass in der Kunst stets eine Idee am sinnlichen Material selbst erscheinen müsse,31 anderes meinen als die Trias von Sujet (Idee), Träger (sinnliches Material) und Objekt (Erscheinung)? 3. Ikonische Differenz Hegels Deduktion der Malerei in den Berliner Ästhetik-Vorlesungen von 1823 enthält eine auf den ersten Blick ebenso triviale wie weitreichende Einsicht: »Das Gemälde muß ferner einen Rahmen haben, anzuzeigen, dass hier das Gemälde 14 IKO NI SCHE PRÄGNA N Z aufhören soll [. . . ].«32 Hegels Bemerkung vereint zwei Prämissen einer jeden Bildphilosophie. Erstens zeigen Bilder stets ihr eigenes Bildsein mit, indem sie, auf ihren Bildträger verweisend, den Schein, den sie stiften, an sich selbst durchsichtig machen. Zweitens wird erst in der Malerei eine Form artifizieller Bildlichkeit erreicht, die gegenüber der »natürlicheren« Künstlichkeit der Skulptur durch Reduzierung des dreidimensionalen Raums auf zweidimensionale Flächigkeit einen entscheidenden Schritt der Abstraktion erreicht – von Hegel als Fortschritt in der geistigen Konkretion von Inhalt und Form interpretiert. Man kann Hegels Aperçu als pointierte Bestimmung dessen begreifen, was Gottfried Boehm mit einem theoriesprachlich glücklichen Terminus »ikonische Differenz« genannt hat. Gemeint ist, dass wir im Betrachten von Bildern deren Bildsein stets mitsehen. Phänomenologisch formuliert: Im Sehen der Bilderscheinung als die eines bestimmten Sujets erinnert uns der Bildträger an das Bildsein des Bildes selbst. Eigentümlich daran ist, wie sehr Boehms Überlegungen Heideggers »ontologische Differenz« und Derridas différance zu zitieren glauben, nicht aber die durchaus näher liegende Symboltheorie Cassirers. Boehms Bestimmung ikonischer Differenz: Sichtbarmachung von Abwesendem als Manifestation von Bedeutung erinnert durchaus an Cassirers Charakterisierung der symbolischen Form: »Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem, was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert.«33 Versucht man, diese Überlegungen in eine bildphänomenologische Terminologie zu übersetzen, zeigen sich Unterschiede. Meint Boehm, das Bildobjekt sei Produkt eines »Grundkontrastes« von Sujet (Dargestelltem) und Material (Darstellendem)? Offenbar lässt sich dies nicht so einfach engführen. Denn zum einen lassen Erfahrungen der modernen Kunst vorsichtiger mit dem Begriff »Sujet« umgehen; zum anderen fehlte ein Pendant zum phänomenologischen Bildobjekt. Hier geht es offensichtlich um eine andere Bestimmung: »Grundkontrast« heißt zunächst nichts anderes als »Spannung«, eine Vereinigung von Verschiedenem. Dieser Kontrast hat einen Träger, die »überschaubare Gesamtfläche«. Diese ist mit einem Mal zu erblicken, jedenfalls als überschaubare begrenzt oder gerahmt. Sie bringt, als Fläche, ein anschauliches »Ganzes« hervor (Bildobjekt), so dass man schließen darf, es gehe primär um das Verhältnis von Darstellendem (Bildträger) und Darstellung (Bildobjekt). Unbeschadet der Berufung auf die bildphänomenologische Tradition macht sich die Absenz einer Unterscheidung wie der zwischen Bildträger (»Gesamtfläche«), Bildobjekt (-) und Bildsujet (»Binnenereignissen«) durchaus bemerkbar, zumal auch Boehm den entscheidenden Schritt des homo pictor in der Hervorbringung artifizieller Präsenz aufsucht. In diese Richtung war sein Konzept anfänglich selbst noch einmal unterschieden worden. Denn die ikonische Differenz hat zur Voraussetzung jene basale, anthropologisch unhintergehbare »pikturale Differenz«, welche Boehm als die Fähigkeit begreift, das »bewegliche Wahrnehmungsfeld des WAS I ST IKO N I S CH E PR ÄG NA N Z ? 