Im Fokus – Publikationsreihe der Mediadesign Hochschule

Im Fokus – Publikationsreihe
der Mediadesign Hochschule
Ausgabe 2015/16
Inhalt
Game Design
78
Nachhaltige Strategien im Modedesign
Prof. Nicole Süß
3
Urinstinkt des Designs
Henning Janssen, M.Sc.
84
8
Mobile augmented-­reality ­games: Entscheidungshilfe in ­Krisensituationen durch mobile,
­situationsbezogene Spiele
Prof. Dr. Roland Klemke
Bauhaus 2.0 ­Moderne ­Gestaltungskonzepte
für Designer
Prof. Iris Eisenkolb
89
13
Google Deep Mind – One (Game) AI to rule them
all?
Prof. Dr. Christoph Minnameier
Autos und Mode – zwei ungewöhnliche Partner
seit vielen Jahrzehnten
Prof. Olga Mitterfellner
94
Hoher Besuch aus China bei der MD.H München
Prof. Olga Mitterfellner
18
Serious Games – Digitale ­Spiele bieten neue
Chancen für ­Unternehmen und Kunden!?
Prof. Dr. Michael Bhatty
Media Design
27
DESIGNER IM H
­ YBRIDRAUM II
Prof. Eduard Mittermaier
31
Schriftwahl – ­ein ­Annäherungsversuch
Prof. Sybille Schmitz
39
Interaktive Räume – Die virtuelle ­Erweiterung
einer bestehenden ­Ausstellung
Prof. Frank Rief
45
Entwickeln von Responsive Web Design –
­Vorschlag für eine ­Vorgehensweise
Peter Spies
Digital Film Design
53
Geheimnis Körpersprache – was ­haben der
Regisseur von „The ­Minions“, Kyle Bald, der
­ehemalige FBI-Agent, Joe ­Navaro und der
­Zauberkünstler und
Entertainer, Thorsten Havener ­gemeinsam?
Prof. Thomas Gronert
58
Denken und nicht ­denken – Warum uns die besten Ideen dann ­kommen, wenn wir es am wenigsten erwarten
Prof. Sacha Bertram
67
THE ANIMATOR: EVOLUTION OR ­EXTINCTION?
Travis Ramsdale
Mode Design
73
SDBI – Eine Stiftung für den ­Nachwuchs der
Mode
Prof. Arnold Gevers
Medien- und
Kommunikationsmanagement
99
Skandale in den ­Medien – ­Strategische und
­ethische Überlegungen der öffentlichen
­Kommunikation für den Journalismus, die Politik
und die Wirtschaft
Prof. Dr. Christian Schicha
123 Hast du mich ­gerade ­Kleines genannt?
Der ­Liebesfilm – Eine ­Annäherung an ein
­unterschätztes Genre
Prof. Dr. Helmar Baum
131­Verhaltensänderung oder doch lieber
­alte ­Gewohnheit?
Karin Sölch
138 Stricken zur Primetime – Das Phänomen Slow TV
aus Norwegen
Prof. Dr. Bert Neumeister
144 Ohne Arme keine ­Kekse! – ­Wertewandel (r)evolutioniert Unternehmens­kultur und M
­ arkenführung
Prof. Carola Anna Elias
156 Steuerliche ­Abzugsfähigkeit von ­Kosten für ein
Studium – ein Überblick
Prof. Dr. Thomas Siegel
161 Memetik: Vom ­Erklärungsmodell zum Viralen Marketing zum I­nternet-Mem
Prof. Dr. J. Martin
166 #ECGBL 2014: ­Bericht von der 8. Europäischen
Konferenz für Game-Based Learning
Prof. Dr. J. Martin
172 Menschenkenntnis für Führungskräfte
Prof. Dr. Thomas Meyer
Im Fokus:
Gamedesign
Urinstinkt des Designs
Henning Janssen, M.Sc.
Dozent Fachbereich Mediadesign
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 4
Urinstinkt des Designers
Virtuelle Welten erfordern die Wiederbelebung der
Illustration als Gestaltungsmittel. Auch wenn diese
hiermit als Bestandteil der modernen Kunst lange noch
nicht rehabilitiert ist, so spielt sie doch seit Jahrzehnten
eine zunehmend wichtige Rolle in Film und Games.
Vergleichbar mit der Industriellen Revolution des neunzehnten Jahrhunderts fordern die digitalen Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte die Menschheit zur Neudefinition ihrer Rolle als Individuum in der Gesellschaft
auf. Nicht nur die rasanten Fortschritte bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz, sondern auch Arbeitshilfen
wie CAD Programme (Computer Aided Design) erzwingen geradezu die Besinnung auf die grundlegenden
Eigenschaften von uns als neueste Variante der Hominiden. Die Welt ist besiedelt, ein neuer virtueller Raum wird
erschlossen und unser Erfindergeist stellt uns mit der
Entwicklung von Robotern vor die Frage, ob wir uns in
Kürze nach etlichen Jahrtausenden nicht selber überflüssig machen. Was macht uns unersetzlich?
Wenn die Frage nach unserem Selbstverständnis
manchem wie eine Ablehnung unserer neuesten Hilfsmittel klingen mag, so würde diese Interpretation ein
Ausweichen vor der unumgänglichen Frage bezüglich
unserer Zukunft und Daseinsberechtigung unterstellen,
ähnlich dem Entfliehen der Realität in die global vernetzte, digitale Unendlichkeit, die uns eine Vielfalt an Unterhaltungsmedien gegenwärtig bietet. Die Vielzahl an
Neuerungen erleichtert Arbeitsprozesse in nahezu allen
Gebieten der Produktion, was die dringliche Frage nach
dem Wert des Menschen auf die Tagesordnung bringt,
doch eben dies lässt uns auch Zeit für Unterhaltung.
Immerhin: Im Vergleich zu technischen Entwicklungen
der vergangenen Jahrhunderte setzen wir unsere neuen
Mittel in einem wesentlich geringeren Maße als zuvor für
aggressive Zwecke ein.
Damit nähern wir uns thematisch bereits einer der Eigenschaften, die digitale Hilfsmittel uns nicht abnehmen
werden: Verantwortung! Der mit Mitteln der digitalen
Medien zunehmende Einfluss der Unterhaltungsbranche Medien geht Hand in Hand mit gesellschaftlicher
Verantwortung, der auch die Designer der digitalen
Film- und Spieleindustrie sich zu stellen haben. Spannungsfelder entstehen zwischen Verrohung und der
Ventilwirkung für Gewaltneigungen, Reduktion von
Vereinsamung und Suchtverhalten.
Die Sucht des Menschen nach Neuem lässt sich ebenfalls nur schwer in künstliche Intelligenzen programmieren, noch weniger die Fähigkeit zu vielfältiger Interpretation. Die schöpferische Rolle des Menschen als Erfinder
und Designer gewinnt hiermit an Wichtigkeit.
Ebenso wenig wie Lernprozesse sich vereinheitlichen
lassen sind Entwurfsprozessen in linearer Weise zu
standardisieren, sondern sind von individueller Programmierung und Sinneswahrnehmungen des Designers
abhängig. So wie Nutzgegenstände sich nicht auf die
Menge des hierbei angewandten Materials reduzieren
lassen, beleuchten unterschiedliche Theorien für die
Entwurfslehre lediglich Ansätze. Diese mögen zweifellos
5 | Im Fokus
Bild 1: Strukturen im Chaos – Megapolis Studie 1
dem das Design entsteht, spielen bis zur Ausfertigung
natürlich weitere Aspekte (Stabilität, Organisation,
Material usw. aber auch Ästhetik) maßgebliche Rollen.
Lassen sich uns die hierfür notwendigen Erfahrungswerte durch digitale Programme abnehmen?
Die Hilfestellung (das „Aided“ in der Abkürzung CAD)
bietet hier wenig Ersatz für die Lehren aus eigener Observation, die sich nach wie vor am tiefsten im Bewusstsein festigen, wenn sie nicht nur mit dem eigenen Auge
durchgründet werden, sondern mit Hilfe des genialen
taktilen Körperteils Hand und Stift notiert werden. Das
genaue Studium unserer Welt in all seinen Facetten und
Teilen, sei es Anatomie, Statik, Textur, Spiel von Licht
und Farben hat keine niedrigere Priorität für die Schöpfer virtueller Welten, seien sie nun real, historisch oder
völlig fiktiv. Auch wenn sich Parameter dieser Welten
von der unseren unterscheiden mögen, bleibt doch ein
kohärentes Zusammenwirken von Umwelteinflüssen und
Schwerkräften notwendig und auch absurdeste Geschöpfe und Formen verlieren ihre Wirkung, wenn dem
Betrachter jegliche Assoziation zu Bekanntem unmöglich gemacht wird.
Bild 2: Interpretation von Formen und Gesichtern in Kacheln
hilfreich sein, doch einen eindeutigen Weg aus dem
kreativen Chaos bieten sie kaum, da, ganz ähnlich der
Stammbäume der Evolutionslehre, Entwurfsprozesse
fortlaufenden Wechselspielen zwischen Variation und
Selektion unterworfen sind. Abhängig vom Gewerbe in
Als sei die Liste der Erfahrungen und Prozesse, die ein
Designer in seine geistige Bibliothek einordnen muss,
nicht bereits lang genug – und ganz sicher ließe sich da
noch Vieles ergänzen - so führt gleichzeitig die Summe
dieser noch lange nicht zu guten Entwürfen, geschweige
denn zu originellen. Man mag Erfahrung haben im Kopieren bekannter Elemente, im besten Falle mit genü-
Im Fokus | 6
gend Variation, um die Inspirationsquelle zu verschleiern.
Neu oder originell macht dies ein Design noch lange
nicht.
Manch angehender Designer vertieft sich in Studien
oder noch tiefere Meditation, doch hilft dies selten, die
meist weiße Leere der Arbeitsfläche zu beleben. Was
immer hilft ist Chaos. Nicht jenes Chaos das häufig verwechselt wird mit Unordnung in Ateliers, jedoch liegt im
Chaos die Wurzel der Neuschöpfungen. Seit den frühen
Tagen der Evolution sind Gehirne programmiert, sowohl
Beute als Gefahren zu erkennen durch Interpretation
einer unübersichtlichen Umgebung.
Es ist das Lesen von Spuren im Chaos das uns den Weg
öffnet zu neuen Entwürfen, ob dies die Schäfchen in den
Schäfchenwolken sind, Strukturen in unregelmäßigen
Texturen in unserer täglichen Umgebung oder ein Gewirr
aus Strich und Linie auf Papier, unser Auge beginnt aus
dem Zufall Muster zu erkennen und Zusammenhänge
zu lesen. Diese Interpretation von nie dagewesenen
Formen zu neuen Kreaturen und Welten ist eine gestalterische Grundeigenschaft des Menschen, die sich auch
durch fortschrittlichste Programme nicht ersetzen lässt.
Henning Janssen
Fachbereich Gamedesign, MD.H München
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Im Fokus:
Gamedesign
Mobile augmented-­reality
­games: Entscheidungshilfe in
­Krisensituationen durch mobile,
­situationsbezogene Spiele
Prof. Dr. Roland Klemke
Dozent Fachbereich Gamedesign
Mediadesign Hochschule Düsseldorf
Im Fokus | 9
Mobile augmented-­reality
­games: Entscheidungshilfe in
Krisen­situationen durch mobile,
­situationsbezogene Spiele
Herkömmliche Lernverfahren sind gut geeignet Wissen,
Verfahren und Fähigkeiten zu vermitteln. Ihnen fehlt
jedoch die Möglichkeit, Lernende realitätsnahe Situationen erfahren zu lassen. Spiele hingegen können Spieler
so fesseln, dass sie sich vollständig in eine Situation
versetzt fühlen und innerhalb dieser Situation agieren.
Nichtsdestotrotz werden Spiele zu Lern- und Trainingszwecken bisher überwiegend ebenfalls für die Vermittlung von Fakten verwendet - dabei vergeuden sie ihr
Potenzial.
Mit der Verfügbarkeit mobiler Internetverbindungen,
mit preiswerten mobilen Geräten, die über hohe
Rechenleistung und umfangreiche Sensorausstattung
verfügen, ist es einfacher als bisher möglich, Spielszenarien mit der aktuellen Umgebung des Spielers zu
verknüpfen: Die Übergänge zwischen Virtual reality und
augmented reality werden fließend. Gleichzeitig steigt sowohl die Zahl als auch die Akzeptanz mobil spielbarer multi-user Spiele dramatisch an
- erfolgreiche Spiele werden von mehreren Millionen
Spielern gespielt.
Diese neuen Technologien auch für Lern- und Trainingszwecke nutzbar zu machen ist das Ziel von Forschungsprojekten, die am Welten Institut, Research Center for
Learning, Teaching and Technology der Open University
der Niederlande zusammen mit Partnern durchgeführt
werden [1].
Entscheidungstraining für
Umstehende im Falle eines
Herzstillstandes
Herzstillstand ist eine der weltweit häufigsten Todesursachen. Umstehende wissen aber oft nicht was zu tun
ist oder trauen sich nicht zu helfen, aus Angst, etwas
Falsches zu tun. Schnelle Hilfe ist aber überlebensnotwendig. Mit einem mobilen Entscheidungsspiel sollen
Menschen in die Rolle von Helfern versetzt werden, um
ihre Hilfsbereitschaft zu erhöhen. Dabei müssen verschiedene Tätigkeiten koordiniert werden: dem Opfer
mit Herzmassage helfen, Hilfe holen, Defilibrator finden
und anwenden.
1 Klemke, R., Ternier, S., Kalz, M., Schmitz, B., Specht, M. (2014). Immersive
Multi-user Decision Training Games with AR-Learn. In Rensing, C., de Freitas,
S., Ley, T., Muñoz-Merino, P. (Eds.), Open Learning and Teaching in Educational
Communities. Proceedings of the 9th European Conference on Technology
Enhanced Learning (EC-TEL), Lecture Notes in Computer Science 8719 (pp.
207-220). Springer International Publishing. http://dx.doi.org/10.1007/9783-319-11200-8_16
10 | Im Fokus
Krisenbewältigung in Entführungsfällen
Störungen komplexer
­logistische Prozesse Das Office des United Nations High Commissioner for
Refugees (UNHCR) führt und koordiniert internationale Maßnahmen zum Schutz von Flüchtlingen und löst
Flüchtlingsprobleme weltweit. UNHCR-Mitarbeiter
arbeiten oft in gefährdeten Bereichen und werden nicht
selten Opfer von Entführungen. UNHCR schult deshalb
regelmäßig seine Mitarbeiter über den Umgang mit
diesen Situationen. Zielsetzung ist dabei, besonnen auf
die Krisensituation zu reagieren, schnell ein Krisenteam
zusammenzustellen und durch die getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen das Leben des Opfers zu
sichern.
Komlexe logistische Prozesse in einem großen internationalen Hafen sind extrem störungsabhängig. Kleine
Störungen können dabei schnell Schneeballeffekte
Auslösung und zu großen wirtschaftlichen Schäden
führen, wenn nicht rechtzeitig und angemessen reagiert
wird. Ein riesiges Hafengelände erfordert dabei den
koordinierten Einsatz mehrerer Personen, um Probleme
schnell und sicher zu lösen. Mit rollenbasierten Spielen
soll Hafenmitarbeitern und Verantwortlichen beigebracht werden, wie wichtig die richtige Kommunikation
gerade in Krisensituationen ist.
Wearable-Device Google-Glass
Allen drei vorgestellten Fällen ist ein Element gemeinsam: Mehrere Personen müssen koordiniert handeln,
um die Krisensituation erfolgreich zu bewältigen. Mobile
Mehrbenutzer-Spiele, die rollenabhängige Spielverläufe
haben können dabei helfen, die Spielteilnehmer in die
entsprechende Situation zu versetzen und die Entscheidungs- und Kommunikationsverläufe zu trainieren, ohne
das Risiko echter Konsequenzen einzugehen. Grundlage für die Umsetzung der drei Trainingsszenarien
als Spiele ist die am Welten Institut entwickelte Open
Source Plattform für mobiles Lernen: ARLearn. [2] Diese
Plattform erlaubt es Autoren, situationsbezogene Lernspiele mithilfe eines Autorensystems zu erstellen und auf
mobile Geräte zu verteilen.
2 http://portal.ou.nl/web/arlearn
Im Fokus | 11
Die Durchführung der Spiele ist dabei jeweils in drei
Spielphasen zerlegt:
a. Einführungsphase: technische Einrichtung und Einführung in das Spielprinzip
b. Spielphase: Hier wird das eigentliche Spiel in Teams
und mit individueller Rollenzuordnung gespielt
Debriefing-Phase: hier werden die ­Spielergebnisse
analysiert und mit erwarteten Ergebnissen verglichen.
Dadurch soll Reflexion ermöglicht werden.
Während Experimente mit Teilnehmern zeigen, dass
diese Art der Spiele positive Effekte für die Teilnehmer darstellen [1] [2] [3], bedeutet der Einsatz der mobilen
Technologie in Kombination mit Tätigkeiten in der realen
Welt, dass Teilnehmer regelmäßig zwischen der Wahrnehmung echter und simulierter Sinneseindrücke und
Kommunikationsverläufen wechseln müssen. Diese
Medienbrüche stellen derzeitig Hindernisse dar. Viel
wird daher vom Einsatz sogenannter Wearables
1 Schmitz, B., Ternier, S., Klemke, R., Kalz, M., & Specht, M. (2013). Designing
a mobile learning game to investigate the impact of role-playing on helping
behavior. In D. Hernández-Leo et al. (Eds.), Scaling up Learning for Sustained
Impact. Proceedings of European Conference on Technology Enhanced
Learning (EC-TEL), LNCS 8095 (pp. 357–370). Berlin Heidelberg, Germany:
Springer-Verlag.
2 Gonsalves, A., Ternier, S., De Vries, F., & Specht, M. (2012). Serious games
at the UNHCR with ARLearn, a toolkit for mobile and virtual reality applications.
In M. Specht, M. Sharples, & J. Multisilta (Eds.), Proc. of 11th World Conference
on Mobile and Con-textual Learning (mLearn 2012) (pp. 244-247). October,
16-18, 2012, Helsinki, Finland.
3 Klemke, R., Kurapati, S., & Kolfschoten, G. (2013, 6 June). Transferring
an educational board game to a multi-user mobile learning game to increase
shared situational awareness. In P. Rooney (Ed.), Proceedings of the 3rd Irish
Symposium on Game Based Learning (pp. 8-9). Dublin, Ireland.
erwartet, die wie Google-Glass [4] als permanent verfügbare Geräte getragen werden, aber nicht mit der Hand
bedient werden müssen.
4 https://www.google.com/glass/start/
Prof. Dr. Roland Klemke
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Im Fokus:
Gamedesign
Google Deep Mind – One (Game)
AI to rule them all?
Prof. Dr. Christoph Minnameier
Dozent Fachbereich Mediadesign
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 14
Google Deep Mind – One (Game)
AI to rule them all?
Für Gamer, Technerds und andere fachlich Interessierte
dürfte es eine alte News sein:
Anfang des Jahres veröffentlichte Google einen Artikel
über die KI (Künstliche Intelligenz) ‘Deep Mind’, die in der
Lage ist, alte Atari Spieleklassiker selbstständig zu erlernen. Wir stellen uns die Frage, inwiefern dieser Ansatz
einer generischen künstlichen Intelligenz dazu geeignet
ist, spezifisch für einzelne Spiele programmierte KIs (und
damit auch die KI-Programmierer) abzulösen.
Die Anfang des Jahres von Google veröffentlichte KI
‘Deep Mind’ ist in der Lage, alte Atari Spiele selbstständig zu erlernen. Als Information dient der KI lediglich ein
Stream des Bildschirms (inklusive Punktestand), als Eingabemöglichkeit steht Deep Mind ein virtueller Joystick
zur Verfügung: Ein Stick also und 2 Buttons. Genau wie
ein menschlicher Spieler kann Deep Mind also einfach
einen Joystick bedienen und verfolgt dabei (ebenso wie
menschliche Spieler) das Ziel, einen möglichst hohen
Punktestand zu erzielen.
Um das allerdings zu erreichen, muss Deep Mind ein
Spiel zuerst erlernen, und dafür muss die KI verstehen,
was auf dem Bildschirm vor sich geht. Hierfür müssen einzelne Objekte identifiziert werden, die auf dem
Screen miteinander interagieren. Für diesen ersten
Schritt, den der Mensch gerne als selbstverständliche Leistung seines Gehirns und noch nicht als echte
‘Denkarbeit’ ansieht, benutzt die KI Algorithmen, wie
z. B. Edge Detection (Kantenerkennung), die auch Robotersysteme verwenden, um Objekte in der echten Welt
zu erkennen. Während Roboter sich dabei u. a. mit Licht
und Schatten und verschiedenen Perspektiven herumschlagen müssen, hat Deep Mind zwar ein von solchen
Faktoren unbeeinflusstes 2D-Bild, aber dafür andere
Probleme, z. B. dass animierte Objekte plötzlich andere
Umrisse haben können, und dass Objekte in machen
Spielen ‘teleportiert’ werden oder sogar ganz verschwinden können.
