Kulturtipp vom 9. Juli 2015

DIMITRIS POUPALOS
AKTUELL
«Clowns’ Houses»: Das Merlin Puppet Theatre aus Griechenland haucht Marionetten Leben ein
BÜHNE
Aus dem prallen Leben
Ein Theatererlebnis lockt zum sommerlichen Ausflug
ins Tessin: In Bellinzona findet das mehrsprachige
Festival Territori statt – mit spannenden Produktionen
aus ganz Europa.
Dieses Puppentheater ist kein
Kinderkram. Die sechs Figuren
im Stück «Clowns’ Houses» stehen nicht auf der Sonnenseite
des Lebens: Ein alter, einsamer
Mann stopft sich vor dem Fernseher einen Teller Spaghetti rein.
Ein anderer mit bösen Augen
zählt an seinem Schreibtisch
Dollarnoten. Eine Frau mit blei-
6
chem Gesicht, dunklen Augenringen und Lockenwicklern im
verfilzten Haar schrubbt ihre
Wohnung. Eindrücklich, wie
lebensecht der Ausdruck der
Tischpuppen und Marionetten
des Merlin Puppet eatre
wirkt.
Die beiden griechischen Puppen- und Maskenbauer Dimitris
Stamou und Demy Papada haben mit ihrem Merlin Puppet
eatre seit 2001 an zahlreichen
Festivals in ganz Europa teilgenommen und mehrere Preise erhalten. Sie betreiben das Puppenspiel in unterschiedlichen
Facetten und experimentieren
mit Kunstformen wie dem
Schattenspiel oder Video. In
ihren Stücken werfen sie einen
kritischen Blick auf die Gesellschaft; die schräg-morbide
Ästhetik erinnert an Filme von
Tim Burton.
Im aktuellen Stück «Clowns’
Houses» leuchten sie in das Innere eines Hauses, das von einsamen Gestalten bevölkert ist.
Ihre Träume haben sie längst
aufgegeben: Sie vegetieren alleine in einer Wohnung vor sich
hin, sind im Alltag gefangen und
pflegen ihre Neurosen.
Ausser Rand und Band
Der Trott wird durchbrochen,
als Gegenstände ein Eigenleben
entwickeln. Der ausser Rand
kulturtipp 15 l 15
AKTUELL
Tanz um die Erinnerung
Das ist bei aller Tragikomik keine leichte Kost. Dass sie auch anders können, zeigt das Merlin
Puppet eatre in einer weiteren
Produktion, das am Festival Territori zur Schweizer Erstaufführung gelangt. «Noone’s Land» ist
ein Stück für die ganze Familie –
empfehlenswert für unerschrockene Kinder ab sechs Jahren. Es
handelt von der Kreativität, betrachtet durch die Augen einer
Vogelscheuche. Da sie immer
am selben Ort fixiert ist, muss
sie ihre Einbildungskraft spielen
lassen.
Um den Verlust von Erinnerungen geht es in der multimedialen Produktion «Panik» der
Entdeckungen
Von der Tessiner Theaterlandschaft kennen auswärtige Bühnenfans vor allem das Teatro
Dimitri: Mit dem Sommerfestival
«Territori» in Bellinzona, das
2013 auf Initiative des Teatro
Sociale gegründet wurde, soll
sich das ändern. Einheimische
präsentieren hier ebenso ihr
Schaffen wie bekannte Künstler
aus ganz Europa. Nebst klassischem Sprechtheater stehen
Tanz, Performance, Strassenund Dokumentartheater oder
Konzerte auf dem Programm. Die
rund 20 Produktionen sind in
Theaterhäusern, auf Plätzen, in
Villen, Schlössern und Galerien
zu sehen – in Italienisch,
Deutsch, Französisch, Englisch
oder ohne Worte.
Dieses Jahr geht das internationale Festival unter dem Motto
«It’s my Life» über die Bühne.