15 alltäglichen Sehens mit seinen offenen Rändern, seiner flexiblen Neuanpassung an Situationen in ein begrenztes und stabiles Bildfeld umzustilisieren, als Bildwerk, als Gefäß, als Ritzzeichnung odgl. zu gestalten.«34 Bernhard Waldenfels verwendet eine genau umgekehrte Terminologie. Bei ihm meint »ikonische Differenz« den Grundkontrast von Bildlichkeit, »pikturale Differenz« hingegen deren spezielle Form der »Bildnisse, Gemälde oder gemäldenahe[n] Gebilde«35 . Beiden Terminologien ist gemein, eine bildontologische Differenz zwischen dem natürlichen Blick auf natürlich Seiendes und dem Blick auf ein künstlich Hervorgebrachtes festzuhalten und diese Differenz auf dem Grund der Wahrnehmung künstlich hergestellter Bilddinge ein zweites Mal zu finden: nun als ikonische Differenz oder Grundkontrast des Bildes »zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem[,] was sie an Binnenereignissen einschließt.«36 Der visuelle Grundkontrast kann insofern als »Geburtsort jedes bildlichen Sehens« verstanden werden, als er den reflexiven Blick hervorbringt: Wir sehen im Bild immer mit, dass es ein Bild ist. Wir sehen das Bild als Bild. Es »macht sichtbar, indem es sichtbar ist«37 . Dieser Grundkontrast mag sich verschieden stark äußern; in dem Sinn, »dass Bilder ganz selbstvergessen in der Illusionierung von etwas Dargestelltem aufgehen oder – umgekehrt – ihr bildliches Gemachtsein betonen. In extremis verleugnet sich das Bild als Bild ganz, um die perfekte Repräsentation einer Sache zustandezubringen.«38 Wohl gibt es in der Kunst trompe l’œil-Effekte. Nie aber ist der Illusionszusammenhang so total, dass er als solcher undurchschaubar würde. Zum Begriff der Kunst gehört, dass ihr Schein irgendwo aufbricht, dass er sich selbst transparent macht. Insofern umfasst ikonische Differenz auch das, was Hegel das ästhetische »Durchscheinen«39 der Idee im sinnlichen Material genannt hat: das Durchsichtigmachen der Täuschung im Transparentwerden der Differenz von Sinn und Sinnlichkeit. Ikonische Differenz kennzeichnet die Eigenart des Bildes, das »auf völlig unverzichtbare Weise in Materie eingeschrieben ist, darin aber einen Sinn aufscheinen lässt, der zugleich alles Faktische überbietet.«40 Das Bild ist befähigt, »in der Arbeit an der Materie Bedeutungen aufscheinen zu lassen.«41 Es ist paradoxerweise gerade die opake Bildfläche, die jene Anblicke und Durchblicke gewährt, in denen sich uns etwas erschließt.42 Erst in seiner materiellen Bestimmtheit (Farbe, Form, Art des Grundes) entsteht der Sinnzusammenhang als »produktive Spannung« zwischen dem »Verschiedenen auf der Fläche und dem Flächengrund selbst«43 . Bekanntlich zielen Boehms Überlegungen auch auf eine Rehabilitierung nichtdiskursiver Formen von Erkenntnis. Es geht um die Wahrung der unterschiedenen und doch aufeinander bezogenen Erkenntnisdimensionen von Sagen und Zeigen. Vor diesem Hintergrund verwundert zunächst die ungebrochene Hoffnung auf deren wechselseitige Übersetzbarkeit: »Was der Satz (der ›Logos‹) kann, das muß auch dem bildnerischen Werke zu Gebote stehen, freilich auf seine Weise.