Sobald diese Basis-Aufgabe gelöst ist, liegt Deep Mind
eine abstrakte Repräsentation der Welt vor, mit der
sie im Gegensatz zum uninterpretierten Pixelhaufen
‘kognitiv arbeiten’ kann. Diese Aufgabe übernimmt ein
neuronales Netz, das im Gegensatz zu herkömmlichen
neuronalen Netzen um eine Speicherkomponente erweitert wurde, weshalb die Erbauer der KI Deep Mind als
neuronale Turing Maschine bezeichnen.
Vergleicht man Deep Mind mit seinem Beinahe-Namensvetter Deep Blue, dem Schachcomputer, der 1996
den amtierenden Schachweltmeister Kasparow bezwang, so ist der gravierendste und wichtigste Unterschied, dass Deep Blue niemals in der Lage sein würde,
etwas anderes zu tun, als Schach zu spielen, weil die KI
speziell dafür programmiert wurde. Das Regelsystem
von Schach ist in ihrem Code verankert, und insbesondere ist sie durch das beschränkte Spielfeld und die
abwechselnden Züge in der Lage, durch Einsatz von viel
Rechenleistung (‘brute force’) sehr weit vorauszuplanen
und so den menschlichen Kontrahenten zu schlagen.
Deep Mind hingegen wurde nicht dafür programmiert,
15 | Im Fokus
Breakout – Eines der Spiele in denen Deep Mind brilliert
ein bestimmtes Atari-Spiel zu spielen, das heißt das
Verständnis der gespielten Spiele findet sich nicht im
KI-Code wieder.
Stattdessen bekommt Deep Mind lediglich zwei Schnittstellen (im Fall der Atari Spiele den Bildschirm als Input
und den Joystick als Output) und wird am Anfang zufällige Aktionen ausführen und dann versuchen, Ausgaben
(also Steuer-Reihenfolgen) zu generieren, für die die Belohnung in Form von Punkten maximal wird. Diese Form
von Intelligenz, in der sich die Maschine selbst beibringt
zu spielen, wird ‘Reinforcement Learning’ (Bestärkendes
Lernen) genannt und das unterscheidet sie von Algorithmen oder Tools, die zwar komplexe Aufgaben lösen,
aber niemals in der Lage sein werden, etwas anderes zu
tun. Weiter oben haben wir gesagt, Deep Mind wurde
nicht dafür programmiert, ein bestimmtes Atari-Spiel zu
spielen. Die präzisere (und bedeutendere) Aussage ist:
Deep Mind ist auch nicht darauf ausgelegt ‘verschiedene Atari-Spiele’ zu spielen.
Tatsächlich könnte die im Prinzip gleiche KI, ausgestattet mit einer Kamera statt einem Bildschirm-Stream und
einem Greifarm statt einem Joystick, lernen, Objekte in
Kisten zu sortieren. Vorausgesetzt, sie kann das lange
genug ausprobieren und bekommt dabei Feedback (in
Form von Punkten) für richtige und falsche Handlungen.
Diese universelle Lernfähigkeit ist das Alleinstellungsmerkmal von Deep Mind.
‘Wird das bald in allen Games eingesetzt werden?’
fragen sich jetzt viele Gamer, oder ‘Werden wir dann in
GTA richtig kluge Bots haben’? Die Frage selbst basiert
wohl auf dem nachvollziehbaren Gedankengang: Wenn
eine KI eigenständig lernen kann, unterliegt sie ja keiner
Beschränkung mehr. Wenn sie lernen kann, Breakout
zu spielen, dann kann sie auch lernen, Call of Duty zu
spielen. Oder vielleicht ja sogar zu sprechen?
Genau das trifft aber nicht zu. Ein Hund kann lernen, einen Stock zu apportieren, aber niemand fragt sich ernsthaft, ob Hunde irgendwann in der Lage sein werden, alle
unsere Aufgaben zu übernehmen. So unterliegt auch die
Lernfähigkeit von Deep Mind starken Einschränkungen.
Das zeigt schon die Auswahl an Atari-Spielen, an denen
Deep Mind bisher getestet wurde.
Alle diese Spiele aus früherer Zeit basieren auf einem
2-dimensionalen Raum in dem einfache physikalische
Gesetze gelten. Damit ist nicht Gravitation gemeint
(die spielt z. B. in Breakout keine Rolle), sondern noch
einfachere Regeln: etwa der Umstand, dass ein Objekt,
das sich momentan an einer Position p im zweidimensionalen Raum befindet und Geschwindigkeit v hat nach
Zeit t (ausreichend klein gewählt) vermutlich nahe bei p
+ t*v sein wird. Ohnehin spielt in diesen Spielen hauptsächlich die Verortung von Objekten im 2-dimensionalen
Raum eine Rolle und Interaktion ist meistens auf Kollision beschränkt (mit Gegnern ist sie zu vermeiden, mit
Bonus-Items wünschenswert). Zugegeben: Im Falle von
Breakout hat auch die zum Zeitpunkt der Kollision rela-
Im Fokus | 16
Montezuma’s Revenge – Trotz relativ geringer Komplexität hat Deep
Mind hier keinen Erfolg mehr
tive Position der Objekte zueinander einen Einfluss auf
die Richtungsänderung des Balls. Trotzdem basieren alle
diese Spiele auf der eher simplen Topologie von Objekten im zweidimensionalen Raum.
Ein wohl noch relevanterer Aspekt ist, dass keines der
Spiele eine längerfristige Planung erfordert (wie es z. B.
bei Schach der Fall ist). Eine lokal optimale Entscheidung für den Moment (Gegner ausweichen/abschießen)
ermöglicht bei diesen Spielen fast immer auch einen
global optimalen Ausgang (Highscore). Der kurzfirstige
Belohnungseffekt (Punkte für einen Kill) ist für Reinforcement Learning sehr relevant und in vielen komplexeren Spielen nicht gegeben.
Ohne also das bahnbrechende Ergebnis kleinzureden:
Die Welt der Atari-Spiele, in denen Deep Mind positive
Ergebnisse erzielt, ist (samt der darin geltenden Regeln)
verhältnismäßig einfach abstrahierbar und Aktion und
Reaktion sind darin sehr unmittelbar verknüpft. Sobald
die benutzten (2D-)Welten auch nur Hindernisse wie
Wände enthalten (wie z. B. bei Pac-Man oder Montezuma’s Revenge) und damit das Wunschziel nicht mehr
‘mittels lokaler Entscheidungen’ zu erreichen ist, sondern ‘globale Überlegungen’ erfordert, stoßen Ansätze
wie Deep Mind an ihre Grenzen. Und das liegt wohlgemerkt nicht daran, dass das Finden des Wegs durch ein
Labyrinth – in Spielen als Pathfinding (Wegsuche)
bezeichnet – eine schwere Aufgabe ist. Denn Pathfinding ist für die meisten Game AIs nur eine Basisfunktionalität, die in den meisten Game Engines bereits integ-
riert verfügbar ist. Trotzdem scheitert Deep Mind daran,
Pac-Man zu meistern. Dass der Computer hingegen den
Menschen bei Breakout und Pinball schlägt, ist (wenn
man die Tatsache, dass er die Spiele selbst erlernt hat,
außer Acht lässt) wenig überraschend: Denn in diesen
Spielen geht es ja vor allem um Präzision und Reaktionsschnelligkeit, zwei Dinge in denen der Computer uns
weit voraus ist.
Ja, Deep Mind ist bahnbrechend, aber sehr weit davon
entfernt, die ‘gute alte KI’, die speziell für ein Computerspiel programmiert wird, abzulösen. Denn die meisten
Spiele erfordern taktisches Verständnis und die Fähigkeit, längerfristig zu planen. Und selbst wenn eine
Zukunfts-Version von Deep Mind doch in der Lage wäre,
komplexere Spiele zu meistern, wäre ein optimal kompetitiver Gegner nicht immer ein guter Gegner im Sinne
des Spielers: Denn niemand möchte gegen Bots spielen, die Headshots austeilen, stets die gleiche Winning
Strategy ausführen, neben ihrer Flagge campen, oder
sogar Exploits verwenden, um den menschlichen Spieler
zu besiegen.
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Gamedesign
Serious Games – Digitale
­Spiele bieten neue Chancen für
­Unternehmen und Kunden!?
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Im Fokus | 19
Serious Games – Digitale
­Spiele bieten neue Chancen für
­Unternehmen und Kunden!?
Eine Welle der Euphorie geht durch Politik, Wirtschaft,
Medien und Kultur. Computerspiele, in der letzten
Dekade eher als ‚Amokmedium‘ in den Medien stigmatisiert, sind offenbar nicht nur ein Kulturgut, sondern auch
ungemein lukrativ: Games sind ein Wirtschaftsfaktor!
Doch sind sie auch mehr, bieten sie uns doch auch die
Möglichkeit, interaktiv zu lernen. Ein Grund mehr, einen
Blick auf die Potenziale der Serious Games zu werfen.
Zunehmend wird festgestellt, dass es eine neue Sparte
gibt, die auf verschiedenen Ebenen gewinnversprechend klingt – die Sparte der Serious Games. Hier
scheint ein lukrativer Markt zu sein, der noch nicht vollständig bedient wird. Grund genug also, diese digitalen
„Lernspiele“ genauer zu betrachten und die Frage zu
stellen: Was bringen diese „Spiele“ für Unternehmen und
ihre Kunden?
Viele Entscheider in Firmen wollen nun entweder partizipierend oder produzierend daran teilhaben, doch ihnen
fehlt die Expertise zum Bereich Games. Diese lässt
sich natürlich durch externe Consultants hereinholen,
wie auch durch externe Produktionsfirmen – und doch
kommt am Ende ein lebloses Produkt heraus, welches
sich nicht verkauft. Oder die HRS-Manager versuchen
sich in einem durch ‚Gamification‘ optimiertes ‚Recruitainment‘ – also die Verbindung aus Recruitment und
Entertainment: Aber wie findet man damit einen neuen
Mitarbeiter für sein Unternehmen, indem man ihn ‚irgendwie‘ spielen lässt? Und schlimmer noch, die Unternehmen verstehen die Menschen, diese sogenannten
‚Entwickler‘ aus der Games-Branche nicht. Da hört man
in Vorstandsgesprächen abfälliges Munkeln wie „Das
sind doch nur die Umsetzer!“, „Pixelschubser“, meist
dicht gefolgt vom „Wer bezahlt, bestimmt!“
Serious Games sind ­keine
Spiele
Werfen wir also zunächst einen Blick darauf, was Games
überhaupt sind, und im speziellen diese ominösen
‚Serious Games‘ – Ernsthafte Spiele? Lernspiele? Oder
Simulationen von ernsthaften (also nicht unterhaltenden)
Themen?
Die meisten Definitionen, die man im Internet findet, sind
nicht ausreichend, oder wahlweise je nach ludologischer
oder narratologischer Lehrmeinung gefärbt. Der Versuch, Serious Games als Neuerung zu definieren, weil
sie Lerninhalte, Story Telling und Gaming miteinander
verbinden, ist leider eher agitatorischer Natur, denn auch
Edutainment-Games haben von je her Inhalte vermittelt,
aus denen man Systematiken und Themen erlernen
kann. Vielmehr ist es die Gewichtung der Lerninhalte, die
einen höheren und authentischeren Anteil haben, also
präziser und wissenschaftlicher recherchiert werden
müssen. Beispielsweise bei einer Schifffahrtssimulation
in Verbindung mit Fluids: Die tatsächlichen physikalisch-chaotischen Eigenschaften von Wasser zu simulieren, gehört auch 2014 noch zu den größten technologischen Herausforderungen, arbeiten wir auch hier noch
20 | Im Fokus
Prof. Dr. Michael Bhatty, Game Design Dozent an der MD.H in Düsseldorf
immer nur mit Näherungsmodellen. Grundsätzlich
müssen wir verstehen, dass Games eine eigenständige
Medienform sind, mit denen sich jedes Thema verwirklichen lässt – und sich dadurch neue Wege ableiten, was
wir wie damit tun können. Plakativ (und agitatorisch)
gesagt: „Games sind keine Spiele!“ (Natürlich sind
Games Spiele, doch wir müssen erkennen, dass sie oft
das Potenzial haben, nicht ‚nur‘ Spiele zu sein).
Political Correctness ist
keine Lösung!
Warum überhaupt die Trennung zwischen Serious
Games und Entertainment Games, vielleicht mit dem
Begriff Edutainment als weiche Form der Lernspiele dazwischen? Ist es der Wunsch nach Political Correctness,
um Begriffe zu vermeiden wie „Shooter“, „Kommerzielle
Games“ oder das „Spielen“ im Sinne des „Spielzeugs“
für Kinder? Oder ist es einfach der Wunsch nach greifbaren Kategorien, der Wunsch nach Schubladen, die es
dem Fachunkundigen erleichtern, komplexe Systeme
durch Analogien und Metaphern zu begreifen? Hierin
liegt jedoch eine Gefahr, denn das Schubladendenken
zerstört die notwendige Offenheit, die es braucht, um zu
sehen, dass die Grenzen fließend sind. Statt gekapselter
„Schubladen“ haben wir hier Schnittmengen und Verläufe der verschiedensten Bereiche.
Betrachten wir hierzu Unterhaltungsspiele wie die Handels- und Aufbausimulationen wie Port Royale (2002).
Hier wird das Warenwirtschaftssystem in der Zeit nach
dem Untergang der ‚Spanish Main‘ thematisiert und das
Aufstreben der anderen europäischen Nationen im 17.
Jahrhundert spielerisch erfahrbar gemacht. Das Szenario dieser Handelssimulation thematisiert keine fiktive
Welt, sondern nutzt unsere eigene Geschichte.
Mit diesem Fakt im Bewusstsein, wird deutlich, dass ein
Fokussieren auf die „Spielmechanik“ allein sehr schädlich für die Art der zu erzählenden (lehrenden) Geschichte ist, denn die Mechanik bildet nur einen strukturellen
und motivierenden Rahmen, der der zu erzählenden
Geschichte dient – nicht umgekehrt. Betrachten wir
Jesse Schells Tetraeder (The Art of Game Design, 2008,
S.42f.), so sehen wir das Mechanik und Story gleichwertig sind, ja, sogar einander bedienen.
Die Spielmechanik beschreibt also lediglich, was der
Spieler wie machen kann, also das konstruierte Regelwerk. Die Gameplay-Erfahrung (wenn wir Gameplay
als die Komposition aus allen Aspekten des komplexen
Games begreifen) vermittelt dagegen, wie der Spieler die
Anwendung der Mechanismen über die Spielzeit erfährt.
Bei einer Handels- und Aufbausimulation Port Royale 2
(2004) wird beispielsweise eine Ressource X in eine
Siedlung eingeführt; je mehr Ressourcen in die Siedlung
kommen, desto schneller wächst diese (der Spieler wird
belohnt, indem er mehr und neue Aktionen ausführen
kann).
Im Fokus | 21
Diese Form der Mechanik ist ein Standard und beim
gegebenen Beispiel (vermeintlich) wertfrei.
Stellen wir uns jetzt aber vor, unsere Aufbausimulation
spielt im 17. Jahrhundert in der Karibik und die Ressource X sind afrikanische Sklaven, die während der Zeit des
Dreieckshandels verschleppt wurden, dann haben wir
ein narratives Konzept, das zugleich eine ideologische
Aussage hat. Wenn wir keine ideologisch fragwürdigen
Bilder aufbauen wollen, ist es somit erforderlich, dass
diese einfache Mechanik inhaltlich erweitert wird, um
die Spielmechanik derart anpassen, dass ethische und
historische Aspekte berücksichtigt werden.
Die historische Recherche bildet hier den Schlüssel:
Farley und Christopher geben in The Black faces beneath black flags (2005) an, dass in der Zeit von 1715
und 1725 schätzungsweise 30% der Sklaven entflohen
sind und sich der Piraterie zugewandt haben.
Diese Information lässt sich auf ein Game abbilden,
indem man das spielmechanische System so erweitert, dass von der Ressource X ein Anteil Y flieht, der
zu Piraten wird, um dann wiederum die Sklavenschiffe
und Siedlungen zu überfallen. Gleichzeitig können die
Schrecken der Zeit ebenso wie historische Fakten durch
andere narrative Mechanismen wie Quest-Dialoge,
Missionsziele und andere zu erfüllende Aufgaben durch
die Interaktion mit den verschiedensten Charakteren
(Nichtspielercharaktere und Gegner), Gegenständen
(Items und Levelelemente) und Szenarien (Spielwelt)
dargestellt werden.
Environmental Story Telling kann hier nicht nur die
Immersion des Spielers fördern, sondern einen echten
Lernzuwachs erzielen, vom tangentialen Lernen des
Interesseweckens bis hin zur Vermittlung von belegbaren Fakten.
In diesem Balanceakt aus Spielmechanik und Story Telling gilt es nun, Charaktere zu schaffen, die greifbar und
nachvollziehbar sind – und gerade hier kranken viele
Computerspiele noch immer in der Form des Geschichtenerzählens. Die Jungschen Archetypen nach Christopher Voglers (The Writer’s Journey, 1992) Interpretation
von Joseph Campbell (A Hero of a Thousand Faces,
1949) bilden dabei die Grundlage, wobei sich der Games-Bereich oftmals mit der emotionalen Betroffenheit
des Spielers schwer tut, wenn der Fokus zu sehr auf dem
„Spielspaß“ im Verständnis von „Spaß und Spaß allein“
liegt. Betrachten wir den Begriff „Spaß“ doch einfach als
Blackbox für die Immersion mit allen Emotionen; Filme,
Theater und Literatur haben uns doch auch die ganze
Bandbreite der Emotionen gelehrt und bisher wagen
sich noch zu wenige Games an die Vermittlung aller
Emotionen heran (dennoch passieren hier Experimente
wie Heavy Rain (2010) oder möglicherweise auch Alien:
Isolation, welches für 2014 erwartet wird und das Spiel
mit Hoffnung und Urängsten wagt.
22 | Im Fokus
Spielerisches Lernen
Doch warum werden noch immer die ideologischen Implikationen in vielen Produktionen nicht beachtet. Oder
sind es gar nicht die Entwickler, die Angst davor haben,
solche Themen umzusetzen, sondern auf ‚Political Correctness‘ beharrende Entscheider aus den Bereichen
Finanzierung, Marketing und Vertrieb? Vielleicht aus
Angst, die definierte Zielgruppe würde ernste Themen
ablehnen, eben weil es „ja nur ein Spiel ist“?
Der Begriff des „Spiels“ verklärt bei der Medienform der
‚Games‘ (ein gleichfalls unglücklicher Name, ist er doch
nur die Übersetzung) die Sichtweise. „Interaktive Erfahrung“, iXP statt UX (User experience) wäre zweifellos
besser, da hier die Begriffe wie „Spielen“, „Spielzeug“
und „Spielspaß“ in den Hintergrund treten. Doch Games
sind in der Tat gut darin, uns etwas Lernen zu lassen
– und das auch noch mit Vergnügen. Die Stärke von
Games ist es, Prozesse und Funktionsweisen dynamisch
abzubilden und interaktiv erfahrbar werden zu lassen.
Bei jedem Game – ganz gleich, ob Serious Games oder
Entertainment Game – setzt sich der Spieler bereitwillig
Herausforderungen aus, lernt im Idealfall systematisch
aus seinen Fehlern und steigert seine Fertigkeiten. Dies
trifft auf ein Casual Game wie Bejeweled (2001) ebenso zu, wie auf einen modernen AAA-Titel wie Crysis 3
(2013) oder sogenannte RTS (real time strategy) wie
StarCraft 2 (2010).
Der menschliche Spieler erkennt Muster im Verhalten,
in Raum und Zeit und adaptiert sein Interaktionsverhalten, um Erfolg zu haben. Ein Grund mehr, warum
die sogenannte ‚Gamification‘, also das Einbinden von
Game-Mechanismen in Non-Game-Szenarien wie dem
alltäglichen Arbeitsablauf durchaus vielversprechend
sein kann – wenn man es richtig macht. Denn auch wenn
wir jedes Thema mit Games umsetzen können – und jedes Thema heißt dann eben auch, dass auch das Leben
und Leiden der Anne Frank interaktiv dargestellt werden
kann, so wie Literatur, Theater, Film und TV es eben auch
tun – müssen wir sensibel mit den Anforderungen des
jeweiligen Szenarios umgehen. Das Thema der Nürnberger Prozesse zeigt man eben nicht mit einem Shooter.
Die Game-Design-Absolventen Verena Steffens und
Gerhard ‚Kira‘ Schmieja haben sich mit diesen Themen
2012 in der Form von produzierbaren Konzepten (Zwischen Bibel und Galgen, 2012) und interaktiv erfahrbaren Prototypen (Anne Frank, 2012) im Rahmen ihrer
Bachelorarbeiten auseinandergesetzt.