Mit Geschichten also, die das
Leben schrieb: So beschäftigt
sich die walisische Künstlerin
Jill Greenhalgh in «Daughter»
mit der Mutter-Tochter-Bezie-
Luzerner eatertruppe Ultra,
die am Festival in Bellinzona auf
Deutsch und Italienisch zu sehen
sein wird. Im Zentrum steht die
87-jährige Alice Bollier-Plüss,
ehemalige Apothekerin, an De-
Walzerschritte
gegen das
Vergessen:
Die 87-jährige an
Alzheimer erkrankte
PD
Alice Bollier-Plüss
mit Thomas Köppel
kulturtipp 15 l 15
VoodooPriesterin:
MARCIN MAZIEJ
und Band geratene TV-Apparat
erschlägt den einsamen Fernsehgucker. Und der geldgierige
Mann am Schreibtisch beginnt
plötzlich zu würgen und spuckt
Münzen aus. Das Elektrokabel
der putzenden Frau fängt an zu
tanzen – und schlingt sich um
ihren Hals. Ein Albtraum. Selbst
das Tête-à-Tête im Mondlicht
endet mit einem barbarischen
Akt: Die Mondsichel köpft die
Figur.
Marie-Caroline
Hominal alias
Silver
hung. Das musikalische Duo
Winter’s Family aus Israel und
Gäste setzen sich in «No world/
FPLL» mit Schönheit, Multikul turalismus, Kapitalismus oder
der Liebe auseinander. Die Tessiner Gruppe Opera Retablo entwickelt in «Köszeg» eine düstere
existenzielle Geschichte frei
nach Agota Kristofs «Trilogie der
Stadt K.». Oder das Zürcher
Theater Hora mit geistig Behinderten verhandelt die sogenannte Normalität. Zum
Abschluss des Festivals mimt
menz erkrankt. Die drei Schauspieler und Performer Orpheo
Carcano, omas Köppel und
Nina Langensand erzählen aus
Alices Vergangenheit, ihrem Berufsleben, ihren Lieblingsspielen
oder ihren Tanzferien. Oder sie
lösen auf der Bühne – als Kontrast zur Wirrnis in Alices Kopf –
mathematische Aufgaben. Bis
die an Alzheimer erkrankte Alice
selbst auftritt und selbstvergessen
«Eile mit Weile» spielt oder sich
im Takt der Musik wiegt, ein
paar Walzerschritte mit omas
Köppel wagt.
An was sie sich noch erinnert,
unterscheidet sich je nach eaterabend – die Krankheit ist
nicht immer gleich präsent. Was
zählt, ist die Gegenwart, während Vergangenheit und Zukunft immer weniger existieren.
Nina Langensand, Enkelin von
Alice, will sich mit ihrem Stück
Marie-Caroline Hominal alias
Silver (siehe Bild) im Castello
Montebello eine Voodoo-Priesterin auf ihrem futuristischen
Altar. In ihrer Tanzperformance
setzt sie sich mit der Bedeutung
von Energie, Rhythmus und
Bewegung auseinander. (bc)
Territori
Di, 14.7.–Sa, 18.7.
Verschiedene Orte Bellinzona TI
Weitere Infos unter:
www.territori.ch
zwischen eater und Performance der Welt ihrer Grossmutter annähern. Eine gewagte Gratwanderung zur Erkundigung eines heiklen emas, das viele beschäftigt.
Babina Cathomen
Aufführungen
Clowns’ Houses
Mi, 15.7., 20.00
Teatro dell’Oratorio Bellinzona
Ohne Worte, für Erwachsene
Noone’s Land
Do, 16.7., 16.00
Teatro dell’ Oratorio Bellinzona
Ohne Worte, Familienstück für
Kinder ab 6 Jahren
Panik
Di/Mi/Do, 14.7./15.7./16.7.
Jew. 18.15
Villa dei Cedri 2 Bellinzona
Italienisch und Deutsch
7