«44 Offenbar kommt hier alles auf den Zusatz »auf seine Weise« an. Denn weder soll die Unreduzierbarkeit des einen auf das jeweils andere Medium geleugnet noch aber auch die strikte Trennung von Sagen und Zeigen behauptet werden. 16 IKO NI SCHE PRÄGNA N Z 4. Ikonische Distanz Zuletzt also scheint der Augenblick ikonischer Erfahrung dadurch charakterisiert, dass in ihm durchschaut wird, was das Sehen selbst ist.45 Dazu müssen Bilder unserem naiven Blick in die Quere kommen. Umgekehrt bedürfen sie jener »Blickspaltung«, die ein Bild für uns allererst zum Bild macht.46 Zur sinnlichen Ordnung der Bildlichkeit gehört deshalb die Distanz – sei es als Differenz zwischen Bild und Bildmedium, Blick und Bild, Wahrnehmung und Bildwahrnehmung, Betrachtendem und Betrachtetem. Zugleich ist diese Distanzierung reflexiv, sie umfasst ein »doppeltes Zeigen«47 : Ein Bild sehen heißt Etwas sehen und zugleich die Art der Sichtbarmachung des Bildes mitsehen. Die Reflexivität dieses Sehens ist ihrerseits reflexiv. Denn sie erlaubt nicht nur das Verständnis von etwas als etwas, sondern auch die von etwas als etwas anderes. Innerhalb eines bestimmten, symbolisch durchlässigen Deutungsrahmens sind wir nicht festgelegt, einen Gegenstand nur als diesen aufzufassen. Von Erwin Panofsky stammt die instruktive Analyse der Realien in Francesco Maffais Judith mit dem Haupt des Holofernes (17. Jh.), das lange für ein Bild gehalten wurde, welches Salomé mit dem Haupt des Johannes zeige. Wer aber wird nun dargestellt? Ikonographisch stimmt zur Figur der Salome die Schüssel, aber nicht das Schwert; zur Judith das Schwert, aber nicht die Schüssel. Meist sichert die Anwesenheit der Magd den Typus »Judith« und auch das abgeschlagene Haupt gemahnt typologisch wie physiognomisch eher an den Typus des Gewaltherrschers als an den des Täufers.48 Für den Zweck einer Theorie ikonischer Prägnanz ist die Richtigkeit solcher Sujetidentifizierungen nebensächlich. Relevant ist, dass die Ambivalenz von Zuordnungen einen entscheidenden Aspekt ikonischer Identifizierung offenlegt: die Möglichkeit der Suspension eindeutiger Bestimmung. Wenn man das Verständnis von Bildern als eines, das die Möglichkeit des Verstehens von etwas als etwas anderes einschließt, mit Herrmann Schmitz als »spielerische Identifizierung«49 begreift, werden die Konturen einer solchen Suspension deutlicher. Ihr Schweben zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit sorgt dafür, im Bestimmen künstlerischer Gegenstände und Sachverhalte (und nicht nur ihrer) nicht festgelegt zu sein. Spielerische Identifizierung heißt nun jene erlernte, aber uns selbstverständlich gewordene Einstellung »etwas für ein anderes zu nehmen«. Die Autorität des identifizierten Gegenstandes drängt uns nicht auf, ihn nur als diesen hinzunehmen. Ästhetische Erfahrung gewährt eine Freiheit und Distanz zum Objekt; zugleich lässt sie vermeintlich Alltägliches anders erscheinen. Wo ein solches unbestimmtes Bestimmen gelingt, schränkt es das freie Spiel unserer Einbildungskraft nur in dem Maße ein, wie es für sein Gelingen notwendig ist. Damit erweist sich Schmitz’ »Identifizierung« zuletzt als spielerische Differenzierung. Denn ein aufgeklärtes Verweilen an Kunstobjekten unterscheidet implizit immer schon zwischen dem, was Panofsky ihren Phänomensinn und ihren Bedeutungssinn genannt hat. Zweifellos ließe sich der Phänomensinn etwa des »aufschwebenden«50 hellen Farbkomplexes in Matthias Grünewalds Isenheimer Altarbild schlicht beschreiben, indem man davon absieht, die Person »Christus« WAS I ST IKO N I S CH E PR ÄG NA N Z ? 