Ein schmaler Grad
­zwischen Romantisierung
und Fakten
Junge, gebildete Game Designer sind die neuen Pioniere auf diesem Gebiet. Doch bei jedem Thema gilt es eine
feine Line zwischen Romantisierung und tatsächlichen
Fakten zu beachten. Wir Menschen lernen aus Ge-
Im Fokus | 23
schichten – auch oder gerade aus den interaktiven, bei
denen wir die Konsequenzen unserer Taten zu spüren
bekommen (oder sollten!). Doch wo kommt Folklore
mit ins Spiel? Letztlich überall, wo wir dem Einfluss von
Geschichten ausgesetzt sind. Erzählungen am Kinderbett, als wir das erste Mal von Burgen und Prinzessinnen
gehört haben, von Rittern und Zauberern – und wir eine
‚Moral von der Geschicht‘ erfahren haben.
Wir lernen durch die Bilder, die wir aus Filmen und
Büchern mitgenommen haben, bis wir – manchmal
desillusionierend – eines Besseren belehrt wurden: Zur
Zeit von König Artus gab es eben keine Ritter in vollverchromten Plattenpanzerrüstungen, wie sie in John
Boormans Film Excalibur (1981) schillernd durchs Bild
reiten. Oder auch der wieder und wieder aufbereitete
Freiheitskampf des angelsächsischen Robin Hood gegen die normannischen Besatzer: Wir kennen zahlreiche
Interpretationen des Themas, wissen aus historischen
Abhandlungen, dass es die historische Persönlichkeit in
dieser Form nicht gab, sondern dass sie wohl eher aus
verschiedenen Beschreibungen zusammengesetzt wurde. Reine Fiktion also? Oder steckt eine Lehre darin?
Und was ist mit Indiana Jones, dem Schatzkammern
plündernden Archäologen, der gegen Hitlers Schergen
kämpft (Raiders of the Lost Ark, 1981): Können wir etwas daraus lernen? In der Tat, denn auch wenn die Rahmenhandlung reine Fiktion ist, so entspricht doch die
Ausstattung, die Bauten, Fahrzeuge und die Kleidung
bei Indiana Jones tendenziell denen der Dreißiger Jahre
des letzten Jahrhunderts. Wir erhalten also eine tendenzielle Beschreibung der Epoche, können ihr „Look
and Feel“ von der Zeit des Kalten Krieges der sechziger
Jahre ebenso abgrenzen, wie von der Amerikanisches
Bürgerkrieges. Nein, es ist kein fundiertes Wissen von
Fakten, welches wir erwerben, sondern ein Eindruck,
der den Interessierten dazu bewegt, die tatsächlichen
Fakten einer Zeit zu recherchieren, ein Prozess, den wir
als „Tangential learning“ kennen.
Ein anderes Beispiel: Bei Excalibur lernen wir, dass es im
Mittelalter Burgen und Schwerter gab, aber eben keine
Flugzeuge und Feuerwaffen. Stildefinitionen erzeugen
ein Gefühl für eine Zeitepoche – auch wenn es unpräzise und schwammig sein mag. Trotzdem lernen wir etwas
über das jeweilige Zeitalter. Wir wecken Interesse für
Themen bei unseren Konsumenten, unseren Zuschauern, Lesern und Spielern! Doch hier liegen auch Gefahren drin, denn die Vermittlung von Werten, von Ideen und
subjektiven Ansichten passiert permanent – und nicht
jedes Mal gehen wir damit konform. Die Gefahr ist groß,
denn das, was ein Entwickler produziert und letztlich
an den Kunden verkauft, kann sehr eingeschränkte
Problemlösungsstrategien aufweisen, die eine gänzlich
unerwünschte Konditionierung der Zielgruppe bewirkt.
Wir kennen das Wechselwirkungsprinzip ‚actio et reactio‘, also dass jede Aktion eine Reaktion bewirkt. Wenn
aber beispielsweise Gewaltanwendung als primäre
Problemlösestrategie eingesetzt wird, doch Gräueltaten
konsequenzlos bleiben, weil ‚man dem Spieler ja kein
24 | Im Fokus
Unbehagen bereiten will‘, dann begeben sich Games auf
einen gefährlichen Bereich, denn hier wird nur Wert auf
die Spielmechanik gelegt, um „Spaßmotivationen“ zu
erzeugen. Dies funktioniert nicht jedoch mehr, wenn man
versucht, ‚ernsthafte‘ Themen zu behandeln.
Der Filmbereich ist hier gedanklich weiter. Schindler’s
Liste (1993) ist auch kein Popcornfilm, und doch wollen
wir uns den Erfahrungen, die Spielberg uns präsentiert,
willentlich stellen – eben weil wir unsere Geschichte
nicht vergessen wollen. Und in Saving Private Ryan
(1998) akzeptieren wir auch die Darstellung von immenser Gewalt – eben weil sie mit dramaturgischen Funktionen inszeniert wurde, um die Schrecken des Krieges
darzustellen.
Neue Games für neue Zielgruppen
Doch vielleicht will ein Unternehmen gar kein historisches Szenario für eine interaktive Erfahrung produzieren, sondern herausfinden, wo sich Serious Games noch
einsetzen lassen? Die Antwort ist simpel: Überall!
Zum Beispiel im Kundenservice: Spielerisch lassen sich
die vermeidbaren Situationen, die eskalieren durch eine
Interaktionsschulung der Mitarbeiter vermeiden. Oder
bei der Schulung von Polizei, Notarzt und Feuerwehr?
Gerade die Egoperspektive der in den Medien verhassten Shooter fördern die Hand-Auge-Koordination und
schulen zugleich die Wahrnehmung von Bewegungen
im dreidimensionalen Raum. Stellen wir uns den Polizeieinsatz in dunklen Gassen bei der Verfolgung eines
bewaffneten Verdächtigen vor. Angst ist bei einer echten
Bedrohung ein nicht zu unterschätzender Faktor. Spielerisch lässt sich so beispielsweise erfahren, was die
anderen Kollegen sehen, wie der Pilot im Helikopter, der
seinen Kollegen am Boden über Funk mehr Sicherheit
vermittelt. Und mit den neuen Möglichkeiten der Augmented Reality als Erweiterung unserer eigenen Realität
durch digital eingespielte Informationen, ergeben sich
hierbei gänzlich neue Situationen.
Eine Gefahr in der Produktion ist hierbei jedoch wieder,
dass der Versuch, sich seriös (also nicht „Spiel“-bezogen) zu geben, dazu führen kann, dass man die vermeintlich ‚unseriösen‘ dramaturgischen Effekte weglässt
oder diese falsch eingesetzt werden, weil ein Auftraggeber für „Serious Games“ sich betont von den Entertainment-Games distanzieren möchte.
Warum, müssen wir hier fragen?! Gerade Shooter wie
Crysis beherrschen es auf höchstem Niveau, Emotionen wie Angst und Beklemmung durch den Einsatz der
haptischen und audiovisuellen Interaktion zu erzeugen
und an den Spieler zu vermitteln. Warum also nicht von
den Methoden lernen?
Klare Zieldefinitionen sind natürlich auch hier wichtig. Zunehmend wollen auch games-branchenfremde
Unternehmen in den expandierenden Markt der Games-Entwicklung investieren, jenseits von reinen Fonds,
Im Fokus | 25
um ein eigenes Produkt, eine wertige Marke oder um ein
Intellectual Property aufzubauen.
Die potenziellen Einsatzgebiete für Games sind vielfältig
und neue Zielgruppen mannigfaltig vorhanden: hier die
Politik, für die Serious Games beispielsweise zur Überprüfung von Sinn und Unsinn neuer Konzepte wie der
effizientesten und gesellschaftlich tragbaren Verteilung
von Kindergartenplatzregelungen ausprobiert werden
können, dort Feuerwehr und Polizei, um durch gespielte
Konfliktsimulationen mehr Sicherheit zu erlangen und
um Mechanismen in der Koordinierung zu meistern.
Architekten und Städtebauer könnten Simulationen
einsetzen, um echte Barrierefreiheit für das 21. Jahrhundert zu ermöglichen; die Simulation im 3D-Raum
zeigt schnell auf, wie nicht nur Bordsteinkanten als
unsichtbare Mauern fungieren. Und natürlich lassen sich
Games auch im Schulunterricht einsetzen – zumindest
bei unserer jungen und aufgeschlossenen Lehrerschaft,
die bereits selbst mit den neuen Medien aufgewachsen
ist. Allerdings gehören hier nicht nur adäquatere Ausstattungen dazu, sondern auch von seitens der Game
Designer ein größeres Verständnis über Didaktik, Lehrprozesse an Institutionen und letztlich natürlich auch die
fachliche Kompetenz. Erste Experimente hierzu existieren und funktionieren; Game-Design-Studenten haben
interaktive Räume zu historischen Szenarien erstellt, die
auf die 45-Minuten-Unterrichtseinheit abgestimmt sind
und in nur 10 Minuten Spielzeit erlernbare Ziele erreichbar machen. Wir sehen also, dass die Realisierung dieser
Konzepte möglich ist. Was seit Ende 1969 die TV-Serie
Sesame Street zum Bildungsnachteilsausgleich in den
USA zu leisten versuchte, können heute Serious Games
weltweit leisten, ist doch die heutige Zielgruppe games-sozialisiert.
Und wenn wir unsere Vision nach oben skalieren, sind
auch große Teams in der Forschung möglich, sei es für
Medizin, Schifffahrt, Luft- und Raumfahrt und vielen
anderen Bereichen mehr, wie Krisenmanagement und
Umweltschutz auf globaler Ebene. Letztlich bedeuten
diese neuen Einsatzgebiete für Unternehmen und Kunden, Gesellschaft und Politik: Games – ganz gleich ob
Entertainment oder Serious – verändern unsere Denkweisen im 21. Jahrhundert!
Prof. Dr. Michael Bhatty
Fachbereich Gamedesign, MD.H Düsseldorf
Mediadesign Hochschule
für Design und Informatik GmbH
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Im Fokus:
Media Design
DESIGNER IM
­HYBRIDRAUM II
Prof. Eduard Mittermaier
Dozent Fachbereich Media Design
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 28
DESIGNER IM
­HYBRIDRAUM II
»Ohne dass wir es merken digitalisiert uns das Netz. Wir
lassen uns scannen wie ein Buch und landen als Teil der
Datenwolke unsterblich im digitalen Weltnetzwerk.« [1]
Sebastian Ibler untersuchte in seiner Bachelor-Thesis
seine sozialen und symbolischen Identitäten im virtuell-vernetzten Raum. In einem Doppelbuch mit dem Titel
›Simulakrum‹ stellte er zunächst sein ›ICH (Persona)‹
dem ›ES (Digitaler Fußabdruck)‹, als künstliches Destillat seiner digitalen Entität synchron korrespondierend
gegenüber, um die beiden Pole am Ende in einer Hyperrealität verschmelzen zu lassen, in der zwischen
authentischen und simulierten Ereignissen nicht mehr
unterschieden werden kann.
In umfangreichen Recherche Maßnahmen setzte er sich
mit thematisch korrespondierenden wissenschaftlichen
und literarischen Abhandlungen von Jean Baudrilliard
(Simulationstheorie), Rudi Klausnitzer, Rick Smolan,
Malte Spitz, Erich Fromm, Dara Halinan, Uwe Jean
Heuser, Joe Flower, und Anthony Adams auseinander.
Ein weiteres Augenmerk seiner Recherche galt gegenwärtigen Medienkunst Formen, wie Video-, Interactive
Art, Generative Art und Performance Art. Er erkundete
seine Ich-Struktur, ließ seine DNA vermessen, beobachtete und protokollierte seine Umwelt mit Smart Glasses,
erforschte seinen gegenwärtigen digitalen Fußabdruck
im Netz und entwickelte parallel dazu eine Medieninstallation, in der die Besucher seines ›Fogscreens‹ ihrem
virtuellen Abbild, ihrem ›synthetischem Golem‹ begegneten.
Eine Nebelmaschine in einem ›Black Lab‹ erzeugte eine
unsichtbare (auch durchschreitbare) Projektionsfläche.
Die Bewegungsmuster der Besucher wurden über einen
Kinect-Sensor [2] abgetastet und ausgelesen, die ausgewerteten Infrarotsignale der berechneten 3D-Bilder in
Graustufen umgewandelt, grob gerastert und per Rückprojektion auf eine Nebelwand projiziert. Die abstrahierte Projektionslösung symbolisierte so den unfertigen,
in permanenter Metamorphose befindlichen, digitalen
Footprint.
Hybrid-, Doppelbuch (Altarfalz), Bachelor Thesis Sebastian Ibler,
2015
2 Hardware zur Steuerung einer Interaktion über Körperbewegungen, in der
1 Christian Grasse: Mein Digitales Ich, Metrolit, 2013, S.121
Kombination von Tiefensensor, Farbkamera, 3D-Mikrofon und Software
29 | Im Fokus
Fogscreen-Installation Simulakrum, Bachelor Thesis Sebastian Ibler,
2015
Auf seiner Reise zu seinem erweiterten ›ICH‹ untersuchte Sebastian Ibler Synergien und Disruptionen zunehmend konnektiver Prozesse, in der Fusion von Mensch
und Maschine, von Kreativität und Technologie. In seiner
Arbeit wird der Wunsch nach sozialer und kultureller
Kreativität sichtbar, um mit den Mitteln der visuellen
Kommunikation aufzuklären und auf gesellschaftliche
Problemzonen hinzuweisen.
Im Epilog seines Buches schreibt er: ›Ich begann die
Arbeit mit einer naiven Vorstellung der digitalen Welt.
[…] Natürlich besaß ich eine ungefähre Vorstellung des
Internets, dessen was digital bereits möglich ist, doch
war mir das Ausmaß […] nicht bewusst. Während der Recherche durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle. Ich
taumelte von einer Nachricht zur nächsten, ungläubig,
neugierig, euphorisch, manchmal verängstigt, manchmal
schockiert.‹
Prof. Eduard Mittermaier
Fachbereich Media Design, MD.H München
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Im Fokus:
Media Design
Schriftwahl –
­ein ­Annäherungsversuch
Prof. Sybille Schmitz
Dozentin Fachbereich Media Design
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Im Fokus | 32
Schriftwahl –
ein ­Annäherungsversuch
Die Helvetica ist allgegenwärtig. Sie ist eine der »Überschriften« der letzten sechs Jahrzehnte. Die vermeintliche »Schrift ohne Eigenschaften« findet vielerorts
Anwendung. Das Potpourri diverser Einsatzgebiete
erstreckt sich von Gestaltungs- und Architekturbüros
über Autofirmen, Banken, Filmplakate, Museen bis hin zu
einfachen Handwerksbetrieben. Die Helvetica, die ihren
Siegeszug 1957 von der Schweiz aus zunächst als neue
Hass Grotesk antrat, ist bekanntlich eine gute, brauchbare Schrift. Dies stellte Eduard Hoffmann, der sich
zusammen mit Max Miedinger für die Entwicklung der
Helvetica verantwortlich zeichnet, 1957 erstmals fest:
»Die Schrift wirkt als solche gut«. [1]
Sie hat mittlerweile zahlreiche Nachahmer – die Arial
(Monotype 1982), die Nimbus (URW 1983), die Swiss
(Bitstream 1982) – gefunden und auch einige Neuauflagen wie etwa in der Neuen Helvetica (Linotype 1983)
erlebt.
Abb. 1: Eduard Hoffmanns Protokollheft (1956–1965)
Eines der wichtigsten Zeugnisse der Enstehung der Helvetica
1 Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever. Geschichte einer
Schrift. Seite 31. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz
Abb. 2: Schriften, die sich an der Helvetica orientieren.
33 | Im Fokus
Die Helvetica, zweifellos zeitlos schön, setzt Grafikarbeiten von Gunter Rambow, Wolfgang Schmidt und Josef
Müller-Brockmann trefflich ins rechte Licht, im Umfeld
hoher Literatur jedoch oder auch auf einer Kondolenzkarte mag sie Manchem zu profan wirken.
»Wiederum begegnen wir hier dem Phänomen, dass
Schriften – unabhängig von ihrer optischen Lesbarkeit –
durch ihre Formsprache beim Leser bestimmte Gefühle
auslösen und positiv oder negativ wirken können. [2]
Jost Hochuli, Schweizer Buchgestalter und Typograf
spielt dabei auf eine weitere wichtige Funktion jeder
Schriftart an, nämlich den Inhalt allein durch ihre spezielle Ausformung zu interpretieren. Schrift vermittelt Atmosphäre. Es ist also nicht egal wer – soll heißen: welche
Schrift – etwas sagt.
Für einen Laien mag dies zunächst schwer vorstellbar erscheinen. Einem Bild oder einem Gemälde wird
niemand einen gewissen Deutungsrahmen absprechen wollen. Dem typografischen Material, lediglich 26
Zeichen, die es in großer und kleiner Ausformung gibt,
komplettiert mit diakritischen Zeichen, Punkturen und
Ziffern, werden dies hingegen nur Wenige zugestehen.
Woran liegt es, dass der Schrift, ihrer Auswahl und
Anwendung heutzutage so wenig Bedeutung beigemessen wird? Liegt es an den vergleichsweise zahlreichen
Ausformungen einer Schriftklasse, den vielen kaum
mehr einzuordnenden Namen und Varianten tausender
Schriften, dass die Orientierung fehlt? Oder ist Schrift
einfach überholt in einer schnelllebigen, hochtechnisierten, sprachgesteuerten Welt im Stile von Apples Siri?
Sicher nicht. »Des Daseins eigentlichen Anfang macht
Abb. 3: Josef Müller-Brockmann (1970): Plakatgestaltung »musica
viva« für die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft
2 Hochuli, Jost (2011): Das Detail in der Typografie.
Seite 38. Niggli Verlag,Sulgen, Schweiz
Im Fokus | 34
Abb. 4: DB Sans (2005), Eric Spiekermann, Christian Schwartz
Abb. 5: Lenbach Grotesk (2013), Jakob Runge
die Schrift« [3] sagte schon Heraklit und meinte damit den
Beginn der Gesellschaftsysteme, der eng an die Fähigkeit des Schreibens gebunden war.
Schriftsysteme haben sich über Jahrhunderte entwickelt. Sie sind wichtigtes Kulturgut – Ausdruck von Stil
und Zeitgeist.
So darf es uns auch nicht verwundern, dass in einer
offenen, vielschichtigen Gesellschaft auch viele unterschiedliche Schrifttypen vorhanden sind.
Schrift ist heute mehr denn je visuelles Transportmittel.
Viele namhafte Firmen geben eigene, exklusiv auf ihre
Bedürfnisse zugeschnittene Schriften in Auftrag. Um
einige Beispiele zu nennen: Die Deutsche Bahn gab
2005 die Helvetica zugunsten der DB Sans von Eric
Spiekermann und Christian Schwartz (http://www.edenspiekermann.com) auf. Das Lenbachhaus in München
verfügt über die Lenbach Grotesk (Jakob Runge 2013),
eine museal anmutende Sans Serif. Die Süddeutsche
Zeitung implementierte 2012 die SZ-Schriften (Henning
Skibbe und Nils Thomsen) und sieht sich mit diesen, auf
optische Traditionen der Zeitung aufbauenden Schriftformen, endlich im 21. Jahrhundert angekommen.
3 Heraklit, aus Kapr, Albert (1971): Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und
Schönheit der Lateinischen Buchstaben. Seite 13. K. G. Saur. München –
New York – London – Paris
Abb. 6: Vergleich der Excelsior mit der SZ-Text (2012), Henning
Skibbe und Nils Thomsen
Unabhängig von den Interessen großer Firmen gibt es
auch für den normalen Anwender die Schrift für jede
Tonart. Und so gibt es eben heute beispielsweise eine
Archer als kaltwarme Neuinterpretation einer Slabserif,
eine elitäre Narziss, eine urbane Gotham, eine einladende Genath sowie eine krakelige CC Wildwords. Egal
welche der vielen Schriften wir anwenden, eines muss
unbestritten bleiben: Schrift interpretiert den Text, gibt
ihm Glaubwürdigkeit oder macht ihn fragwürdig – und
dies bereits unabhängig von der gewählten Satzart. »Tut
sie dies falsch, so stimmt das, was ausgesagt wird, nicht
mit dem überein, wer es sagt. « [4]
Der Frage, wie man eine Schrift ihrer Haltung entspre­
chend inszenieren kann, spürten die Media Design
Studierenden der MD1012 und MD1013 gleichermaßen nach.
4 Angelehnt an Luidl, Philipp (1996): Basiswissen Typografie. Seite 37 ff,
Deutscher Drucker.
35 | Im Fokus
Abb. 8: Schaukasten zur Schrift Trump Mediäval
Abb. 9: Schaukasten zur Schrift Trump Mediäval
Abb. 7: Schaukasten zur Schrift Gotham
Ivan Babic, Daniel Krategl und Alex Reinicke inszenierten die Schrift Gotham, in ihrem ursprünglichen, urbanen
Stil amerikanischer Großstädte. Die Gotham, die Tobias
Frere Jones 2000 zunächst exklusiv für das Männermagazin GQ entwarf, orientiert sich an der Gestaltung
amerikanischer Schildermalerei. 2008 wurde sie durch
die Kampagne im Rahmen der Präsidentschaftswahl von
Barack Obama weltbekannt.
