Spezielle Herausforderungen im höchstgelegenen Akutspital Europas

AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN
SMF
RMS
948
412
Höhe, giftige Tiere, Klima und Tourismus
Spezielle Herausforderungen im
höchstgelegenen Akutspital Europas
Donat Marugg
Medizinische Klinik, Notfallzentrum und Intensivstation, Spital Oberengadin, Samedan
Zusammenfassung
Special challenges in the highest-elevation acute-care
hospital in Europe
Oberengadin Hospital in Samedan is faced with particular
challenges, as the highest-elevation acute-care hospital in
Europe (1750 m = 5,740 ft above sea level). The factors re
sponsible for this are elevation-related and meteorological/
climatic influences, as well as seasonal variations in
Südbünden’s demographic structure due to tourism.
Das Spital Oberengadin in Samedan ist als höchstgelegenes Akutspital Europas (1750 m ü.M.) mit besonderen
Herausforderungen konfrontiert. Verantwortlich dafür
sind höhenbedingte und meteorologische/klimatische
Einflüsse sowie tourismusbedingte saisonale Schwankungen der Bevölkerungsstruktur Südbündens.
­
­
­
­
Summary
Key words: acute-care hospital, high-altitude pulmonary
oedema, mountain snake bite, mountain sickness
gadin wegen Kreuzotternbissen hospitalisierte Personen analysiert. Nur in fünf Fällen (14%) musste das
Schlangengift-Serum appliziert werden. In allen Fällen
kam es zu einer Restitutio ad integrum [1].
Fallbeispiel
Bisse durch einheimische Giftschlangen
REVUE MÉDICALE SUISSE
In der alpinen Region Südbündens lebt als einheimische Giftschlange v.a. die Vipera berus (Kreuzotter). In
den vergangenen Jahren wurden jährlich bis zu vier
Personen mit zum Teil bedrohlichen SchlangenbissVergiftungen im Spital Oberengadin (Abbildung 1) hospitalisiert. In einer Dissertation aus dem Jahre 2009
wurden 34 zwischen 1975 und 2007 im Spital Oberen-
2015;11(471):948–952
Lawinenunfälle
Im Wintersportgebiet Südbünden ereignen sich je
nach meteorologischer Situation immer wieder Lawinenunfälle, deren Opfer auf der interdisziplinären
SWISS MEDICAL FORUM
Abbildung 1: Spital Oberengadin, Samedan (1750 m ü.M.).
Am 29.7.2007 Kreuzotterbiss (Abbildung 2) in den rechten Zeigefinger eines 22-jährigen Mannes (zwei kleine
Bissmarken im Abstand von 2 mm) beim Griff nach einem Beil. Passageres Anschwellen von Lippen, Zunge
und Rachen sowie Entwicklung eines Ödems der rechten Hand. Im Spital Kaltschweissigkeit, Übelkeit und
Blässe sowie einmaliges Erbrechen. Zunehmende Entwicklung eines hämorrhagischen Ödems am ganzen
rechten Arm mit Ausdehnung bis Axilla (Abbildung 3)
und Hemithorax rechts. Therapie mit Diclofenac, mässiger Kühlung und Hochlagerung des Armes. Allmähliche Besserung. Entlassung am 1.8.2007.
2015;15(17):412– 416
SMF
413
© Piet Spaans | Wikimedia Commons
AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN
RMS
949
Abbildung 2: Vipera berus (Kreuzotter).
­
­
Intensivstation des Spitals Oberengadin wegen Verletzungen, Asphyxie und/oder Hypothermie hospitalisiert
werden.
Fallbeispiel
­
­
Am 14.2.2012 um 11.00 Uhr Start einer Skitour (Abbildung 4). Etwa 13 Uhr Lawinenniedergang. 21.00 Uhr
Alarmierung. 21.38 Uhr Start eines Suchfluges der
REGA. 22.11 Uhr Bergung. 22.25 Uhr Ankunft in der Intensivstation des Spitals Oberengadin.
Verschüttungsdauer des 16-jährigen Patienten ca.
neun Stunden. Totalverschüttung (nur die linke Hand
ragte zwischen Schneeplatten hervor, Rechtsseitenlage).
Bewusstloser Patient, vorhandene kleine Atemhöhle,
minimale Spontanatmung (Atemfrequenz 25/min),
minimaler zentralisierter Kreislauf (Blutdruck zunächst nicht messbar, 45 Minuten später 80/50 mmHg,
Puls 70/min mit multiplen ventrikulären Extra
systolen). SpO2 zunächst nicht messbar, 60 Minuten
später bei einem FiO2 von 1,0 ca. 80%. GCS (Glasgow
Coma Scale) 7 (A2, V2, M3), Pupillen weit, ohne Lichtreaktion. Hypothermie Grad III–IV (Körperkern-Temperatur 22,9 °C, in der Blase gemessen), lokale Erfrierungen an der linken Hand. Agitiertes Verhalten.