17 zu nennen. Doch schon in der kausalorientierten Beschreibung des Schwebens stoßen wir an die Grenzen einer vermeintlich reinen Beschreibung seines »Sach-« oder »Ausdrucks-Sinns«. Denn ohne Rekurs auf den »Bedeutungssinn« – Christi Auferstehung etwa – würden wir die Figuration auf dem rechten Innenflügel des Isenheimer Altars kaum angemessen beschreiben können. Evidenterweise schließt jeder Bedeutungssinn ein bereits literarisch vermitteltes Wissen ein, sei es der homerischen Epen, der attischen Tragödien, der biblischen Überlieferung. Während die phänomenale Beschreibung nur voraussetzt, was uns durch Erfahrung geläufig ist, geht in eine Interpretation des Bedeutungssinns stets schon stilkritisches Wissen ein – etwa, dass im Schweben die Grabentsteigung, die Verklärung oder die Auferstehung Christi vergegenwärtigt werde. Dank spielerischer Differenzierung können mehrere, vielleicht sogar alle drei Deutungen offen stehen. Das meint Panofsky, wenn er sagt, die »primitive Deskription« sei bereits »Interpretation« und die »beschreibende Aufdeckung des Phänomensinns« gehe Hand in Hand mit der »ikonographischen Aufdeckung des Bedeutungssinns«51 . Beide wiederum, Phänomensinn und Bedeutungssinn, Ausdruckskenntnis und Stilerkenntnis, verweisen auf einen ihnen gemeinsamen »Wesenssinn«. Dessen Deutung reflektiert auch auf den geschichtlichen Gehalt der Werke. Ein frühmittelalterliches Abendmahlsbild wird sich durch seine inverse Perspektive möglicherweise von der Zentralperspektivität eines neuzeitlichen Abendmahlsbildes unterscheiden, an welchem eben dieses Motiv der Perspektivität die Interpretation ermöglicht, Zentralperspektivität als eine entscheidende symbolische Form neuzeitlicher Malerei zu begreifen. Dann wäre nicht mehr der Inhalt des Bildes, sondern ein Teil seines Gehalts bestimmt; es beträfe das, was über den Bedeutungssinn hinaus dessen Wesenssinn genannt werden könnte. Panofsky verband die höchste Aufgabe der Interpretation mit eben jenem Übergang von Ikonographie in Ikonologie, der zuletzt auch ein Übergang in die philosophische Deutung von Werken ist. Auf diese Weise unterscheidet die spielerische Differenzierung unseres »rahmenden Sehens«52 verschiedene Aspekte, um sie allerdings sogleich wieder aufeinander zu beziehen: das Sehen des Bildes und seines Bildseins, die Wahrnehmung von Bildträger, Bildsujet und Bilderscheinung, das Gewahrwerden seines Phänomen-, Bedeutungs- und Wesenssinns. Dieses beziehende Unterscheiden des Bildblicks führt auf die Frage zurück, was eigentlich das Ikonische, oder einfacher: was ein Bild ist. Offensichtlich sind Bilder nicht einfach Dinge, sondern in spielerischer Differenzierung gestiftete mehrstellige Relationen:53 die Relation zwischen einem anblickenden Subjekt, einer Zeit (Betrachtungs-, Bild- und historische Zeit) sowie eines an seinem Bildträger erscheinenden Bildobjekts, welches irgendein Abgebildetes zeigt. Ikonische Prägnanz kann dann, wie zu sehen sein wird, eine besondere, komplexe Form dieser spielerischen Differenzierung der Bildrelation genannt werden. Kein Anblick ohne Anblickende. Aber auch kein Anblick ohne eine sei es auch noch so geringe Distanz zum Angeblickten. Und so, wie schon die räumliche Distanz zum angeblickten Bild nötig ist, so erfordert jedes ästhetisch verweilende Bildsehen eine Distanznahme »in der Ergriffenheit«54 . Kein Sehen eines Bildes, ohne 18 IKO NI SCHE PRÄGNA N Z dass es uns in welcher Form auch immer ergriffe. Doch reproduziert sich in dieser Eingenommenheit stets die Distanz zum Eingenommenen. Diese Distanz erscheint allerdings nicht nur spatial, sondern auch temporal: in dem stets präsentischen Charakter des Zeigens, welches den Modus alles Ikonischen auszeichnet. Ihn gilt es näher zu bestimmen. 