Die Trump Mediäval lädt den Leser mit wohltemperierter,
einnehmender Stimme ein – charaktervoll, gleichwohl
charmant, ohne dabei aufdringlich zu werden. Natalie
Kennepohl, Hanna Rasper, Laura Ostermaier und Sonja
Schröder (MD1012) inszenieren die Schrift gekonnt in
ihrem Schaukasten: Zurückhaltende Gestaltung, ein
Typoteppich in klarem eleganten weiß, kombiniert mit
dem für Trumps Schrift so signifikanten et-Zeichen, das
in ihrer Arbeit dimensional in einladendem Gelb hervortritt.
Im Fokus | 36
Abb. 11: Fotokonzept, Buchinszenierung der Schriftanalyse der
Palatino
Abb. 13: Fotokonzept für die Schriftanalyse der CC Wildwords
Die Melior ist eine statische Antiqua, die ebenso wie
die dynamische Palatino der Feder von Hermann Zapf
entsprungen ist. Besser will sie sein, darauf weist schon
ihr Name hin. Und das vor Allem beim Mengentext im
Zeitungssatz. Sie bietet klare Lesbarkeit, ohne dabei
arrogant zu sein. Nun ziert sie sogar das Erscheinungsbild des deutschen Bundestages – vornehm elegant wie
die Gestaltung der Studentinnen – mit reflektierendem
Spiegel.
Abb. 10: Fotokonzept, Schrift Futura
Klar und schnörkellos sind die Grundklänge der Futura
– die Schrift selbst eine konstruierte Grotesk, die seit
90 Jahren nichts von ihrer Beliebtheit eingebüßt hat.
Sie kommt ohne Umschweife auf den Punkt. In einem
funktionalen Zweckbau mittels Projektion sehen Sophie
Schillo, Jenifer Lutz und Julian Schöll (MD1013) den
Geist der Schrift treffend gespiegelt.
Eine dynamische Schrift für viele Einsatzzwecke, zeitlos
modern und doch traditionsverbunden, mild, unaufdringlich und angenehm, das ist die Palatino. Für viele Anwendungsbereiche nutzbar – in Bewegung. Feyza Demirören, Paulina Meider, Veronika Disl, Sara Markieton und
Stefanie Dehler wählten die Langzeitbelichtung eines
Wendebuches zur Charakterisierung ihrer Schrift.
Abb. 12: Fotokonzept für die Schrift Melior Natalie Krönauer,
Joelle Lenz, Julia Nitzsche
Dass man einem Laien keine Comic-Schrift normal
erklären kann, ist das Credo von Max und Felix Kaiser
(MD1013). Der eigens entwickelte »kleine Comic-Kaiser« rückt die auf Anforderungen des Letterings ausgerichtete Schrift ins rechte Licht. Er zeigt und verdeutlicht
Wirkmechanismen. Lebendig, manchmal auch unakkurat. Charmant, im Comicstil. Schlichtweg passend.
37 | Im Fokus
Bildquellen:
Abb. 1: Eduard Hoffmanns Protokollheft (1956–1965)
Eines der wichtigsten zeugnisse der Enstehung der
Helvetica. Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica
Forever. ­Geschichte einer Schrift. Seite 71. Lars Müller
Publishers, Baden, Schweiz
Abb. 2: Schriften, die sich an der Helvetica orientieren
Malsy, Viktor; Müller, Lars (2008): Helvetica Forever.
­Geschichte einer Schrift. Seite 124. Lars Müller Publishers, Baden, Schweiz
Abb. 3: Josef Müller-Brockmann (1970): Plakatgestaltung »­ musica viva« für die Zürcher Tonhalle-Gesellschaft
http://www.modern-theory.com/directories/­mullerbrockmann-josef/ Zugriff am 15. 10. 2014
Abb. 4: DB-Sans, 2005
http://www.edenspiekermann.com/projects/deutsche-bahn/ Zugriff am 7. 10. 2014
Abb. 5: Lenbach Grotesk, 2013
http://jakob-runge.de/typedesign/lenbach-grotesk/
Zugriff am 7. 10. 2014,
Abb. 6: Vergleich der Excelsior mit der SZ-Text
(2012),Henning Skibbe und Nils Thomsen
http://www.fontshop.de/fontblog/suddeutsche-mit-neuer-typografie/ Zugriff am 7. 10. 2014
Abb. 7: Schaukasten zur Schrift Gotham (MD1012), Ivan
Babic, Daniel Krategl, Alex Reinicke
Foto: Lars Reiners
Abb. 8, 9: Schaukasten für die Schrift Trump Mediäval
(MD1012), Natalie Kennepohl, Hanna Rasper, Laura
Ostermaier und Sonja Schröder
Fotos: Lars Reiners
Abb. 10: Fotokonzept für die Schrift Futura (MD1013),
Sophie Schillo, Jenifer Lutz und Julian Schöll
Abb. 11: Fotokonzept für die Schrift Palatino
(MD1013),Feyza Demirören, Paulina Meider, Veronika
Disl, Sara Markieton und Stefanie Dehler
Abb. 12: Fotokonzept für die Schrift Melior
(MD1013),Natalie Krönauer, Joelle Lenz, Julia Nitzsche
Abb. 13: Fotokonzept für die Schrift CC Wildwords
Max und Felix Kaiser (MD1013)
Prof. Sybille Schmitz
Fachbereich Media Design, MD.H München
Mediadesign Hochschule
für Design und Informatik GmbH
Private Hochschule
staatlich anerkannt
Lindenstraße 20 – 25
10969 Berlin
Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15
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Interaktive Räume –
Die virtuelle ­Erweiterung
einer bestehenden
­Ausstellung
Prof. Frank Rief
Dozent Fachbereich Media Design
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Im Fokus | 40
Interaktive Räume – Die ­virtuelle
Erweiterung einer bestehenden
Ausstellung
»Das Architekturmuseum Pinakothek der Moderne zeigte 2011/12 die vielbesprochene Ausstellung “Bauen
mit Holz – Wege in die Zukunft”. Aufgrund der hohen
Resonanz wurde die Ausstellung anschließend in ein
kompaktes mobiles Format adaptiert. Seitdem gastiert
sie als Wanderausstellung in ganz Deutschland. Präsentationsraum ist ein Holzcontainer von 3×12 Metern. Im
Laufe der Zeit entstand die Idee, die mobile Ausstellung
durch virtuelle Inhalte und Technologien zu erweitern
und somit zusätzliche Informationsebenen zu schaffen.
Vier Studenten der MD.H München nahmen sich dieses
Themas an.
Ressourcen und die Beachtung ökologischer Grundsätze hat auch im Bauwesen ein neues Denken herbeigeführt. [1]
In der Wanderausstellung „schauholz“ wird ein Destillat
der ursprünglichen Ausstellung präsentiert – unter anderem besondere Holzbauprojekte sowie Informationen,
Grafiken und Bilder zum regenerativen Rohstoff Holz.
PROJEKT­ENTWICKLUNG
Durch die begrenzte Fläche des „schauholz“-Containers
können die Inhalte nicht mehr in der Informationsdichte
wie in der Pinakothek der Moderne präsentiert werden.
Deshalb wurde versucht, bestimmte Sachverhalte über
interaktive, animierte und kontextsensitive Medien und
Technologien besser, einfacher und umfangreicher zu
vermitteln.
Die Studenten Fabian Gross, Jochen Klaus, Thu Nga
Nguyen und Bianca Ramljak entwickelten auf dieser
Grundlage vier verschiedene Ansätze.
Abb. 1: Wanderausstellung “schauholz”
HINTERGRUND
Die Ausstellung „Bauen mit Holz – Wege in die Zukunft“
widmete sich der wachsenden Bedeutung von Holz als
Baumaterial. Das sich seit den 1970er Jahren entwickelnde globale Bewusstsein für eine Schonung der
Augmented Reality
Die Besucher der Ausstellung können durch bereitgestellte Tablets zusätzliche Inhalte abrufen. Maßgebend
hierfür ist die nahtlose Verzahnung von statischen und
1 www.proholz-bayern.de/wege-in-die-zukunft.html
Zitat aus dem Buch: Bauen mit Holz – Wege in die Zukunft: Hermann Kaufmann, Fachgebiet Holzbau, TU München und Winfried Nerdinger, Architekturmuseum der TU München
41 | Im Fokus
virtuellen Inhalten. Um dies zu ermöglichen, wird die
sogenannte „Augmented Reality“-Technologie (AR) verwendet – die Realitätswahrnehmung wird computergestützt erweitert. Hält man zum Beispiel das Tablet über
einen Architekturplan, so entspringt dem Plan auf dem
Tablet eine dreidimensionale Ansicht des Gebäudes. Der
Betrachter kann sich mit dem Tablet um das Gebäude
herum bewegen und sogar hineinzoomen. Dadurch ist
es möglich, die ausgestellten Objekte plastisch, realitätsnah und emotional zu erfassen. Außerdem lassen
sich statische Wandgrafiken animieren und erweitern.
Letztendlich können die vorhandenen Inhalte durch die
AR-Erweiterung beliebig ausgebaut und komplexer
dargestellt werden.
Dynamische Infografik
Abb. 2: Montage – Einsatz von Augmented Reality im schauholz
Abb. 3: Monatege – dynamische Infografik vor dem schauholz (links),
Die drei Themenkomplexe „Holzvorkommen“, „Holzverwertung“ und „CO2-Bindung“ werden anhand der dynamischen Infografik verständlich in Relation zueinander
gesetzt. Durch den kombinierten Einsatz von Bild, Text
und Animation kann der Besucher die Inhalte leicht und
anschaulich erfassen.
Dies wird durch einen „Live-Ticker“ noch zusätzlich
vereinfacht: In Echtzeit sieht und erlebt der Betrachter
zum Beispiel, wie viel Holz aktuell nachwächst, welches
Volumen an CO2-Emission alleine durch den nachwachsenden Wald gebunden wird oder in welchem Zeitraum
das Holz für ein Einfamilienhaus wächst.
grafische Studie zur Animation und Darstellung (rechts)
Im Fokus | 42
Abb. 5: Screenshots interaktiver Holzkreislauf
App „stadtHolz“
Interaktiver Holzkreislauf
Die Anwendung „stadtHolz“ präsentiert herausragende und nachhaltige Holzbauobjekte im urbanen Raum.
Dem User werden diese Objekte in einem bestimmten
Umkreis zu seinem Standort angezeigt. Informationen
und Daten können direkt abgerufen werden. Mittels GPS
wird eine Route angezeigt.
Eine Animation stellt die komplexen Zusammenhänge
des Holzkreislaufs dar. Kernelemente sind die Forstwirtschaft, die Holzernte, der stoffliche und energetische
Nutzen von Holz sowie die Wiederverwertung und Rückführung. Dabei wird einerseits die sehr gute Ökobilanz
von Holz als CO2-Speicher und Substitutionsbaustoff
beleuchtet, andererseits die wichtige Rolle von Forstwirtschaft und Holzverwendung bei der Schaffung und
Erhaltung von Arbeitsplätzen gezeigt.
Am Objekt selbst werden durch Augmented Reality
weitere Inhalte dargestellt. Somit erhält das Objekt eine
virtuelle Informationsebene – Zusammenhänge werden
aktuell und transparent vermittelt. Die Idee hinter der
App war, die Umgebung und die Exponate live in das
Ausstellungskonzept einzubeziehen.
Die einzelnen Stationen sind durch animierte Illustrationen und Piktogramme dargestellt. Der sukzessive
Aufbau erklärt Schritt für Schritt die Zusammenhänge
und die Bedeutung des Kreislaufs. Durch Touch-Interaktion lassen sich weitere Informationen abrufen oder
einzelne Passagen wiederholen.
FAZIT
Abb. 4: Screenshorts App “stadtHolz” (links: Kartenansicht, rechts:
Augmented Reality)
Die Arbeit zeigt in vielerlei Hinsicht gute Möglichkeiten,
den realen Raum durch virtuelle Inhalte zu erweitern.
Dadurch eröffnen sich innovative Wege der Präsentation und Vermittlung von Wissen. Der Einsatz der beschriebenen Medien und Technologien erhöht zudem
die Qualität des Erlebens und der Wahrnehmung der
Ausstellungsinhalte (Steigerung der User Experience).
Die verschiedenen Ideen zeigen vielschichtige Ansätze,
wie der moderne Mediadesigner durch neue Werkzeuge
und Mittel unser Umfeld informativer, erlebnisreicher
und transparenter gestaltet.
43 | Im Fokus
Bildnachweis:
Abb 1: www.proholz-bayern.de/nachlese.html
Abb. 2-5: Studienarbeit „Interactive Environments“,
MD.H München, F. Gross, J. Klaus, T. N. Nguyen und B.
Ramljak
Prof. Frank Rief
Fachbereich Media Design, MD.H München
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Media Design
Entwickeln von Responsive
Web Design – ­Vorschlag für
eine ­Vorgehensweise
Peter Spies
Dozent Fachbereich Media Design
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Im Fokus | 46
Entwickeln von Responsive
Web Design – ­Vorschlag für
eine ­Vorgehensweise
Dieser Artikel ­wendet sich
an P
­ ersonen, die i­mmerhin
HTML- von CSS-Code unterscheiden können. Also
fast an alle.
Hier sollen möglichst allgemeingültige Methoden gezeigt werden, aber nicht ein bestimmtes Layout oder ein
bestimmter Gestaltungsvorschlag. Da andererseits theoretische Überlegungen nur an praktischen Besipielen
aussagekräftig dargestellt werden können, muss doch
ein konkretes Layout verwendet werden. Damit es sich
nicht in den Vordergrund drängt, ist es bewusst schlicht
gehalten.
Anders gesagt: Es geht hier nicht um das Aussehen der
einzelnen Elemente der Testseite, sondern um die Art,
wie sie sich zueinander verhalten.
Ein aktueller Leitsatz beim Entwickeln von Responsive
Web Design lautet ‘mobile first’!
Wir richten also zunächst das Aussehen der Webseite
ein für das Display eines hochkant gehaltenen Smartphones (orientation: portrait).
Aber was bedeutet das? Selbst eine oberflächliche
Recherche zeigt uns: Es gibt eine Vielzahl von Displaygrößen, egal ob in Millimeter, Zoll oder Pixel angegeben.
Dieselbe Recherche verrät uns auch: Die jeweils verwendeten Bildpunkte liegen bei verschiedenen Geräten unterschiedlich dicht gepackt, und das heißt, sind
unterschiedlich groß.
Deswegen verwenden führende Hersteller von Betriebssystemen für Smartphones unterschiedliche Umrechnungsfaktoren von (aus dem Ursprungsmaterial) vorgegebenen Bildpunkten zu den tatsächlichen Punkten
des verwendeten Schirms. Aus all dem ergibt sich die
Folgerung: Hier sind Angaben in px fehl am Platz!
Vorgegeben waren für eine Prüfung der IHK:
•
•
•
ein Logo mit einem bestimmten Seitenverhältnis
ein Menü mit fünf Hauptpunkten für die Navigation
die Anweisung, dass eine Sprachauswahl für die
Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch von Anfang an sichtbar integriert werden sollte
• ferner Texte und Fotos
Drei Layouts für vorgegebene Bildschirmgrößen sollten
entwickelt werden. (Ein wenig realistischer Ansatz, aber
davon später.)
Welche Maßeinheit nehmen wir dann?
Uns bleiben Prozentangaben (fürs Grobe) und für die
Feinheiten die M-Einheit (em). Sie bezieht sich auf den
Platzbedarf des Großbuchstabens M der im jeweiligen
Browser verwendeten Schrift und Schriftgröße. Das
befreit uns vom Zwang, tatsächliche Größen Dutzender
von Displays und Browsern, die wir nicht kennen können,
‘erraten’ zu müssen.
47 | Im Fokus
Außerdem verwenden wir:
<meta name=”viewport” content=”width=device-width, initial-scale=1.0”>
Damit gewöhnen wir Smartphone-Browsern ab, ‘vorsorglich’ unsere Webseite auf ihr Lieblingsformat zu
skalieren.
Was wollen wir erreichen?
Es muss zu schaffen sein, vier Links für die Sprachauswahl nebeneinander anzubieten.
Von der Sprachauswahl sind die restlichen Inhalte
abhängig. Folglich gehört die Sprachauswahl auch ganz
nach oben. Lediglich das Logo hätte da ‘ein Wörtchen
mitzureden’. Aber ein gutes Logo macht auf sich selbst
aufmerksam, kann also den Platz an der Spitze großzügig abgeben.
Da es als hochkant stehendes Rechteck vorgegeben war, bietet sich an, die Einträge des Hauptmenüs
senkrecht untereinander daneben zu stellen. Der Rest
(einspaltig natürlich) mag darunter folgen.
So sieht das aus (screenshot eines Smartphonedisplay-Simulators):
Im Fokus | 48
Und so ist es gecodet - in HTML5:
(Das Logo ist als Link zur Startseite ins Menü integriert.)
<div id=“rahmen“>
<nav>
<ul id=“sprach“>
<li><a href=“#“>deutsch</a></li>
<li><a href=“#“>english</a></li>
<li><a href=“#“>fran&ccedil;ais</a></li>
<li><a href=“#“>espa&ntilde;ol</a></li>
</ul>
<ul>
<li id=“logo“><a href=“index.html“><img
src=“logo_f_kl.gif“
alt=“Logo der Firma“></a></li>
<li><a href=“#“>Touren</a></li>
<li><a href=“#“>Buchen</a></li>
<li id=“lang“><a href=“#“>Wissenswertes</
a></li>
<li><a href=“#“>Kontakt</a></li>
<li><a href=“#“>Impressum</a></li>
</ul>
</nav>
und in CSS3:
*
{ margin: 0; padding: 0; }
#rahmen { width: 97.5%; margin: .0625em auto;
padding: .125em; background: #565656; border-radius: .25em; }
nav
auto; }
{ width: 100%; max-width: 34em; margin: 0
nav ul
{ list-style: none; }
nav #sprach { height: 1.125em; width: 100%; maxwidth: 28em; margin: 0 0 0 auto; padding-top: .25em;
background: #999; }
nav li
{ float: left; width: 7em; margin: .25em 0 0;
margin-right: 1em; }
nav #sprach li { width: 25%; margin: 0; margin-top:
-.25em; text-align: center; }
#logo
}
{ width: 6em; margin: 0; margin-right: 1em;
#lang
{ width: 9em; }
nav a
{ text-decoration: none; font-weight: bold;
font-size: 1.125em; color: rgb(97%, 97%, 97%); }
nav #sprach a { font-size: .875em; }
#logo a
{ font-size: .001em; line-height: 1%; }
49 | Im Fokus
Diese Raumaufteilung funktioniert (im echten Gerät
getestet, nicht im Simulator) ab einer Displaybreite von
320 dargestellten Punkten.
(In der Titel-Leiste und -Lasche des Browsers erkennen
wir die Außen- und Innenabmessungen des Browserfensters.)
Haben wir mehr Platz, rücken die vier Sprachlinks einfach immer weiter auseinander. Am Hauptmenü ändert
sich zunächst nichts – und irgendwann sieht es ‘verloren’ aus, wenn es weiterhin an seinem Logo klebt.
Wenn wir die Eigenheit der deutschen Sprache, sehr unterschiedlich lange Wörter (Element #lang) zu enthalten,
schon nicht ändern können, sollten wie sie uns zunutzemachen. In den anderen Sprachversionen empfiehlt sich
daher vielleicht eine andere Anordnung.
In einer ersten ‘Ausbaustufe’ könnten wir die Einträge
des Hauptmenüs anordnen, wie folgt:
In den CSS-Code ist nach der Zeile mit #lang { width:
9em; } einzufügen:
@media screen and (min-width: 24em) {
nav li { width: 8em; }
#lang
{ width: 14em; }
}
Irgendwann wirkt auch das seltsam und wir können
übergehen zu der Form, wie sie unser erstes Display
auch hätten zeigen können, hätten wir es waagrecht
gehalten (orientation: landscape):
Im Fokus | 50
Nach der Zeile für nav a … sind nun folgende Zeilen
einzufügen:
@media screen and (min-width: 32em) {
nav li { width: 11%; margin-right: 1.5%; }
#lang { width: 21%; }
#logo { margin-right: .5em; }
nav a { font-size: .9375em; }
}
wachsender Monitorgröße immer mehr auftut, nützen
wir, um von einspaltiger zu zweispaltiger zu dreispaltiger
Darstellung überzugehen und gegebenenfalls auch die
Spalten zu verbreitern, aber nur soweit die Zeilen darin
lesbar bleiben.
Was manchen Lesern vielleicht beim ersten Einschub schon aufgefallen ist: Auch für die Abfrage an
das darstellende Gerät (media query), wie breit (z. B.)
sein Bildschirm sei, an den sogenannten break points,
verwenden wir die em-Einheit und nicht etwa Pixel. Wer
sagt uns denn, dass Displaygrößen, die sich nun einmal
in Pixeln bemessen, der einzige begrenzende Faktor der
Darstellungsbreite sei?
Was, wenn ein nicht mehr so gut Sehender mit den Möglichkeiten seines Browsers die Schrift generell vergrößert – und alles Andere wahrscheinlich auch?