Bei der EKG-Monitorisierung vereinzelte kurze selbstlimitierende Kammertachykardien.
Abbildung 3: Folgen des Kreuzotterbisses in den
rechten Zeigefinger.
REVUE MÉDICALE SUISSE
2015;11(471):948–952
SWISS MEDICAL FORUM
2015;15(17):412– 416
AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN
SMF
RMS
950
414
Abbildung 4: Lawine mit Totalverschüttung.
­
Therapie
Interne und externe Aufwärmung (Bair Hugger™,
warme Infusionen). Sauerstoffzufuhr (FiO2 1,0 mit
Non-Rebreathing-Maske). Analgesie mit Paracetamol
und Metamizol i.v. Lungenödem-Therapie mit Furo
semid 10 mg i.v.
Bei Austritt spontan atmender, wacher (GCS 15) und
kreislaufstabiler Patient mit schweren Erfrierungen an
der linken Hand.
­
Akute Bergkrankheit
und Höhen-Lungenödem
­
Gelegentlich präsentieren sich Patienten mit den Sym
ptomen einer akuten Bergkrankheit im Spital Oberengadin. Zwischen 1976 und 2008 wurden auch 28 Patienten
mit einem akuten Höhen-Lungenödem hospitalisiert.
Die Schlafhöhe lag meist >2500 m ü.M. Bei weiteren
drei Patienten trat das Höhen-Lungenödem jedoch bereits auf der Talhöhe des Oberengadins (1800 m ü.M.)
auf [3]. Die Hospitalisationsdauer betrug zwei bis sieben
Tage mit jeweiliger Restitutio ad integrum.
REVUE MÉDICALE SUISSE
2015;11(471):948–952
Fallbeispiel
46-jähriger Bergsteiger mit akutem Höhen-Lungenödem nach Besteigung des Piz Bernina (4048 m ü.M.)
(Abbildung 5): Als geübter Bergsteiger war der Patient
bereits während fünf Tagen in Höhenlagen zwischen
2000 und 3900 m ü.M. unterwegs. Am 22.7.2003
fühlte er sich nach der Rückkehr vom Piz Bernina jedoch sehr müde, verspürte Kopfschmerzen und litt an
einer zunehmenden Dyspnoe mit Husten und blutigtingiertem Auswurf. Nur mit grosser Mühe schaffte er
noch den Abstieg ins Tal und stellte sich im Spital Oberengadin vor.
Status
Stark reduzierter Allgemeinzustand / guter Ernährungszustand. Temperatur: 39,0 °C zentral. Kardiovaskulär:
bis auf gestaute Halsvenen unauffällig, Blutdruck
142/86 mm Hg, Puls 88/min. Pulmonal (Abbildung 6
und 7): Atemfrequenz 26/min, SpO2 64% unter Raumluft, feuchte Rasselgeräusche beidseits basal, rechts
mehr als links.
Venöse Blutgasanalyse bei Eintritt
(nicht temperaturkorrigiert)
pH: 7,06; pCO2: 12,7 kPa; pO2 bei einem FiO2 von 1,0:
3,38 kPa; Bikarbonat: 15,4 mmol/l; BE: –9,7 mmol/l;
gemessene O2-Sättigung: 28%; Laktat: 4,3 mmol/l.
Im Thorax-Röntgenbild rechtsbetontes Lungenödem
infolge Aspiration von Schneewasser [2].
Arterielle Blutgasanalyse unter Raumluft
pH: 7,51; pCO2: 3,33 kPa; pO2: 4,42 kPa; HCO3-:
22,2 mmol/l; Base Excess: –3,1 mmol/l; gemessene O2Sättigung: 66,8%; Laktat: 1,3 mmol/l; berechneter alveolo-kapillärer O2-Gradient: 7,42 kPa.
Therapie
Initiale Zufuhr von 100% O2 via Non-RebreathingMaske, Dalteparin 5000 E s.c./Tag. Zunehmende
SWISS MEDICAL FORUM
2015;15(17):412– 416
SMF
415
vatives und visionäres Projekt eine telepathologische
Schnellschnitt-Untersuchung via ISDN-Telephonleitung mit dem Institut für Pathologie des Universitätsspitals Basel in Betrieb genommen [4]. Zwischenzeitlich wurden diese telemedizinischen Möglichkeiten
stets dem neuesten Stand angepasst und weiterent
wickelt (Abbildung 8). So werden seit einigen Jahren im
Spital Oberengadin auch teleradiologische Beurteilungen für die Spitäler in Scoul und Poschiavo angeboten
sowie Behandlungen des akuten zerebrovaskulären
Insultes mittels i.v. Lysetherapie in telemedizinischer
Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital St. Gallen als
zertifiziertem Stroke Center durchgeführt. Ebenso
wurden regelmässige Videofortbildungen mit den universitären Zentren in diversen medizinischen Bereichen für die Ärzte im Spital Oberengadin institutionalisiert.