5. Ikonisches Präsens: Sagen und Zeigen Gewohnt pointiert erinnert Lessing im Laokoon an den Zusammenhang von Sichtbarkeit, ikonischer Präsenz und Vergegenwärtigung. Bei Bildern »ist alles sichtbar; und auf einerlei Art sichtbar«55 – in einem kontinuierlichen Jetzt. Entsprechend müssen Bilder »eine sichtbare Scene annehmen«56 . Sind sie gegenständlich, was Lessing noch wie selbstverständlich unterstellen durfte, so können sie Unsichtbares nicht anders denn als Sichtbares, Unzeigbares nicht anders denn im Medium der Darstellung zeigen. Ähnlich ergeht es Zeitaspekten. Auch Vergangenes und Zukünftiges sind in jene eigentümliche artifizielle Gegenwart des Bildes verwandelt, die man ikonisches Präsens nennen könnte. Schon Lessing sieht, dass die »grammatische« Struktur des Präsens mit der Eigenart der Wahrnehmung zusammenhängt, weil dem »Auge [. . . ] die betrachteten Teile beständig gegenwärtig«57 bleiben. Hegel wird in seinen Ästhetikvorlesungen bemerken, Kunst hebe »Gegenstände in die Gegenwart herüber«. »Die Malerei macht sie irdisch und gegenwärtig [. . . ].«58 Der präsentische Modus des Zeigens ist ein anderer als der des Sagens. Während dieser sukzessive Vergegenwärtigung stiftet, erzeugt jener simultane Präsenz.59 Was aber heißt Präsenz? Mit Husserl ließe sich antworten: dass ein Wahrnehmungsobjekt stets gegenwärtig ist, dass es für uns den Charakter des Da-Seins als eines JetztSeins hat: »das Objekt gibt sich als ›da‹, original da und in Präsenz.«60 Nur kann dieses »da« nicht bloß räumlich, es muss auch zeitlich verstanden werden. Von diesem ikonischen Präsens, das sich dem Chiasmus von grammatischem Sprach- und ikonischem Zeigemodus verdankt, zehrt auch alles Schockhafte und Unvorgreifliche ästhetischer Erfahrung. Inwiefern aber zwingt die Struktur des Ikonischen nicht nur zur Präsenz, sondern auch zum Präsens? Dass die Bilderscheinung nicht nur als Wahrnehmungsobjekt in Präsenz ist, sondern als Darstellung präsentisch zeigt, können wir schon der Sinnlosigkeit einer Redeweise entnehmen, die sagte: Gestern zeigte das Bild noch dieses, morgen aber wird es jenes zeigen. Wohl kann man behaupten, gestern habe das Bild mir noch etwas ganz anderes »gesagt« und heute sähe ich es wiederum anders. Dies aber sagt nur etwas über den Betrachtenden, nichts über das Bild und sein Objekt, das sich in der Zwischenzeit nicht verändert hat. Der Bilderscheinung steht kein anderer Zeitmodus zur Verfügung als das Präsens. Entsprechend muss es Vergangenheit, Zukunft, Kausalität, Potentialis und Irrealis in eine artifizielle Simultanität verwandeln. Mit ihrer Unterscheidung von aisthetischen und diskursiven Medien bietet Dieter Merschs Medientheorie ein für dieses Problem fruchtbares Analyseinstrumentarium. Während sich die ais- WAS I ST IKO N I S CH E PR ÄG NA N Z ? 