Haben wir unsere Abfrage in em gestellt, wird unser
Layout auch darauf reagieren.
Weniger oder anzeigbare M-Einheiten: ‘schmaleres’
Layout!
Hat unser Menüsystem seine optimale Breite erreicht,
lassen wir es nicht weiter anwachsen. Wir sorgen nur
dafür, dass es immer schön in der Mitte bleibt. Das
stört niemand. Den weiten Raum darunter, der sich mit
Alles schön und gut. Aber was für Layouts entwerfen wir
also? Wonach richten wir uns?
Wir entwerfen Raumaufteilungen – nicht nach einer
festen Bildschirmbreite, sondern nach unseren Vorstellungen für ein zugehöriges Platzangebot: Einspaltig sehr
51 | Im Fokus
schmal, einspaltig breiter (eventuell), einspaltig optimal,
zweispaltig optimal, dreispaltig optimal.
Und wie finden wir die break points?
Nicht nach bestimmten uns bekannten Monitorgrößen
jedenfalls. Sondern wir nehmen die Umsetzung in Code
einer optimalen Raumaufteilung und quetschen sie
zusammen, indem wir das Browserfenster schmaler ziehen. Irgendwann ‘bricht’ unser geplantes Layout ‘unter
diesem Druck zusammen’.
Die Breite, die der Schirm dann hatte, halten wir fest.
Den break point, der aus dem schmaleren Layout das
breitere macht (Nicht vergessen: der endgültige Code
beginnt mit dem Normalen, Schmalen!), setzen wir dann
mit ausreichendem Sicherheitsabstand in den Raum hinein, von dem wir wissen, dass er für unsere großzügigere
Raumaufteilung ausreicht. Und eben nach Möglichkeit
gar nicht ‘in die Nähe’ bekannter Bildschirmgrößen (800,
1024, 1280 usw.). Selbst dann nicht, wenn wir Pixel
verwenden wollten! Aber wir nehmen ja ohnehin em.
Und damit das am Ende des Artikels nicht etwa in Vergessenheit gerate:
Hier sollten Methoden gezeigt werden und nicht eine
bestimmte Gestaltung. Es ging hier nicht um das Aussehen der Testseite, sondern um die Art, wie sich deren
Elemente zueinander verhalten können und wie das im
Code veranlasst wird.
Peter Spies
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Digital Film
Design –
Animation/VFX
Geheimnis Körpersprache –
was h
­ aben der Regisseur von
„The ­Minions“, Kyle Bald, der
­ehemalige FBI-Agent, Joe ­Navaro
und der Z
­ auberkünstler und
Entertainer, Thorsten Havener
­gemeinsam?
Prof. Thomas Gronert
Dozent Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 54
Geheimnis Körpersprache – was
­haben der Regisseur von „The
­Minions“, Kyle Bald, der ­ehemalige
FBI-Agent, Joe Navaro und der
­Zauberkünstler und Entertainer,
Thorsten Havener gemeinsam?
Seit dem Erfolg der TV-Serie „Lie to me“ oder dem Buch
„Ohne Worte. Was andere über mich denken“ von
Thorsten Havener, rückt die Deutung der Körpersprache
immer stärker in den öffentlichen Fokus und entwickelt
sich zum Thema für allgemeine Unterhaltung und
Entertainment.
„Das Interesse am Verstehen der menschlichen Körpersprache“ – lautet die Antwort auf die Frage, was der
Regisseur von „The Minions“, Kyle Bald, der ehemalige
FBI-Agent Joe Navaro und der Zauberkünstler und
Entertainer, Thorsten Havener, gemeinsam haben.
In diesem Artikel werden einige Grundlagen, Trends und
interessante Quellen zum Thema Körpersprache (nonverbale Kommunikation) vorgestellt.
Die Entschlüsselung und die Deutung der menschlichen
Körpersprache war für die Zeichner von Walt Disney und
die Animatoren von Pixar und anderen großen Studios
schon immer die Grundlage ihrer täglichen Arbeit. Nur
wenn ein Animator weiß, wie sich der Körper und die Mimik verhalten, wenn man z. B. traurig ist oder sich freut,
kann eine Figur glaubhaft für das Kinopublikum animiert
werden.
Der ehemalige Pixar Animator und Regisseur von „The
Minions“, Kyle Balda und sein Team, haben es geschafft,
die kleinen g
­ elben Minions Figuren über eine für den Zuschauer klar erkennbare Körpersprache zu den weltweit
beliebten Sympathieträgern zu machen, die sie sind. In
einem Animations Workshop, welchen ich mit Kyle Balda
im Oktober 2015 in Berlin veranstalten werde, spielt die
Körpersprache eine zentrale Rolle.
„Through the examination of various clips, a deep exploration of story beats will take place to clearly communicate what characters are thinking and feeling. We will
discuss the positive and negative reversals characters
go through in the story telling process and how animators can show these changes to progress the story.”
(Auszug aus der Workshopbeschreibung mit Kyle Balda
am 17. Oktober 2015 in Berlin)
Auch in der Kriminalpsychologie ist das Verstehen
der nonverbalen Kommunikation ein zentraler und oft
lebensrettender Punkt. Vor allem beim Verhören und
Befragen von Verdächtigen hängt die Erfolgsquote der
ermittelnden Beamten stark mit dem Talent der Beamten, die nonverbalen Signale und die Mikroexpressionen
der Mimik richtig zu deuten, zusammen. Seit vielen Jahrzehnten wird hier intensiv auf diesem Gebiet geforscht.
Der ehemalige FBI-Agent Joe Navaro schreibt in seinem
Buch „Menschen lesen“
„Der Körper verrät uns alles, was eine Person eigentlich
nicht sagen möchte. Man muss ihn nur verstehen können.“ (Navaro, J./Karlins, M. 2011, Buchrückseite)
Interessanterweise hat die Unterhaltungsindustrie
das Thema Körpersprache seit einigen Jahren für sich
als Stoff und Quelle für TV-Serien und Bühnenshows
entdeckt. In der US-amerikanischen Fernsehserie „Lie
to me“, die 2009 in den USA ihre Erstausstrahlung hatte,
55 | Im Fokus
Professor Dipl. Inf (FH) Thomas Gronert, Dekan und
Fachbereichsleiter Mediadesign Hochschule München für den
Studiengang
Digital Film Design – Animation/VFX
gibt es mittlerweile drei Staffeln mit insgesamt 48 Folgen, die in zahlreiche Länder verkauft wurden.
Das Herausfinden der Wahrheit ist das Ziel jeder einzelnen Folge. Der Protagonist, Dr. Cal Lithman, ist ein
Spezialist für Körpersprache und Mikroausdrücke in der
Gesichtsmimik. Er und sein Team werden von verschiedensten Organisationen und Personen beauftragt, um in
heiklen und tragischen Fällen die Wahrheit ans Licht zu
bringen. Zum Ziel, und damit der Wahrheit auf die Spur,
kommen er und sein Team immer durch das Befragen
und Verhören der involvierten Personen und der „richtigen“ Deutung der jeweiligen Körpersprachen. Einer
der Erfolgsfaktoren der Serie liegt sicher darin, dass
der Zuschauer in jeder Folge anhand der detaillierten
Verhaltensanalysen des Teams um Dr. Lithman, selber
etwas über Körpersprache lernt.
2010 hat die BBC mit der Produktion von „Sherlock“
die besondere Beobachtungsgabe als Erfolgsgarant
für sich entdeckt. Mit dem grandiosen Schauspieler
Benedict Cumberbatch wurde die Figur des „Sherlock“
genial besetzt. Die Kriminalfälle werden allesamt durch
die außergwöhnlich detaillierte Beobachtungsgabe von
Sherlock und die richtige Deutung der Körpersprache
der in die Fälle involvierten Personen gelöst.
Obwohl es sich bei den TV-Serien „Lie to me“ und
„Sherlock“ um rein fiktionale Stoffe handelt, sind diese
spannend und lehrreich zugleich.
In Deutschland schreibt seit einigen Jahren der Buchautor, Zauberkünstler und Entertainer Thorsten Havener
seine Erfolgsgeschichte. Sein aktuelles Buch „Ohne
Worte. Was andere von dir denken“ wurde 2014 veröffentlicht und aktuell in der 11. Auflage verkauft. Das
Buch steht seit Monaten auf der Spiegel Bestseller
Liste. Seine aktuelle Bühnenshow „Der Körpersprache-Code“ ist restlos ausverkauft und wird sogar im
Fernsehen übertragen. In den Shows und vor allem
seinen Büchern kann man sehr viel über Körpersprache
lernen. Für alle Fans der Körpersprache ist das ein absolutes Muss. Nebenbei ist Thorsten Havener auch noch
ein sehr sympathischer und angenehmer Gesprächspartner.
Wer hätte gedacht, dass das Referieren über die Körpersprache und deren Bedeutung in Fernsehserien,
in Fachbüchern und in Unterhaltungsshows auf ein so
großes öffentliches Interesse stößt.
Neben dem Interesse an der richtigen Deutung der
Körpersprache haben Kyle Bald, Thorsten Havener
und Joe Navaro noch eine wichtige Gemeinsamkeit.
Alle drei haben sich ausführlich mit den Studien und
Forschungsergebnissen des weltweit renommierten
US-amerikanischen Anthropologen und Psychologen,
Paul Ekman, beschäftigt. Dieser veröffentlichte bereits
1978 mit seinem Kollegen Wallace Friesen das heute
noch weltweit verbreitete FACS, welches als Abkürzung
für Facial Action Coding System steht. FACS ist eine
Technik zur Mimikdeutung und Emotionserkennung.
Im Fokus | 56
Quelle: Bildzitat von http://www.wedernoch.de/mimik/facs.html
Die beiden Forscher fanden über das Vergleichen von
tausenden Bildern von Gesichtern unterschiedlicher
Nationalitäten heraus, dass es für starke Emotionen
einen genetisch in uns verankerten Code geben muss.
So sind die Gesichtsausdrücke, also die Mimik, bei den
starken Emotionen Überraschung, Traurigkeit, Fröhlichkeit, Glück, Verachtung, Ekel, Wut und Furcht bei allen
Menschen gleich.
Wer jetzt Lust hat, tiefer in das Thema einzusteigen, sollte sich definitiv die Bücher von Paul Ekman zu Gemüte
führen. Auf seiner Website http://www.paulekman.com/
gibt es zusätzlich noch verschiedene Online Trainings,
mit deren Hilfe man sich bequem weiterbilden kann.
Fazit
Die Fähigkeit Emotionen und Gefühlszustände anhand
der Körpersprache zu deuten, kann in allen Lebenslagen
eine große Hilfe sein. Schon alleine aus diesem Grund
sollten wir uns alle mit diesem Thema beschäftigen. Die
Steigerung der sozialen Kompetenz führt zu einem
besseren Miteinander im privaten und gesellschaftlichen
Umfeld, wodurch die Gesellschaft als Ganzes profitieren
kann.
Literatur
Havener, T. (2015, 11. Auflage): Ohne Worte. Was
andere über mich denken. Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Hamburg.
Navaro, J./Karlins, M. (2011, 5. Auflage): Menschen
lesen. Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache
entschlüsselt, mvgverlag, München
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Animation/VFX
Denken und nicht
­denken – Warum uns
die besten Ideen dann
­kommen, wenn wir es am
wenigsten erwarten
Prof. Sacha Bertram
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Im Fokus | 59
Denken und nicht
­denken – ­Warum uns
die besten Ideen dann
kommen, wenn wir es am
­wenigsten erwarten
„Es erscheint uns überaus logisch, dass wir nachdenken
müssen, um eine Idee oder die Lösung zu einer kreativen
Herausforderung zu finden. Und doch ist es so, dass wir
oft die besten Ideen haben, wenn wir gar nicht nachdenken. Zum Beispiel unter der Dusche oder beim Spazieren gehen. Wenn uns der Name eines Schauspielers
oder der Titel eines Buches zwar auf der Zunge liegt, er
uns aber partout gerade nicht einfällt, wissen wir, dass
es meistens nichts bringt, noch intensiver darüber
nachzudenken. Wir wissen eigentlich, dass er uns schon
in den nächsten Minuten oder Stunden wieder einfallen
wird — nämlich dann, wenn wir schon gar nicht mehr
daran denken.
Warum ist das so? — Die Information scheint ja in unserem Gehirn vorhanden zu sein, sonst fiele es uns ja
später auch nicht ein.
In der Tat: Die Information ist da. Sie ist irgendwo in den
Tiefen unseres Gehirns gespeichert, in Nervenzellen
und deren Verbindungen (Synapsen). Wo genau und wie
genau das Gehirn Informationen speichert, weiß man eigentlich gar nicht so genau. Doch wieso können wir Wissen manchmal — und vor allem leider oft in Situationen,
wo es darauf ankäme — nicht abrufen? Warum fällt uns
eine kreative Lösung manchmal einfach nicht ein, auch
wenn sie im Nachhinein betrachtet — nämlich wenn die
Inspiration dann unter der Dusche zugeschlagen hat —
gerade durch ihre Einfachheit besticht? Warum stehen
wir manchmal auf dem Schlauch?
Bibliotheken und
­Bibliothekare
Stellen wir uns das Gehirn als Bibliothek vor. Wir fragen
den Bibliothekar nach einer Information und er blättert
in seinem Zettelkasten nach einem Stichwort, doch er
findet nichts. Der Zettel ist nämlich verschwunden oder
wurde falsch einsortiert. Das Buch steht dort irgendwo im Regal, unabhängig davon, ob es im Zettelkasten
verzeichnet ist. Doch in diesem Augenblick weiß niemand, wo es zu finden ist. Also setzen wir uns enttäuscht
irgendwo hin und blättern vielleicht in einem anderen
Buch oder lesen eine Zeitschrift, wenn wir schon mal
da sind. Und irgendwann, wenn wir schon alle Hoffnung
aufgegeben haben, steht plötzlich der Bibliothekar neben uns mit dem Buch in der Hand.
Übertragen auf das Gehirn bedeutet das: Die Information ist zwar in irgendeinem Bereich des Gehirns gespeichert, doch das reicht noch nicht. Das Gehirn muss auch
eine Verbindung zu diesem Wissen herstellen können,
um die Information ins Bewusstsein zu laden. Bei Informationen, die wir ständig benötigen, ist die Verbindung
fest verdrahtet und kann schnell aktiviert werden. Hier
hat das Gehirn sich verändert und hat Verbindungswege
wachsen lassen. Wenn wir uns erstmal in der Bibliothek
auskennen und immer wieder dasselbe Buch suchen,
finden wir es auch ohne den Zettelkasten wieder und
irgendwann ist der Teppich der Bibliothek sogar schon
etwas ausgetreten, weil wir den Weg dorthin schon so
häufig gegangen sind.
60 | Im Fokus
Bei Informationen, die wir nicht so häufig benötigen,
sind wir auf den Zettelkasten der Bibliothek angewiesen
und darauf, dass das Buch tatsächlich dort steht, wo der
Zettel uns hin verweist: Die Verbindung zu dem Buch
muss eben hergestellt werden. Im Gehirn geschieht das
über Nervenzellen, die Signale über andere Nervenzellen schicken, die wiederum ein ganzes Netzwerk aus
Nervenzellen aktivieren. Ist die Verbindung unterbrochen — zum Beispiel, wenn das Gehirn verletzt wurde
— kann das Wissen nicht abgerufen werden. Ein Teil
des Zettelkastens wurde zerstört. Doch auch hier gibt
es den fleißigen Bibliothekar, der nach der Information
sucht, die wir so dringend benötigen und die verlorenen
Teile des Zettelkastens wieder anlegt: Das Gehirn bildet
neue Verbindungen und baut so eine Umleitung um den
verletzten Bereich, so dass — wenn alles gut läuft — die
Information irgendwann wieder abrufbar ist. Im Falle einer Verletzung des Gehirns kann dies aber Monate oder
Jahre dauern, obwohl Gehirnzellen bis zu 1mm pro Tag
wachsen können! Doch auch wenn unser Gehirn unverletzt ist, kommt die Verknüpfung trotzdem manchmal
einfach nicht zustande. Aber warum?
Inhibition
Stellen wir uns einen Moment lang vor, unser Gehirn
würde zu jeder Zeit jede Verknüpfung zulassen. Was
würde passieren? — Es wäre furchtbar für uns: Auf jeden
Reiz aus unserer Umwelt würde das komplette Wissen
abgefeuert. Es wäre in etwa so, als gingen wir in die
Bibliothek, um eine Information zu suchen; erst fliegt uns
der Zettelkasten um die Ohren, dann fliegen sämtliche
Bücher aus den Regalen und erschlagen uns in einer
riesigen Welle an Wissen. Das Gehirn funktioniert deshalb so gut, weil es nicht nur Verknüpfungen herstellt,
sondern hauptsächlich Verknüpfungen verhindert. Denn
wenn wir in der Arbeit eine Präsentation halten, bleiben
wir ja in der Regel thematisch bei unseren Schaubildern und Diagrammen und erzählen nicht von unseren
frühkindlichen Erfahrungen beim Spielen mit Bauklötzen, nur um anschließend von unserer Oma zu berichten
oder von unserer ersten Tanzstunde. Wir sind fokussiert
und fallen nicht aus der Rolle. Das Gehirn blockiert
den überwiegenden Teil unseres Wissens und unserer
Erinnerungen und lässt nur die Verknüpfungen zu, die in
diesem Moment notwendig sind. Alles, was das Gehirn
in diesem Moment als nicht notwendig betrachtet, wird
ausgeblendet. Man spricht von Inhibition (Hemmung).
Der Bibliothekar ignoriert bei seiner Suche im Zettelkasten alle Stichwörter, zu denen ich in dem Moment keine
Informationen suche.
Wenn ich meine Meinung ändere und den Bibliothekar
bitte, doch nach etwas anderem zu suchen, schaltet er
um. Er blendet alles andere aus und sucht nach dem
neuen Stichwort. Und dieser Mechanismus klemmt einfach manchmal. Das Gehirn hat seine Inhibition für diese
Bereiche noch nicht abgeschaltet und eine Verknüpfung
kann in diesem Moment in diesem Gehirnbereich nicht
zustande kommen. An den Verbindungen der hemmenden Nervenzellen ist die Konzentration der chemischen
Im Fokus | 61
Botenstoffe noch zu hoch, so dass die aktivierenden
Nervenzellen keine Chance haben.
Die Lösung: erstmal abwarten. Denn nach einiger Zeit
sind die Botenstoffe hier abgebaut und wir haben die
Möglichkeit, eine Verbindung herzustellen.
Kreativität ist ­Verknüpfung
Was hat das nun mit Kreativität zu tun? – Sehr viel! Alles!
Denn Kreativität ist genau genommen nichts anderes
als die Fähigkeit des Gehirns, Wissen miteinander so zu
verknüpfen, so dass eine neue Idee entsteht. Fällt uns
nichts ein, dann liegt das an der Inhibition: Das Gehirn lässt die Verbindung nicht zu. Manchmal, weil der
Mechanismus klemmt, manchmal aber auch, weil das
Gehirn den Sinn der Verknüpfung nicht erkennt, denn
es ist darauf trainiert worden, nur „sinnvolle“ Verknüpfungen zuzulassen. Erscheint die Verknüpfung unsinnig,
weil wir gelernt haben, dass diese beiden Dinge nichts
miteinander zu tun haben, wird die Verbindung gehemmt.
Dabei ist es ja manchmal so, dass auch auf den ersten
Blick unsinnige Ideen ihren Charme haben können oder
zu einer Reihe weiterer Ideen führen, die gar nicht so
unsinnig sind.
Doch je mehr wir über unsere kreative Aufgabe nachdenken und je mehr Ideen wir schon im Anfangsstadium
als unsinnig bewerten, desto mehr werden die Inhibitoren aktiv und zensieren unser Denken. Mit dem Effekt,
dass uns bald gar nichts mehr einfällt. Schriftsteller
sprechen hier oft von einer „Schreibblockade”.
Man kann das Gehirn darauf trainieren, auch diese
scheinbar unsinnigen Verknüpfungen erstmal zuzulassen und damit zu spielen. Doch wie bei gymnastischen
Dehnübungen kann man hier keine schnellen Erfolge
erwarten: Das dauert seine Zeit und erfordert einiges an
Training.
Kaskaden
Eine Idee kann zu einer ganzen Kaskade weiterer
Ideen führen, wenn wir es zulassen: Eine kleine Gruppe
Nervenzellen aktiviert ein ganzes Bündel an Nervenzellen, diese wiederum einen ganzen Bereich im Gehirn.
Bewerten wir die erste Idee sofort, kommt die Kaskade
nicht ins Rollen. Die kleine Gruppe Nervenzellen hemmt
das Bündel an Nervenzellen dahinter, das seinerseits
wiederum einen ganzen Bereich im Gehirn hemmt.
Geschieht das öfter, hemmen wir viele große Bereiche
in unserem Gehirn, die uns für das Finden einer Lösung nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine Art Inhibitions-Kaskade.