­
­
AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN
RMS
951
Abbildung 5: Bergsteiger-Höhenprofil mit akutem Höhen-Lungenödem.
­
Telemedizinische Beurteilungen
und Fortbildungen
Eine grosse Herausforderung stellt jeweils auch die
Rekrutierung des medizinischen Personals im Hinblick
auf die tourismusbedingten Schwankungen übers Jahr
dar. Während die Bevölkerungszahl in Südbünden in
der Hochsaison auf über 120 000 ansteigt, fällt sie in
der Zwischensaison auf 10 000 ab. Trotz diesen grossen
Schwankungen der Patientenzahlen müssen die medizinischen Vorhalteleistungen (z.B. Notfall- und Intensivstation) über das ganze Jahr aufrechterhalten wer ­
­
Verbesserung des Allgemeinzustands mit Abnahme
der Dyspnoe und des Hustens bis zum Erreichen des
Normalzustandes.
Saisonale Schwankungen der Patientenzahlen und internationale Prominente
Aufgrund der peripheren geographischen Lage wurde
im Spital Oberengadin, das über keine eigene Pathologie verfügt, bereits 1992 europaweit erstmals als inno-
­
Abbildung 6: Thorax-Röntgenbild pa
mit Höhen-Lungenödem rechts bei Spitaleintritt.
REVUE MÉDICALE SUISSE
2015;11(471):948–952
Abbildung 7: Thorax-Röntgenbild pa bei Spitalaustritt.
SWISS MEDICAL FORUM
2015;15(17):412– 416
AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN
SMF
RMS
952
416
derne medizinische Infrastruktur. Diese ist auch notwendig, da es vorkommen kann, dass Patienten aus
meteorologischen Gründen während einiger Tage nicht
in ein Zentrumsspital verlegt werden können.
Zusammenfassung
Durch höhenbedingte und meteorologische/klimatische Einflüsse sowie tourismusbedingte saisonale
Schwankungen der Bevölkerungsstruktur Südbündens ist das peripher gelegene Spital Oberengadin als
höchstgelegenes Akutspital Europas mit besonderen
Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören unter
anderem Bisse durch Kreuzottern, Lawinenunfälle,
akute Bergkrankheit, Höhen-Lungenödem, Einsatz der
Telemedizin, saisonale Schwankungen der Patientenzahlen und die Betreuung von prominenten Touristen.
­
Abbildung 8: Telepathologie-Einrichtung.
2015;11(471):948–952
Korrespondenz:
Dr. med. Donat Marugg
Facharzt FMH für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin
Chefarzt der medizinischen Klinik und Intensivstation,
Leiter des Notfallzentrums
Via Nouva 3
Spital Oberengadin
CH-7503 Samedan
marugg.donat[at]spital.net
Literatur
3
4
2
1
­
­
den, was finanziell unrentabel ist. Erfreulicherweise
konnten in den letzten Jahren auf der medizinischen
Klinik nach wie vor problemlos Assistenzärzte re
krutiert werden, da es sich um eine sehr begehrte Ausbildungsstelle handelt.
Wie wohl nur in wenigen anderen Schweizer Spitälern
werden im Spital Oberengadin, vor allem während der
Hochsaison, auch immer wieder Prominente aus der
Schweiz und dem Ausland notfallmässig hospitalisiert
(Politiker, Wirtschaftsführer, Unternehmer, Künstler,
Spitzensportler usw.). Ihre Betreuung erfordert vom
Pflegepersonal und von der Ärzteschaft ein zusätzliches
Engagement, was nicht selten durch ein grosszügiges
Sponsoring zu Gunsten des Spitals honoriert wird.
Nicht zuletzt auch deshalb verfügt das Spital Oberengadin über eine verhältnismässig umfassende und mo-
REVUE MÉDICALE SUISSE
Finanzierung / Interessenkonflikte
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im
Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Schulz S. Kreuzotterbisse im Oberengadin, eine retrospektive Studie
zwischen 1975 und 2007. Inaugural-Dissertation der medizinischen
Klinik der Universität Zürich.
Esslinger A, Koppenberg J, Marugg D. Weiss wie Schnee… Schweiz
Med Forum. 2012;(16):332–3.
Glisenti P, Mischler K, Egger P, Marugg D. Akute Dyspnoe in St. Moritz.
Schweiz Med Forum. 2009;9(49):898.
Famos M, Fehr P, Winkler C, Marugg D, Hosch H, Fischer R, et al. Verbesserung der chirurgischen Dienstleistung im Peripheriespital durch
Telepathologie. In: Basler Beiträge zur Chirurgie Nr. 6. Basel: Schwabe
& Co. AG; 1994. p. 117–21.
SWISS MEDICAL FORUM
2015;15(17):412– 416