19 thetischen Medien des Bilds und des Tons auf Wahrnehmungen (Optik, Akustik, Düfte, Taktiles) beziehen, bringen die diskursiven Medien Strukturen, Ordnungen, Einteilungen, Zäsuren hervor. Diskursive Medien orientieren sich am Modell des Zeichens, ihre Grundformate sind Wort und Zahl, ihre Kriterien Differentialität und Wiederholbarkeit.61 Allerdings lassen diskursive Medien die Ordnungen, die sie stiften, nicht zwangsläufig selbst erscheinen. Bilder hingegen stellen kraft ihrer aisthetischen Medialität die eigene Sichtbarkeit mit aus.62 Im Unterschied zum Sagen fehlen dem ikonischen »Sich-Zeigen« wesentliche Merkmale des Diskursiven. Diese gibt es aber gerade preis, um die präsentische Gestalt des Ikonischen zu gewinnen. Zu diesen Mängeln, die keine sind, weil nur mit ihnen der ikonische Modus des Zeigens möglich wird, gehört die Reduktion der Zeit auf ihr Jetzt. Dies sei an folgenden Aspekten verdeutlicht: (1) Die räumliche Gegenwart ikonischer Präsenz stiftet eine streng präsentische Zeitform. Wohl kann Vergangenes oder Zukünftiges präsentiert werden, aber doch nur gleichzeitig und auf derselben Oberfläche. Es ist an die Einheit ihres Erscheinungsorts gebunden. Zeigen hat den »Charakter von Gegenwärtigung«63 . Ikonische Prägnanz führt zur Verknappung von Zeit, sobald sie zur Pointierung von Handlung zwingt. (2) Ähnliches gilt für das Verhältnis von Kausalität im Bild. Was in der Realität, in der Sprache oder im Text nacheinander, aber auch wegeneinander erscheint: kausale Verknüpfung, das muss im ruhenden, dem Präsens verpflichteten Bild ein räumliches Nebeneinander annehmen. Vorbild scheint auch hier das Drama, in welchem die eine Handlung notwendig eine bestimmte andere auslöst oder nach sich zieht und ursächlich verknüpft. Wegeneinander und Sukzessivität übersetzen sich in Nebeneinander und Simultanität. Muss Kausalität unterstellen, eines gehe dem anderen voraus oder sei dessen Ursprung, so lässt die Simultanität des Bildes den Prozess in eins fallen und verwandelt die zeitlichen oder sachlichen Kausalketten in eine Synopsis räumlich getrennter Momente. (3) Auch müssen Bilder ohne das Moment diskursiver Selbstdistanzierung auskommen. Das besagt, dass ikonischer Präsenz – sieht man ab von den Bilderfolgen des Comics und Films – die Möglichkeit der Zurückhaltung, des Verschwindens fehlt. Ihr bleibt der Möglichkeitshorizont des Konjunktivs verschlossen. Das Bild ist stets Werk (ergon), nicht Möglichkeit (dynamis). Es zeigt kein »es könnte sein«, sondern immer ein »es ist«. Was es präsentiert, kann es nicht zurückhalten oder verstecken. Im ikonischen Zeigen gibt es kein strenges Äquivalent zum sprachlich-diskursiven Konjunktiv, von dem Revidierbarkeit und Fallibilität abhängen. Es ist, als würde jedes Bild sagen: »So ist es«. Auch was nicht so ist, kann es wohl zeigen, aber wiederum nur im Modus des »So ist es«. Mit dem Konjunktiv fehlt auch der Aspekt des Irrealis – was keineswegs heißt, dass das Bild nicht Irreales darstellen könnte. Es meint vielmehr, dass der »Wirklichkeitsmodus« des Irrealis, des Noch-nicht- oder möglicherweise Nie-Seins, nicht im Modus des Irrealis und Nichtpräsenten selbst, sondern einzig im Modus der Präsenz und des Präsens dargestellt werden kann. Es steht dem Bild nicht offen, zu sagen: »ich könnte auch so aussehen, tue es aber nicht«. (4) Das führt auf die nicht unumstrittene, von Mersch gleichwohl plausibel begründete These vom Fehlen der bestimmten Negation in der »Logik« des Ikonischen.
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