Wie kann man dies aber nun verhindern? Erstens können wir es gar nicht so weit kommen lassen, indem wir
die Bewertung von Ideen auf einen späteren Zeitpunkt
verschieben. Dazu müssen wir an unserer Haltung arbeiten und uns Freiraum schaffen, auch das auf den ersten
Blick Unsinnige zu denken. So können wir unser Gehirn
trainieren, mehr zu aktivieren und weniger zu hemmen.
62 | Im Fokus
Zweitens können wir — wenn wir merken, dass wir durch
intensives Nachdenken nicht weiter kommen — unser Gehirn einfach mal entspannen. Dadurch werden
die Botenstoffe, die für die Hemmung zuständig sind,
abgebaut und neue, aktivierende Verbindungen können
wieder zustande kommen. Wir haben unserem Unterbewusstsein — unserem Bibliothekar — den Auftrag
gegeben, eine bestimmte Information zu finden. Und
irgendwann wird er mit dem Buch in der Hand neben uns
stehen und sagen, dass er es jetzt doch noch gefunden
hat. Das mit der Entspannung ist aber so eine Sache,
denn wir haben ja eine Aufgabe zu lösen und zwar
schnell. Da können wir ja schlecht einfach mal eine Stunde in den Park gehen und unser Gehirn entspannen und
darauf warten, dass der Bibliothekar eventuell irgendwann mal auftaucht. Denn manchmal kommt er ja auch
gar nicht und wenn doch, wer weiß, wann er kommt? Und
was sagt wohl mein Chef dazu, dass ich im Park „faulenze“?
Nicht-Denken
Außerdem ist es ja so: Unser Gehirn kann nicht nicht
denken. Es ist uns ganz und gar unmöglich, an gar nichts
zu denken. Und je mehr wir uns selbst verbieten, an
unsere Aufgabe zu denken, desto schlechter funktioniert
das mit dem Nicht-Denken. Aber wir können uns ablenken, unseren Fokus woanders hin legen. Wir könnten
also erst einmal etwas anderes tun, das unsere volle
Aufmerksamkeit verlangt und so einen Moment andere
Bereiche unseres Gehirns aktivieren, bis die blockierten
Bereiche vom Gehirn wieder freigegeben wurden. Sport
könnte so etwas sein, doch sollte es eine Sportart sein,
die Ihre Aufmerksamkeit voll und ganz bindet. Leichtes
Joggen hilft hier meist nicht so gut, da der Kopf hier
noch genügend Zeit hat, nachzudenken. Beim Fußball
sieht das schon anders aus. Wer Sport nicht mag, kann
Rätsel lösen, Sudoku oder Kreuzworträtsel, mit zwei
oder drei Bällen jonglieren oder andere Geschicklichkeitsspiele machen.
Wenn ich merke, dass meine Studenten bei ihrer Ideenfindung blockiert sind, gehe ich mit der Gruppe nach
draußen und mache ein einfaches Assoziationsspiel, das
aus dem Improvisationstheater kommt. Beim Improvisationstheater geht es darum, spontan und ohne Theaterstück, ohne Requisiten oder Kostüme eine Szene auf der
Bühne zu spielen, die das Publikum vorgibt. Das verlangt
schnelle Assoziationsfähigkeit und ein hohes Maß an
Kreativität und Vorstellungsvermögen. Es gibt eine
Reihe von Übungen, die Impro-Spieler vor dem Auftritt
zum Aufwärmen und Aktivieren oder als Gehirntraining
machen. Eines dieser Spiele heißt „DaDuDa„ und ich
spiele gerne eine leicht abgewandelte Form davon mit
kreativen Teams.
DaDuDa
Die Teilnehmer stellen sich im Kreis auf, gehen auf der
Stelle im Takt und einer sagt ein Wort, zum Beispiel
Im Fokus | 63
„Salz” und deutet dabei auf einen beliebigen Teilnehmer
in der Gruppe. Dieser assoziiert nun ein zweites Wort,
das zu dem ersten passt, beispielsweise „Streuer”. Anschließend sagt die ganze Gruppe im Takt: „Salz-Streuer
DaDuDa!” Nun ist Teilnehmer zwei an der Reihe. Er sagt
wieder ein Wort: „Dach” und deutet dabei auf einen
beliebigen dritten Teilnehmer. Der assoziiert vielleicht
„Pappe”, anschließend sagen alle gemeinsam im Takt:
„Dach-Pappe DaDuDa!” und so weiter. Dabei ist es
wichtig, dass die Teilnehmer im Takt bleiben, so dass keine Zeit bleibt, nachzudenken. Wer aus dem Takt kommt,
muss eine Runde um den Kreis rennen und der Teilnehmer rechts von ihm macht weiter.
Das mag wie ein Spiel klingen, das wir von den Pausenhöfen unserer Grundschulzeit kennen, doch es ist alles
andere als einfach! Es erfordert höchste Konzentration,
denn man muss im Takt bleiben, auf der Stelle gehen,
man könnte jederzeit dran kommen, muss dann ein
Wort parat haben, es mit der Gruppe wiederholen und
gleichzeitig das nächste Wort suchen. Grundsätzlich ist
es bei dieser Übung – wie bei allen Kreativitätsübungen
– verboten, die Assoziationen der anderen Teilnehmer
zu bewerten (außer natürlich, die Bewertung ist positiv).
Es ist eine KreativitätsÜBUNG, im Gegensatz zu einer
KreativitätsTECHNIK, mit der sich zu einer konkreten
Aufgabe Ideen finden lassen und Leute, die sich für Kreativitätsseminare anmelden, haben oft die Erwartung,
einfach nur eine neue Kreativitätstechnik zu lernen, die
sie bei der nächsten Ideenfindung anwenden können.
Doch je mehr man Kreativität mit Übungen trainiert hat,
desto besser funktionieren dann schließlich auch Kreativitätstechniken.
Effekte
Die Übung hat mehrere Effekte:
•
•
•
•
Erstens wird durch die Bewegung der Kreislauf angeregt und die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff aktiviert.
Zweitens hat kein Teilnehmer bei diesem Spiel auch
nur den Ansatz einer Chance, über die Idee nachzudenken, so dass das Unterbewusstsein die Möglichkeit hat, ungestört zu arbeiten, denn das passiert
im Hintergrund, während wir unser Bewusstsein auf
andere Dinge fokussieren.
Drittens wird das Gehirn in einen Modus versetzt, in
dem es sinnige und unsinnige Kombinationen, bzw.
Assoziationen zulässt (z. B. „Pfeffer-Hase” oder
„Früh-Vogel”). Man trainiert damit auch seine Fähigkeit, „um die Ecke zu denken”.
Viertens werden durch das ständige Herstellen von
Assoziationen eine Vielzahl an Bereichen im Gehirn
aktiviert, so dass sie bei der anschließenden Ideenfindung zur Verfügung stehen.
Zugegeben ist die Übung für Erwachsene etwas gewöhnungsbedürftig und man zieht definitiv die Blicke
anderer Leute auf sich, denn dass Erwachsene „spielen”
64 | Im Fokus
ist doch recht ungewöhnlich. Erfahrungsgemäß klappt
die Übung auch beim ersten Mal noch nicht so gut, da
die Teilnehmer noch zu viel nachdenken und – vor allem
Kreative – nach möglichst originellen Assoziationen
suchen, was aber gar nicht Ziel der Übung ist und die
Teilnehmer eher blockiert. Es hilft enorm, sich die Worte
bildhaft vorzustellen, um ein anderes Wort darauf zu
assoziieren und für den Anfang rate ich zu einem langsamen Takt, der sich im Laufe der Zeit steigern kann.
Macht man die Übung öfter, so wird sie mit der Zeit
einfacher und irgendwann können die Teilnehmer diesen
schnellen Assoziationsmodus auch bei der Ideenfindung
außerhalb des Spiels aktivieren. Nach meinen Erfahrungen ist die Ideenfindung nach einer solchen Übung
wesentlich produktiver, es entstehen mehr Ideen innerhalb einer vorgegebenen Zeit als ohne und es reicht eine
Ablenkung von 15 bis 20 Minuten, um einen Effekt zu
erzielen.
Fazit
Kreativität funktioniert am besten dann, wenn wir nicht
denken. Da das Gehirn aber nicht nicht denken kann,
müssen wir unser Gehirn ablenken. Mit Übungen oder
Tätigkeiten, die unsere volle Aufmerksamkeit benötigen,
schaffen wir unserem Unterbewusstsein den Freiraum,
über unsere Aufgabe nachzudenken, ohne ständig von
unserem Bewusstsein bewertet oder in die Schranken verwiesen zu werden. So entstehen anschließend
schneller mehr und meistens bessere Ideen.
Nehmen Sie sich doch einfach mal die Zeit, nicht zu denken, denn Sie werden sehen, dass Sie dadurch anschließend besser denken.
Sacha Bertram arbeitet seit 1999 im Bereich Computergrafik und Film und war bei zahlreichen Spiel-, Dokumentar- und Werbefilmen verantwortlich für die digitalen
Spezialeffekte und Animationen. Seit 2012 beschäftigt
sich Sacha Bertram mit App-Design und -Entwicklung.
Als angestellter Dozent an der Mediadesign Hochschule für Design und Informatik lehrt Sacha Bertram im
Fachbereich ‚Digital Film Design‘ und betreut Studenten
bei zahlreichen studentischen Projekten und Abschlussarbeiten und erforscht neue Möglichkeiten, die sich mit
modernen Aufnahmeverfahren und innovativen Techno­
logien wie Augmented Reality und Virtual Reality für das
Erzählen von Geschichten, sowie die Vermittlung von
Informationen ergeben. Ob mit Studenten oder in professionellen Projekt-Teams beim Film oder in der Ent­
wicklung von Apps: Kreativität ist immer gefragt.
Im Fokus | 65
Dipl.-Ing. Sacha Bertram, Dozent im Fachbereich Digital Film Design
– Animation/VFX (B.A.)
Über den Autoren:
Als junger Student arbeitete Sacha Bertram 1997 am
Institut für Biomedizinische Technik in Stuttgart als
studentische Hilfskraft an einem Forschungsprojekt,
das sich mit der medizinischen Bildgebung am Gehirn
beschäftigte. Seitdem lässt ihn die Faszination für dieses
Organ nicht mehr los.
Daher befasst sich Sacha Bertram seit vielen Jahren
schon intensiv mit dem Gehirn und dem Thema der
Kreativität, wie man sie lernen und lehren kann und seit
2015 ist er als Kreativitätstrainer und Kreativitätscoach
tätig, gibt Seminare und berät Firmen und ihre Mitarbeiter zur Steigerung ihrer Kreativität.
Prof. Sacha Bertram
Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX, MD.H München
Mediadesign Hochschule
für Design und Informatik GmbH
Private Hochschule
staatlich anerkannt
Lindenstraße 20 – 25
10969 Berlin
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81669 München
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Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule
Im Fokus:
Digital Film
Design –
Animation/VFX
THE ANIMATOR:
EVOLUTION OR
­EXTINCTION?
Travis Ramsdale
Dozent Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 68
THE ANIMATOR: EVOLUTION OR
EXTINCTION?
Technology, as in every facet of our society, has had a
profound effect on animation over the years. Traditionally, it is an art form that requires patience and the investment of countless hours, literally creating a film one
frame at a time. The integration and assistance of
computers in various parts of the production process
however, has not only changed the way animators work,
but also altered the perception of animation as an art
form and the role that it plays.
You would be hard pressed nowadays to find a part of
animation that isn´t touched by a computer in some
way. Even traditional hand-drawn animation can be
drawn via the use of a tablet directly into the computer,
removing the need to manually scan, ink and paint each
individual drawing. But even though technology like this
has helped speed up the animator’s workflow, and in
many cases completely change it, the scientists and tech
heads are still yet to create a piece of technology that
can replicate the skills of a great animator.
It is a common gripe of both myself and colleagues in the
industry who are all too familiar with the comments that
come from friends and strangers alike when the subject
of work arises. Comments like “Isn´t that all done with
computers these days?” or even better, “In a few years
we won´t even need animators will we?” Sadly these
comments aren´t said with jest and industry pros have all
heard statements like these so often that it has become
a bit of an industry inside joke.
So what does an animator do? An animator´s job is
to bring inanimate objects life. Whether it be a series
of drawings, a figurine or a 3D computer model, the
role of the animator is not just to create the illusion
of movement in a film or video game, but to bring the
characters to life using principles and techniques that
have been around for over a century. It requires incredible patience as well as an eye for mechanics, physics
and perhaps most importantly, acting, emotion and the
human condition. It is an art form that has continued to
evolve over the decades but has now reached a point
where advancements in technology have such a major
influence that the traditional craft is getting lost and is
sometimes perceived as a dying art.
The technology that has had the biggest impact on the
animation industry in recent times is the advent of
motion-capture within film, television and video game
productions. As the name suggests, it is the process of
capturing or recording the motions of people and
objects usually with the help of special suits and cameras. This motion can then be the saved and applied to a
computer generated (CG) character within a film or video
game. The great advantage of motion capture technology is the realistic results that it delivers and the speed at
which it can deliver them. Animation that would have
previously taken days or sometimes weeks can now be
captured within minutes and to a quality that was virtually
impossible beforehand. Depending on the production,
facial expressions can also captured with the use of tiny
head-mounted cameras that pick up every little facial
69 | Im Fokus
tick and movement the actor makes. Performance
Capture technology is now used so often in productions
that it is becoming increasingly difficult for the general
public to tell the difference between reality and it´s
virtual counterpart.
Due to the introduction of virtual characters in films such
The Lord of the Rings (2001), King Kong (2005), Avatar
(2009) and Dawn of the Planet of the Apes (2014), the
words motion capture have moved from a somewhat
specialist term into the average movie goers lexicon, and
the technology utilized to make the big blockbusters is
often used as a selling point during the marketing of the
films. But while being very impressive technology, the
truth is usually distorted by studios with all credit going
to directors or actors with little reference to the many
animators working tirelessly behind the scenes. The
illusion is built that with the nothing more than a funny
looking suit and a few cameras, the actor’s performance is captured and applied to a computer model with
nothing more than the click of a button.
Andy Serkis, famous for his roles as Gollum, Caesar and
King Kong angered many animators in recent times,
describing the role of the animator as “painting digital
makeup onto actors”. While the quote from Serkis seemed to be taken out of context and generally misinterpreted by many, it received a lot of media attention and
once again put the emphasis on the technology behind
the films and not the individuals making them.
“..they (Weta) have now schooled their animators to honor the performances that are given
by the actors on set. And the teams of people
who understand that way of working now are
established. And that’s something that has really
changed. It’s a given that they absolutely copy
[the performance] to the letter, to the point in
effect what they are doing is painting digital makeup onto actors’ performances.” - Andy Serkis
(Slashfilm, 2014)
It is the combination of art and technology that bring these amazing characters to the screen and not technology
alone. Motion capture, although sounding like a magic
solution, needs to be processed and cleaned, and when
working with CG characters, the less they resemble the
actor, the more work needs to be done to ensure the
digital character’s movements appear natural. On many
projects, it is also not uncommon that an animator makes
changes to an actor’s performance or enhance it in some
way. This can be to improve the acting, blend it seamlessly with the action of a stuntman or sometimes create
something completely new by hand that cannot be
created using motion capture technology. So although
the old handmade stop-motion figurines of Jason and
the Argonauts (1963) are no longer present in most
current day film productions, large teams of animators
are still working hard, applying their skills digitally using
the computer as the middleman to get their craft on the
screen.
Im Fokus | 70
Mutig. Felsenspringer in Acapulco, Mexiko (eigenes Foto)
As in the film industry, the growth of motion capture
technology within the video games industry has had a
major impact and has increased productivity and helped
take animation quality to a whole new level. It is a massive time saver and although it may seem to remove the
need of a large animation team, the new technology has
also increased the expectations of both consumers and
developers with animation fidelity and variety constantly
needing to be pushed to greater heights. A current
generation third-person action game like Assassins
Creed 3 (2012) or Ryse: Son of Rome (2013) for
example, requires somewhere in the range of 8,000
animations for the player character alone. To produce
this amount of animations to a high quality, with or
without the use of motion capture, requires a large team
of animators trained to ensure that the animation not
only looks great but also feels fluid and natural for the
player.
“It’s something you have to consider when
making a big game. You know not to do unique
animations for every single character.” - Jonathon Cooper (Polygon 2014)
While we have these big titles that rely on realism and
require the need for motion capture we are also seeing
huge success with titles such as World of Warcraft, Dota
2, Team Fortress 2 and League of Legends that are
moving away from a realistic style and therefore relying
on the pure skill of the animators to bring the characters to life. Video games audiences have also changed
over the years with teenage boys no longer seen as
the only consumers. The introduction of smart phones
and tablets over the last ten years has brought about
a more casual consumer who not only plays games on
their computer at home but more on the train on the way
home from a hard day at the office. Major game developers such as Electronic Arts, Valve, Ubisoft and Blizzard
still dominate the industry with their large scale projects,
but now we are seeing a far greater number of independent developers producing different types of projects
for these casual gamers. From an animation perspective,
this allows animators to work on projects of different
styles where they can utilise their skills to create fun, new
and exciting motion that doesn’t necessarily fit within a
realistic world.
We have also noticed an interesting shift in the animation
industry over the years within film and television and due
to hit shows like the Simpsons, South Park and Family
Guy, the current generation no longer views animation as
just a child’s medium. This opens up the possibilities of
new shows and themes that may not have been previously tackled.
71 | Im Fokus
“There’s a sophisticated audience out there,
which is exciting. People are less attuned to it
just being a cartoon, as cartoons traditionally were for a younger audience, and suddenly
you’ve got animation simply as a format much
like live action or anything it’s just a way to reinforce what is your storytelling, and that’s a big
opportunity.” - Alex Bulkley (Business Insider,
2014)
So we have seen big developments in animation over the
years and there is no doubt that it will continue to evolve
artistically, technologically and culturally. Technological
advancements, while powering forward and altering
the way we work, has not yet replaced the need for the
animator as we know it. The medium continues to expand from a child’s entertainment medium to an art form
used for a variety of purposes both in and outside of
the entertainment world. It is a fascinating art form with
more and more children wanting to work in this exciting
yet very scary world. And just as photography did not
replace the painting, motion capture and other similar
technology will not remove the need for animators, but
simply enhance the art of animation and hopefully push
it into new and exciting directions. And when the question of our importance comes up in the future, then it is
up to the animators themselves to decide if they want to
evolve with the times or stay stuck in the mud and wait
for extinction.
References
SLASHFILM (2014) Matt Reeves Defends Andy Serkis’
“Digital Make-up” Comments. [Online] Available from:
http://www.slashfilm.com/andy-serkis-digital-make-up/ [Accessed: 1 May 2015]
POLYGON (2014) Animating women should take
‘days,’ says Assassin’s Creed 3 animation director. [Online] Available from: http://www.polygon.
com/2014/6/11/5800466/assassins-creed-unity-women-animation [Accessed: 1 May 2015]
BUSINESS INSIDER (2014) We’re In The Middle Of An
Exciting Shift In The Animation Industry. [Online] Available from: http://www.businessinsider.com/animation-industry-booming-2014-10?IR=T [Accessed: 1 May
2015]
Travis Ramsdale
Fachbereich Digital Film Design – Animation/VFX, MD.H München
Mediadesign Hochschule
für Design und Informatik GmbH
Private Hochschule
staatlich anerkannt
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10969 Berlin
Tel.: 030 . 399 266 - 0 | Fax: - 15
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40227 Düsseldorf
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Copyright©: 2015 Mediadesign Hochschule
Im Fokus:
Modedesign
SDBI – Eine Stiftung für den
­Nachwuchs der Mode
Prof. Arnold Gevers
Dozent Fachbereich Modedesign
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 74
SDBI – Eine Stiftung für den
­Nachwuchs der Mode
Dynamisch klingt sie schon mal die Abkürzung –SDBI
– die dem vollen Namen der Stiftung der Deutschen
Bekleidungsindustrie ein bisschen den Staub von der
Schulter klopft. Und auch der European Fashion Award
FASH, der Preis den sie einmal jährlich ausschreibt,
wendet sich an junge Gestalter mit zukunftsweisenden
Ideen. So versucht die Stiftung, ursprünglich gestiftet
1978 durch den Unternehmer Klaus Steilmann, seit
2004 unter dem wachenden Auge von Joachim Schirrmacher „ die Ausbildung von Nachwuchskräften in der
Modebranche“ zu fördern und sich dabei den Herausforderungen einer immer globaler, schneller und komplexer
werdenden Modewelt zustellen und dem Nachwuchs
den Berufseinstieg in die Modeindustrie zu erleichtern.
Das Selbstverständnis der Stiftung orientiert sich auch
noch 36 Jahre nach ihrer Gründung sehr stark an den
gemeinnützigen Idealen ihres Stifters Prof. Dr. Ing h.c.
Klaus Steilmann, der sein eigenes Preisgeld aus der
Verleihung des Modepreises der Stadt München im Jahr
1977dazu verwendete die Stiftung ins Leben zu rufen.
Klaus Steilmann hat als Unternehmer selbst eine zentrale
Rolle in der deutschen Modeindustrie gespielt und war
bspw. Mitte der 1980er Jahre mit seinem Unternehmen,
der Steilmann-Gruppe, der größte Bekleidungshersteller in Europa. Das Motto Mode für Millionen, nicht für
Millionäre, zeigt dabei seinen Ansatz, sich stark an den
Bedürfnissen seiner Kunden zu orientieren und Produkte
zu entwickeln, die gesellschaftliche Relevanz haben.
Zudem begann er auch schon 1989 Nachhaltigkeit als
Gedanken zur Reduktion von Umweltbelastungen in die
Herstellungsprozesse seines Unternehmens einfließen zu lassen und wurde so neben Heinz Hess und Dr.
Michael Otto ein Pionier für nachhaltiges Wirtschaften.
Ihm waren bspw. die Entwicklung ökologischer Qualitätsstandards wichtig, die Etablierung eines Umweltmanagementkonzeptes, die Verwendung von Materialien
wie pestizidfreier Schurwolle, chlorfreier Viskose und
Hanf, und dies mündete unter anderem in einer umweltverträglichen Kollektion mit dem Namen Britta Steilmann – it’s one world.
Joachim Schirrmacher lenkt die Stiftung seit 2004 maßgeblich in neue Richtungen, um damit den komplexeren
Anforderungen der heutigen Modeindustrie zu begegnen. Nachdem die Stiftung zunächst ihren Standort in
München behalten hat und z. B. auch die Preisverleihung
sowie die Präsentation der ausgezeichneten Arbeiten
auf der ISPO München stattfand, folgt sie einem gesamtdeutschen Trend und orientiert sich seit jüngster
Vergangenheit nach Berlin. Seit diesem Jahr gibt es eine
eigene Modenschau während der Berliner Fashionweek
im Januar, auf der die Preise verliehen werden. Das
weckt natürlich noch mehr öffentliches Interesse und
bietet die Möglichkeit, die Arbeiten der Finalisten einem
breiteren Publikum vorzustellen.
Es steht dabei weiterhin das ehrliche Interesse an den
Studenten/Absolventen und ihren Arbeiten im Vordergrund, bei der natürlich auch die Ergebnisse zählen, aber
75 | Im Fokus
Klaus Steilmann, Stiftungsgründer der SDBI)
besonderes Augenmerk auf einen konzeptionellen
Hintergrund gelegt wird. Um zur Auswahl der Finalisten
zu gehören, bedarf es der Einreichung einer Arbeit, der
die Reflektion von wirtschaftlichen, kulturellen oder
politischen Prozessen zu Grunde liegt. Der Fokus liegt
auf einer Mode, die nicht nur saisonal Bestand haben
soll, sondern gesellschaftlich relevant ist. Der Nachwuchs steht im Mittelpunkt und wird in strikt fachlicher
Ausrichtung von einer internationalen Jury im Geiste des
Gründers bewertet. Es werden jedes Jahr Preisgelder
vergeben, aber daneben steht besonders die Öffentlichkeitsarbeit und die Vernetzung mit Medien, Handel und
Unternehmen im Vordergrund. Besonders das Networking kann den Absolventen von Modehochschulen den
Einstieg in ein professionelles Leben erleichtern und den
Anfang für eine stabile professionelle Karriere darstellen. Die Finalisten jedes Jahrgangs verbindet die gemeinsame Erfahrung der öffentlichen Wertschätzung
der eigenen Arbeit, die noch jahrelang weitergetragen
wird und zusammenschweißt.
Auch das Portfolio der Referenzen der SDBI Alumni und
der beruflichen Werdegänge ehemaliger Preisträger
gibt der Jury Recht. Die Preisträger arbeiten heute bei
renommierten Unternehmen wie Adidas, Akris, Craft,
Esprit, John Galliano, Girbaud, Hugo Boss, Quicksilver,
Puma, Schumacher oder Strenesse und darüber hinaus
für Designer wie Lala Berlin, Vivienne Westwood oder
Bernhard Willhelm.
Das Geschick und sichere Händchen, qualitativ hochwertige Arbeiten zu prämieren, kommt natürlich nicht
von ungefähr und somit zeichnet auch die Menschen
hinter den Kulissen ein jeweils starker Werdegang in
der Modeindustrie aus. Die Mitarbeiter der Stiftung
leisten selbst ausgezeichnete Beiträge zur Kultur der
Mode. Der Beirat besteht neben Joachim Schirrmacher,
der seit langem als Modejournalist für verschiedene
Fachmedien schreibt und unter anderem Experte in der
Initiative Kultur & Kreativwirtschaft der Bundesregierung
Deutschland ist, aus Margareta van den Bosch, Creative
Advisor bei H&M in Stockholm, Dr. Adelheid Rasche, der
Leiterin der Sammlung Modebild der Lipperheideschen
Kostümbibliothek in Berlin, Robb Young, Modejournalist
aus London und Michael Sontag, selbst Designer aus
Berlin. Damit steht eine hochkarätige Mannschaft parat,
die den Studierenden ein gutes Beispiel in Modeindustrie sein können und ihnen die Hand reichen um selbst
mitzuspielen.
Für den FASH 2015 konnte zudem der selbst mehrfach
ausgezeichnete, international renommierte Modefotograf Frank Tettamanti gewonnen werden, der die Jury in
der Auswahl der Finalisten unterstützt. Er wird außerdem
die prämierten Arbeiten fotografieren und den jungen
Designern damit sicherlich wertvolles Material für ihr
Portfolio liefern. Außerdem wird Torsten Hochstetter, der
als GlobalCreative Director tätig ist, Teil der Jury sein.
Das Wettbewerbsthema 2015 ist Freedom – Freiheit
und damit handelt es sich um eine Betrachtung der sich
verändernden Werte und Normen dieses Begriffes. In
der Ausschreibung heißt es:
Im Fokus | 76
Kindheit, Bewegung, Mode, Philosophie oder Politik –
Freiheit hat viele Dimensionen. Sie ist eine Grundlage
der Humanität und Kern des Bürgertums, ob französische Revolution oder die Montagsdemonstrationen
unter dem Motto „Wir sind das Volk“ in der DDR. Und
doch unterliegt die Freiheit der sich wandelnden Werte
und Normen.
Auf der einen Seite darf man heute fast alles, die Vielfalt
des Lebens steigt durch die Globalisierung überall spürbar. Auf der anderen Seite werden viele Errungenschaften einer offenen Gesellschaft und Grundrechte wie die
Privatsphäre neu diskutiert. Eine besondere Herausforderung ist die Digitalisierung, denn ihre Techniken entwickeln sich schneller als unsere Kultur. Sie ermöglicht
zwar mehr Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Sicherheit.
Aber sie hat oft auch ein mehr an Überwachung, Uniformität und vorwegnehmenden Gehorsam zur Folge.
Eine besondere Rolle spielt Freiheit in Berlin, der neuen
Heimat der Stiftung der Deutschen Bekleidungsindustrie, kurz SDBI. Berlin war die Stadt des Nazi- und
SED-Regimes, des Eisernen Vorhangs aber auch des
Mauerfalls und vieler sozialer und künstlerischer Experimente. Zum Thema „Freiheit“ sucht der European
Fashion Award FASH 2015 Mode als Ausdruck einer
Haltung: ob gesellschaftliche Utopie, poetisches Symbol
des Protests oder den Ausbruch aus dem Alltag.
SDBI – Fash 2015
Als Verlängerung der Bemühungen des Karriereservice
der MD.H sollten die Studierenden die Chancen nutzen,
die sich aus Wettbewerben wie bspw. dem FASH
ergeben und die Möglichkeit nutzen, ihre Arbeiten einer
breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sich
somit den Einstieg in die Berufswelt zu erleichtern.
Prof. Arnold Gevers
Fachbereich Modedesign, MD.H München
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für Design und Informatik GmbH
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Im Fokus:
Modedesign
Nachhaltige Strategien
im Modedesign
Prof. Nicole Süß
Dozentin Fachbereich Modedesign
Mediadesign Hochschule Düsseldorf
Im Fokus | 79
Nachhaltige Strategien
im ­Modedesign
Immer stärker steht das Konsumverhalten im Bereich
Mode und Textil in der Öffentlichkeit. Zuletzt in der
ARD-Dokumentation zu Primark, in der die gesamte
Wertschöpfungskette und der Gebrauch der Textilien
kritisch hinterfragt wurden. Längst ist klar, dass gerade
in der textilen Produktion andere Konzepte erforderlich
sind, um einen nachhaltigen Umgang mit Kleidung zu
erreichen.
Am Anfang der textilen Wertschöpfungskette steht eines
der stärksten Glieder, um der gesamten Branche eine
neue und innovative Richtung zu geben – die Designer!
So formuliert die Allianz Deutscher Designer (AGD) zu
Recht in ihrer Charta für nachhaltiges Design: „Design
verbraucht Ressourcen – manchmal mehr, manchmal
weniger. Dem nachhaltigen Umgang mit den natürlichen
Ressourcen, mit der Umwelt und mit den Menschen, die
noch über Generationen in dieser Welt leben können
sollen, muss Design gerecht werden.“
Es gibt sie also schon länger, die Vordenker und Idealisten unter den Designern, die die Zeichen der Zeit
erkannt haben. Dies zeigte sich auch bei der Konferenz
von FEMNET zum Thema „Slow Fashion – Fast Fashion“,
wo verschiedene nachhaltige Designstrategien vorgestellt und kontrovers diskutiert wurden.
Wo liegt nun die Herausforderung für uns Designer, die
sich aus den nachhaltigen Konzepten und gesellschaftlichen Erfordernissen ergeben? Der gravierendste Unterschied zur konventionellen Kollektionsentwicklung liegt
darin, bereits weit vor dem eigentlichen Designprozess
mit der nachhaltigen Strategie zu beginnen. Der Designer muss sich vorab Fragen zu nachhaltigen Ressourcen, Materialquellen und Kreislaufsystemen stellen und
nicht erst während oder nach dem Designprozess. Dafür
sind Designstrategien nötig, die aus der Problematik der
Einschränkung bei den nutzbaren Rohstoffen eine Tugend machen, indem sie dies als erste Herausforderung
für ihre Kollektionsentwicklung ansehen.
Auch hierzu ist schon umfangreich entwickelt und vorgedacht worden. Es gibt bereits erfolgreiche Designer
und Konzepte, die eine nachhaltige Strategie realisiert
haben, auch wenn in diesem Feld noch viel Arbeit und
weitere Ideen von Nöten sind.
Nachfolgend werden einige nachhaltige Strategien aus
dem Textilbereich aufgelistet, die zeigen, dass ein Anfang gemacht ist und nachhaltiger Konsum sowie eine
nachhaltige Wertschöpfung keine Visionen mehr sind.
Gerade Studierende sollen dadurch ermutigt werden
schon in ihren universitären Projekten nachhaltige Strategien aufzunehmen und weiter zu entwickeln.
Einsatz nachhaltiger
Materialien
Es gibt bereits eine Bandbreite an ökologischen, zertifizierten Materialien von verschiedenen Herstellern, die
Bio-Baumwolle, Bio-Wolle, Hanf, Bio-Seide, Wildseide,
80 | Im Fokus
Peace-Silk, Soja, Bambus, Lyocell/Tencel, Fasern auf
Algenbasis (SeaCell™) sowie Milchfasern (QMILK®) anbieten. Und da die Nachfrage weiter ansteigt, können wir
in den nächsten Jahren mit einer noch größeren Auswahl
an nachhaltigen Materialien rechnen.
Anfang der 90er Jahre in der Schweiz entworfen und
produziert, gibt es mittlerweile unzählige Nachahmer
und Weiterentwickler. Auch Zirkeltraining hat mit seiner Accessoire-Kollektion, gefertigt aus ausrangierten
Turnmatten und Sportgeräte-Leder, den Nerv der Zeit
getroffen – und upgecycelt!!
Recycling/Upcycling
Im Bereich Re- und Upcyling haben sich über viele Jahre
nachhaltige Konzepte in der Textilindustrie etabliert. Vorreiter war hier eindeutig die Outdoorindustrie. So hatte
Patagonia bereits 1980 erste Synchilla (Polyester) Fleecepullis aus recycelten PET-Flaschen hergestellt. Dies
ist ein Paradebeispiel dafür, dass sich innovative Ideen
durchsetzen, denn heute bieten die meisten Hersteller
wie Fjällraven, VAUDE oder Mammut ähnliche Produkte
an. Haglöfs strebt für 2015 sogar einen Recyclinganteil
bei Bekleidung, Schuhen und Rucksäcken von 40-50%
an.
Ein weiteres innovatives Beispiel ist die Firma Salmo Leather. Das süddeutsche Unternehmen hat es geschafft
aus einem Abfallprodukt der ­Fischindustrie – nämlich
den Häuten der Lachse – Lachsleder zu entwickeln.
Dieses wird mittlerweile im Highfashion Bereich zu
Schuhen, Taschen und Bekleidung verarbeitet.
Auch die Accessoire-Designer haben sich intensiv dem
Thema Recycling/Upcycling angenommen. Wer kennt
sie nicht, die Taschen aus ausrangierten LKW-Planen
von FREITAG. Ursprünglich von den Brüdern Freitag
Abb. 1: Lachsleder Nanai © Salmo Leather
Im Fokus | 81
Zero Waste
Technische ­Innovationen
Die Intension der Zero-Waste-Designer zielt darauf, bei
der Produktion der Kollektion keine Abfälle entstehen zu
lassen. Dies wurde erst durch eine komplett neu entwickelte Schnittkonstruktion und -optimierung möglich.
Vorreiter HessNatur wird im Frühjahr 2015 seine erste
„Zero-Waste-Capsule-Kollektion“ vorstellen.
3D-Printing ist mittlerweile in aller Munde. Als Pionierin
des 3D-Drucks in der Mode gilt die niederländische
Designerin Iris van Herpen. Sie schlug 2011 mit ihren
atemberaubenden Kleidern die Brücke zwischen Technik und Mode und verfolgt diese Entwicklung seither
konsequent weiter. Im Jahr darauf folgten bereits Van
Herpens Schuhmodelle aus dem 3D-Drucker, die sie im
Zuge der Herpen’s Couture Show „Wilderness Embodied” auf der Paris Fashion Week zeigte. Auch Sportartikelhersteller wie Nike und Adidas nutzen diese neue
Technik und entwickeln damit diverse Sportschuhserien.
Eine weitere Zero-Waste-Methode gibt es bei Strickartikeln, die sich dem alt hergebrachten und hochwertigen
„fully fashioned“-Prinzip bedient. Dabei werden Strickwaren (z. B. Strümpfe oder Pullover) von vornherein
auf Maß und Form gestrickt und somit jeglicher Abfall
vermieden. Das Konzept bietet darüber hinaus sogar
ökonomische Vorteile, da die Produktionskosten sinken.
Abb. 2: HessNatur, Zero Waste Capsule Collection © Hess Natur
Abb. 3, Iris van Herpen, 3D-Dress © Iris van Herpen
82 | Im Fokus
Abb. 3, Iris van Herpen, 3D-Dress © Iris van Herpen
Cradle to Cradle – C2C
Cradle to Cradle (C2C) lautet wörtlich übersetzt „von der
Wiege zur Wiege“. Auf die Wertschöpfungskette bezogen bedeutet dies, dass es nur noch Materialkreisläufe
und keinen Abfall mehr gibt. Das C2C-Design-Konzept
sieht dementsprechend vor, dass die abgetragenen
Kleidungsstücke am Ende durch Kompostierung wieder
zu Nährstoffen werden – der Kreislauf ist damit geschlossen.
Trigema war eines der ersten Textilunternehmen, das
C2C T-Shirts auf den Markt gebracht hat. Kurz darauf
folgte bei Trigema schon die erste voll kompostierbare „Change“-Kollektion. Auch Puma hat sich dem
C2C-Konzept verschrieben und zeigte im April 2013
seine erste C2C-Kollektion „InCycle“.
Prof. Nicole Süß
Fachbereich Modedesign, MD.H Düsseldorf
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Modedesign
Bauhaus 2.0
­Moderne ­Gestaltungskonzepte
für Designer
Prof. Iris Eisenkolb
Dozentin Fachbereich Modedesign
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Im Fokus | 85
Bauhaus 2.0
­Moderne ­Gestaltungskonzepte für
Designer
Knapp 100 Jahre nach der Gründung des Bauhauses
prägt das damals reformpädagogische Konzept bis
heute unsere Ausbildungsstätten in den Bereichen
Kunst und Gestaltung und ist mit seiner klaren Ästhetik
- nach wie vor - hoch modern.
Die Idee Walter Gropius Kunst und Technik zu einer
neuen Einheit zu verbinden, ist auch im digitalen Zeitalter
von Bedeutung und wirkt in unserer modernen Gestaltungslehre fort.
Die Vision des Bauhausgründers das Kunsthandwerk
und die Bildenden Künste unter einem Dach zu vereinen,
wurde mit der Eröffnung des Bauhauses 1919 wahr.
Hier sollte eine ganzheitliche Lehre angeboten werden,
die Menschen ausbildet, welche sowohl künstlerisches,
als auch handwerkliches Können zu verbinden lernen,
um der Industriegesellschaft moderne und sinnvolle
Lebensräume zu gestalten. Modulare Systeme wurden
entwickelt, Reduktion aufs Wesentliche konzipiert und
eine moderne Gestaltungslehre vermittelt. All das, um
dem modernen Menschen ein komfortables, stilvolles
Leben einzurichten, welches ökonomisch und ökologisch sinnvoll ist.
“La ligne Bauhaus” fotografiert von Laurent Humbert für Madame
Rietveld-Schröder-Hauses von 1924 © VG Bild-Kunst, Bonn 2012,
Figaro Frankreich
Foto © Kim Zwarts
86 | Im Fokus
Die aufkommende Massenproduktion sollte nicht
negiert, sondern sinnvoll genutzt werden. Die Wahl des
Materials sowie der klaren Formsprache stand bei den
Bauhäuslern im Mittelpunkt. Eine bewusste und umweltschonende Nutzung der Rohstoffe war der Ausgangspunkt, um klare Linien, geometrische Formen und
lichtdurchflutete Kuben mit der umgebenden Natur in
Einklang zu bringen. Die funktionale Formgebung wurde
von zentraler Bedeutung für den modernen Menschen.
Diese klare Nüchternheit spiegelte sich auch in einer
modernen Geisteshaltung wider. Der Verzicht auf alles
ornamental- und dekorativ- Schmückende verweist
auch auf die Nüchternheit und Klarheit im Denken und
trägt den Geist der Moderne.
Gestaltung findet heute gerne modern und zukunftsorientiert statt und zitiert dabei immer wieder traditionelle
Bauhausgedanken. Dabei wird oft nur auf die Gestaltungsästhetik, nicht aber auf ökologische Aspekte
eingegangen. In der Gestaltung von Mode zeigt sich
diese Problematik am deutlichsten, denn Mode ist unter
allen angewandten Künsten die schnelllebigste und am
stärksten konsumierte Disziplin der Gestaltung. Mode
lebt durch seinen schnellen Wechsel und dem Spiel der
verschiedensten Stile. Was heute in ist - ist morgen out,
das widerspricht jeglichem Gedanken von Nachhaltigkeit.
100 Jahre später hat die Massenproduktion und die
Ausbeutung der Rohstoffe ihren scheinbaren Höhepunkt erreicht. Gerade in der Produktion von Bekleidung
findet eine maßlose Überproduktion statt, die zwar
sehr offensichtlich, aber noch längst nicht zu stoppen
ist. Nachhaltigkeit und Fair Trade Konzepte werden viel
diskutiert und von einigen wenigen auch umgesetzt. Die
schonungslose Massenproduktion bleibt davon allerdings nahezu unberührt. Die Industriegesellschaft des
20. Jahrhunderts hat sich in eine Konsumgesellschaft
des 21. Jahrhunderts (weiter)entwickelt, doch leider mit
wenig Verantwortungsbewusstsein für ihre Umwelt. Der
Konsum hat den Geist auf die Oberfläche und nicht auf
das Wesentliche gelenkt.
Valentino Mantel FW 2014s
Im Fokus | 87
Dies ist die Herausforderung, welcher sich Designer in
den kommenden Jahren stellen müssen. Ökologisch interessante und innovative Konzepte gilt es zu entwickeln
oder auszubauen und in den Designprozess von Anfang
an zu integrieren.
Sonia Delaunay, Mantel für Gloria Swanson, 1923-24, National
Design Museum; Foto © Wolfgang Woessner
Ganz in der Tradition der Bauhaus-Philosophie, Handwerk und Kunst in einer Einheit zu verbinden, kann auch
die Mode und ihr Handwerk gesehen werden.
Auch die ästhetischen Aspekte der Reduktion spielen in
der Mode immer wieder eine wichtige Rolle. Minimalismus und Dekonstruktivismus sind gängige Stilmittel, um
Mode nicht nur dekorativ, sondern auch avantgardistisch
zu gestalten.
Wie gelingt es uns nicht nur formal, sondern auch inhaltlich, im Bereich Mode, der im Bauhaus indizierten Idee
von Gestaltung und Langlebigkeit gerecht zu werden
und trotzdem die Lust an der stetigen Veränderung nicht
zu verlieren?
Prof. Iris Eisenkolb
Fachbereich Modedesign, MD.H München
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Im Fokus:
Mode­
management
Autos und Mode – zwei
ungewöhnliche Partner
seit vielen Jahrzehnten
Prof. Olga Mitterfellner
Dozentin Fachbereich Modemanagement
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Im Fokus | 90
Autos und Mode – zwei
­ungewöhnliche Partner seit vielen
Jahrzehnten
Im Laufe des Moduls Markenentwicklung und -führung
besuchte die MOM 1012 Klasse das BMW Museum und
die temporäre MINI-Ausstellung in München, um zu
erörtern, was die Mode und Autoindustrie verbindet. Es
stellte sich heraus, dass dies zwei Partner sind, die sich
seit langer Zeit gegenseitig beeinflussen. Die Autohersteller möchten gerne modisch erscheinen und sind synonym mit Modewochen, während Trendsetter seit den
60er Jahren den Mini zum Kultobjekt machen und
Designer zeigen, welche Schuhe man beim Fahren
tragen sollte.
de Markenslipper. Er wurde gleichzeitig mit dem Automobil (und Rennwagen) in Italien vermarktet und sollte
dem Fuß besseren Halt auf den Pedalen geben. Ausdrücke wie das “Handschuhfach” stammen aus einer Zeit,
als Autofahrer tatsächlich Handschuhe brauchten, die
sie mit einer besonders warmen Jacke trugen, welche im
englischsprachigen Raum als “Car Coat” bekannt war.
Im Juni 2015 hatte die MOM 1012 Klasse ein etwas
ungewöhnliches Thema im Modul Markenentwicklung
und -führung durchgenommen: Autos und Mode.
Diese zwei Felder scheinen auf den ersten Blick an zwei
gegenüberliegenden Enden des Marketingspektrums zu
liegen. Schließlich gehören Automobile zu technischen
Transportmitteln und Mode zu fantasievoller Kleidung.
In Wirklichkeit haben sich diese zwei Partner schon seit
vielen Jahrzehnten gegenseitig positiv beeinflusst.
“Was können nun Autos und Mode an Gemeinsamkeiten
haben?” – das fragten wir uns während einer Vorlesung.
Nun, zuerst einmal gibt es die “Autokultur”, ein Phänomen, welches – wenn man es ganz kurz fast – den
kulturellen Einfluss des Automobils auf die Gesellschaft
beschreibt, als Autos für die Massen zugänglich wurden.
Dies wurde in Film, Fernsehen, Werbung, Musik und Literatur verewigt. In den 60er Jahren wurde der “Original
Car Shoe” entworfen, der heutzutage zu Prada gehören-
Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/
Im Film sah man die perfekt gestylten Schauspielerinnen, die im schicken Kopftuch sich ans Steuer eines
Cabrios setzten. Dann in den 60ern, als der Mini in
England zum Kultauto wurde, entwickelte er sich auch
zum Synonym von “The Swinging Sixties” und Twiggy,
den Beatles sowie der revolutionären britischen Mode
dieser Zeit, beispielsweise dem Minirock. Auf der Suche
nach der aktuellen Beziehung von Autos und Mode
begab sich die MOM 1012 zum BMW Museum hier in
München, um sich während einer Führung die Marken
genauer anzuschauen.
91 | Im Fokus
Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/
BMW Museum – Quelle: Eigenes Foto
Zuvor hatte BMW 2014 für die Modeausstellung “The
Glamour of Italian Fashion 1945-2014“ im Londoner
Victoria and Albert Museum die 7er Serie zur Beförderung von VIP Gästen eingesetzt, damit das glamouröse
Image auch in Europa weiterhin im Gedächtnis bleibt.
Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/
Die Seminargruppe lernte, dass Autohersteller gerne mit
der Modewelt in Verbindung gebracht werden möchten.
Alle kennen die Modewochen, die von Mercedes Benz
gesponsort werden. Und das ist Absicht: Die Adjektive
cool, modisch, avantgardistisch, glamourös usw. werden
hauptsächlich in Großstädten angetroffen, wo Modeschöpfer, Celebrities und Influencer leben. Wichtig ist
hier für die Marketingstrategen, dass Autos sich genau
dort aufhalten und von der Modeszene akzeptiert
werden.
Auch BMW versucht sich in der Modewelt und sponsort
beispielsweise die Indian Bridal Fashion Week. Indien?
– Nun das liegt daran, dass die Automärkte in USA und
Europa fast komplett gesättigt sind, während sie stetig in
den Schwellenländern wie China oder Indien wachsen.
Seit BMW die Marke MINI übernommen hat, gab es hier
zahlreiche Modelle, die von bekannten Persönlichkeiten
der Modewelt überarbeitet wurden und im Museum zu
sehen waren. Darunter auch eine bunt-gestreifte Version
von Paul Smith und eine lila-geblümte Kreation von
Franca Sozzani. Sozzani ist übrigens die Gründerin des
Mailänder Concept Stores 10 Corso Como und Schwester von der Redakteurin der italienischen Vogue.
Weitere Beispiele von modisch-affinen Automobilen
sind das Chanel Fiole Concept Car, der von Gucci überarbeitete Fiat 500 und die Kreation von Zalando in Form
eines fahrenden Einkaufsgehilfen. Zahlreiche ähnliche
Exemplare findet man natürlich auch im Internet oder auf
Automobilmessen.
Wenn jemandem dieses Thema interessant erscheint,
dem könnte auch das aktuelle Buch vom Marketing-Experten Dr. Anders Parment: “Auto Brand: Building Successful Car Brands for the Future” sowie ein Buch über
das sozial-kulturelle Phänomen des Autos: “Autopia:
Cars and Culture” von Peter Wollen und Joe Kerr gefallen. (Beide auf Englisch).
Im Fokus | 92
MINI x Paul Smith –Quelle: Eigenes Foto
BMW Museum – MINI & Swinging Sixties – Quelle: Eigenes Foto
Gucci Fiat 500 – A – Quelle: http://www.buymedesign.com/blog/
Gucci Fiat 500 – B – Quelle: http://www.buymedesign.com/blog/
fiat-500-by-gucci/
fiat-500-by-gucci/
Zalando Car – Quelle: http://www.autodeclics.com/­article/47957-
Original Car Shoe – Quelle: http://lorien.me/2012/car-shoe/
zalando_fashion_car.html
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Mode­
management
Hoher Besuch aus China
bei der MD.H München
Prof. Olga Mitterfellner
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Im Fokus | 95
Hoher Besuch aus China
bei der MD.H München
Nur 24 Stunden verbrachte eine hochrangige Delegati­
on aus der chinesischen Stadt Yancheng in München,
und teilte ihre Zeit zwischen dem Bayerischen Hof und
der MD.H. Denn Design aus dem Westen ist hochge­
schätzt in China.
Am 29. Mai 2015, wurden morgens einige Studenten
und eine Dozentin in den Bayerischen Hof eingeladen,
um im Ballsaal dem 2015 Yancheng China Munich
­Symposium beizuwohnen, dass, nach Aussage einer
MD.H Studentin “einer Sitzung von UN-Abgeordneten
ähnelte”. Tatsächlich war dies eine extreme formelle
Veranstaltung, bei der die Stadt Yancheng für sich PR
machte. Ziel war es, mit deutschen und insbesondere
bayerischen Unternehmen, wirtschaftliche Kooperati­
onen einzugehen. Der Generalkonsul Zhu Wanjin des
chinesischen Konsulats in München hieß alle willkom­
men, während hunderte von internationalen Gästen
gespannt da saßen, und mit Kopfhörern den Simultan­
dolmetschern zuhörten.
So erfuhr man, dass ein deutscher Garnproduzent na­
mens Amann & Söhne nun in Yancheng seinen Standort
hat und, dass Triumph auch von dort aus für ganz China
produziert. Der Höhepunkt der Veranstaltung war die
feierliche Unterzeichnung und Eröffnung des European
Economy and Trade Office Yancheng.
Doch China ist nicht nur an industriellen deutschen Un­
ternehmen interessiert, die das Wachstum des Landes
beschleunigen sollen, sondern auch an westlichem
Knowhow. Besonders in der kreativen Branche, also
Design jeglicher Art, wird unser westliches Denken sehr
hoch geschätzt. Denn die asiatische kreative Branche
denkt anders und möchte wissbegierig den westlichen
Designprozess erlernen. Westliche Designer werden oft
und gerne nach China eingeladen und dürfen dort ihr
Wissen einsetzen.
In diesem Zusammenhang wollte die Delegation auch
gerne die MD.H besuchen, um ein Gespräch für mög­
liche Kooperationen in der Zukunft zu eröffnen. Rund
15 hochrangige Abgeordnete und der Parteichef von
Yancheng erschienen also am Nachmittag mit einer
professionellen Filmkamera und einem Profi-Fotografen
und begannen ihre persönliche Tour im Audimax. Dazu
kamen etwa 5 Personen vom Chemie-Cluster Bayern,
die den Kontakt zwischen der Delegation und der MD.H
initiiert hatten.
Die Besucher waren:
•
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•
Zhu Kejiang, Secretary of CPC Yancheng Municipal
Committee
Zhou Shaoquan, Vice Mayor of Yancheng Municipal
People’s Government
Wang Lianchun, President of Jiangsu Yueda Group
and President of KIA China
Dai Weiyang, Vice Secretary General of CPC Yan­
cheng Municipal Committee Office
Yang Xuefeng Director of Yancheng Municipal Plan­
ning and Reforming Committee
Wang Ya Director of Yancheng Municipal Bureau of
Commerce
96 | Im Fokus
•
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•
Liu Guangqiu Director of Yancheng Municipal For­
eign Afairs Office
Ji Weibing General Manager of Triumph China Com­
pany
Chen Rong General Manager of Jiangsu Yueda
Textile Company
Ma Haibing Chairman of Jiangsu Aviation Industrial
Zone
Dai Tongbing Chairman of Jiangsu Yancheng Natio­
nal Investment Group
Chen Yongqiang Chairman of China PR Group
Co.,Ltd.
Ma Junjian Secretary of CPC CommitteeYancheng
Economic and Technology Development Zone
Begleitet von Rektor Hartmut Bode, Maren Müller-Bier­
baum, Arnold Gevers, Martina Weiß, Bernhard Haufe,
Thomas Mayrhofer und Olga Mitterfellner, wurde die
Delegation durch die einzelnen Stockwerke der MD.H
geführt. Da weder wir Chinesisch sprechen, noch die
Delegation auf Englisch kommunizieren konnte, wurden
alle Konversationen von einer professionellen Dolmet­
scherin mühelos übersetzt.
Besonders lebhaft wurde die Führung im 3. Stock, als
der Parteichef genauer wissen wollte, was den Unter­
schied von “komischer Mode” und der marktüblichen
Mode machte. Hier sah man deutlich, wie die Vorstellung
von Design sich unterscheiden kann: Während man an
einer kreativen Hochschule von den Studenten auch
manchmal fordert, über seinen eigenen gestalterischen
Horizont hinaus zu gehen und die Weiten des konzeptu­
ellen Modedesigns zu erforschen, so ist es für die produ­
zierenden Unternehmen viel wichtiger, industriegängige
und kundenfreundliche Designexemplare zu schaffen.
Amüsiert wanderte die Delegation von Schneiderbüsten
zu Schneiderbüsten und bewunderte die Kreationen der
Studenten. Durch die Vielfalt der Designs wurde ihnen
jedoch schnell klar, dass unsere Studenten alles können:
kreativ denken, industriekonform sein und Trends richtig
aufgreifen und kommerziell verarbeiten.
Auch das Thema Modemanagement blieb nicht uner­
wähnt, als alle Beteiligten sich schließlich zur Diskussion
zusammensetzten. Ein interessantes Gespräch entstand
über den relativ neuen Studiengang, der extrem wichtig
für die Mode- und Textilindustrie ist. Hier waren sich
zwei Welten einig: Mode ist ein Business und braucht
entsprechende Manager, die den gesamten Prozess
verstehen und leiten können. Bei dem hausinternen
“Summit” war es offensichtlich, wie wichtig die Internati­
onalisierung der Branche ist.
Beendet wurde der Besuch recht feierlich mit einer
Übergabe von gegenseitigen Geschenken und ab­
schließenden Fotos. Bevor die chinesischen Besucher
sich zum Flughafen begeben mussten, betonten sie
die deutsch-chinesische Freundschaft mit den Worten:
“Sie sind sehr herzlich willkommen, bei uns in Yancheng”
und ich bin mir sicher, dass nicht jede Hochschule in
Deutschland mit solch einer hochrangigen und interkul­
turellen Freundschaft werben kann.
Im Fokus | 97
2015 Yancheng China Munich Symposium
Olga Mitterfellner zu Gast bei dem Yancheng China Munich Symposium im Bayrischen Hof
Delegation aus China zu Gast an der MD.H
Delegation aus China zu Gast an der MD.H
Delegation aus China zu Gast an der MD.H
Delegation aus China zu Gast an der MD.H
Prof. Olga Mitterfellner
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Im Fokus:
Medien- und
Kommunikationsmanagement
Skandale in den
­Medien – ­Strategische
und ­ethische Überlegungen der öffentlichen
­Kommunikation für den
Journalismus, die Politik
und die Wirtschaft
Prof. Dr. Christian Schicha
Dozent Fachbereich Medien- und ­Kommunikationsmanagement
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Im Fokus | 100
Skandale in den Medien –
­Strategische und ­ethische
­Überlegungen der ­öffentlichen
­Kommunikation für den
­Journalismus, die Politik und
die Wirtschaft
Die Herstellung von Öffentlichkeit über gesellschaftlich
relevante Sachverhalte in Demokratien vom Typ der
Bundesrepublik Deutschland gehört traditionell zu den
zentralen Aufgaben von Medien. Sie sollen die Mächtigen kontrollieren und Missstände aufdecken. In dem
nachfolgenden Beitrag geht es um eine Reflexion und
Einordnung von Skandalen, über die in Medien berichtet
worden ist. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass
inzwischen nicht mehr nur die dafür ausgebildeten
Journalisten Skandale recherchieren und aufdecken,
sondern dass eine Vielzahl weiterer Akteure sich an
derartigen Diskursen z. T. auch anonym über die Neuen
Medien beteiligen. Durch diese Entwicklung wächst das
Risiko von ungeprüften und falschen Verdächtigungen,
aus denen ein öffentlicher Shitstorm entstehen kann,
der für die Reputation einzelner Akteure ebenso wie für
Institutionen fatale Folgen haben kann. Insofern sollen
Handlungsempfehlungen gegeben werden, wie mit einer
derartigen Skandalberichterstattung konstruktiv umgegangen werden kann und welche normativen Rahmenbedingungen notwendig sind, um Fehlentwicklungen zu
vermeiden.
Öffentlichkeiten
Öffentlichkeit wird als Kommunikationssystem interpretiert, in dem Informationen und Meinungen artikuliert
und ausgetauscht werden. Zentral ist vor allem der
offene Zugang zu Informationen ohne Blockaden. Die
Herstellung von Öffentlichkeit im Verständnis einer Kon-
troll- und Kritikfunktion über die Medien dient der Transparenz über gesellschaftlich relevante Entwicklungen,
informiert über die Ziele von Interessensgemeinschaften
und ist grundgesetzlich durch die Meinungs-, Rede-,
Versammlungs- und Pressefreiheit geschützt.
Öffentlichkeit wird als der zentrale Bereich moderner
Gesellschaften klassifiziert, da sich eine Gesellschaft
als solche erkennt und konstituiert. Damit ist aber kein
spezifischer Ort im Verständnis eines räumlichen Forums
gemeint, sondern die Option, in verschiedenen Kontexten und Formen öffentliche Austauschprozesse zu
bewerkstelligen. Öffentlichkeit als gesellschaftliches
Phänomen ist demzufolge dezentral.
Neben der raum-zeitlichen Abgrenzung fungiert Öffentlichkeit auch als Prozess. Sie wird immer neu manifestiert und ist niemals abgeschlossen. In diesem Verständnis ist sie auch offen für neue Einflüsse und Akteure.
Insgesamt kann von einer gesamtgesellschaftlichen
Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften vom Typ der
Bundesrepublik Deutschland nicht mehr ausgegangen werden. Sie wird vielmehr durch eine Vielzahl von
Gruppen- und Spezialöffentlichkeiten ersetzt, die sich
über die unterschiedlichsten Kanäle artikulieren. Es
kann also die eine Öffentlichkeit in einer komplexen und
ausdifferenzierten Gesellschaft nicht geben. Sie bildet
sich vielmehr auf verschiedenen Ebenen heraus. Medien bilden den weitestgehenden Zusammenhang der
Öffentlichkeit, der in ausdifferenzierten Gesellschaften
überhaupt möglich ist (vgl. Schicha 2010).
101 | Im Fokus
Medienöffentlichkeiten
Reichweiten
Mit dem Entstehen der Massenmedien haben sich die
Öffentlichkeitsformen verändert, denn aus den realen
Formen der Face-to-face-Öffentlichkeit (u. a. Marktplatz, Straße) haben sich zunächst weitergehende
Versammlungsöffentlichkeiten herausgebildet (u. a.
Theater, Zirkus), die durch massenmediale Medienöffentlichkeiten ergänzt worden sind, die nicht mehr
an einen raum-zeitlichen Ort gebunden sind und auch
virtuelle Orte des Austausches durch das Internet umfassen und potenziell weltweit wahrgenommen und aktiv
mitgestaltet werden können. Durch die Handynutzung
im öffentlichen Raum fallen Schranken weg, die durch
Einrichtungen wie Telefonzellen gegeben waren. Dort
wurden einstmals in geschlossen Räumen Informationen
ausgetauscht, die nur die Adressaten erreichten. Heute
werden die Menschen im öffentlichen Raum auch unfreiwillig Zeugen von den Bekenntnissen ihrer Mitbürger, die
auf der Straße, in Lokalen oder öffentlichen Verkehrsmitteln ausgetauscht werden (vgl. Klimek 2013).
Publizität als Norm
Medienöffentlichkeiten bilden eine Pluralität, die sich
aus unterschiedlichen Techniken (u. a. Print und Rundfunk) sowie öffentlich-rechtlichen und privat-kommerziellen Organisationsformen und Trägern zusammensetzen. Ihre Inhalte werden durch spezifische
Medienstrategien (u. a. Orientierung an Auswahlkriterien
der Verkürzung, Vereinfachung, Personalisierung und
Unterhaltungszentrierung) im Rahmen der konkreten
Programmausgestaltung geprägt, um Interesse beim
Publikum zu erzeugen. Sie informieren über Entwicklungen, die über den individuellen Erfahrungshorizont hinausgehen und bilden somit ein frei zugängliches Podium,
das Wissen verfügbar macht und einordnet. Verständigung, Urteilsvermögen, Sachkenntnis und Integrationsfähigkeit sollen nach diesem idealtypischen Verständnis
durch die Berichterstattung über die massenmedialen
Kanäle bedient werden. Die Massenmedien verfügen
einerseits über einen integrierenden und festigenden
Charakter, andererseits kommt ihnen aber auch eine
innovative Funktion zu, indem sie über Ereignisse, Neuigkeiten und Tendenzen für Veränderungen berichten
und Wertewandlungsprozesse dokumentieren. Die aus
der Fülle von Ereignissen selektierten Themen stellen
Aufmerksamkeitsregeln zur Sicherung der Anschlussfähigkeit von Kommunikation im Hinblick auf die öffentliche Meinung dar, wodurch unterschiedliche Positionen
sichtbar werden (vgl. Schicha 2010).
Orientierung an Nachrichtenfaktoren
Die Vermittlungsprozesse in den Medien unterliegen einer Reihe von Selektions-, Gewichtungs- und
Darstellungskriterien. Durch die zeitlich und räumlich
vorherrschenden Begrenzungen bei der Informationsvermittlung ergeben sich Verzerrungen durch die
Notwendigkeit der Komplexitätsreduktion. Die Orientierung an Nachrichtenfaktoren führt zudem dazu, dass
Im Fokus | 102
nicht immer zwingend Relevantes, sondern vermeintlich
Interessantes berichtet wird.
„Massenmedien organisieren Öffentlichkeit,
insofern sie selektieren und präzisieren, kontextualisieren und illustrieren, weiter entwickeln,
prognostizieren, kommentieren und isolisieren
und all das ihrem Publikum zur Kenntnis bringen“ (Krotz 2002: 47).
Insofern findet zumindest über die klassischen Massenmedien keine symmetrische Dialogorientierung statt,
bei der die rationale Prüfung von Geltungsansprüchen
im Mittelpunkt steht. Die uneingeschränkte Information
und Chancengleichheit findet ebenso wenig statt wie
die Möglichkeit zur Interaktion. Es handelt sich primär
um Prozesse der einseitigen Informationsaufnahme, die
jedoch Anschlussdiskurse zulassen. Die Onlinekommunikation liefert hier jedoch bessere Möglichkeiten. Durch
die diskursive Dialogstruktur ist ein Austausch von Argumenten möglich. Die technische Infrastruktur ermöglicht
eine Feedbackorientierung, die ein zielgruppenorientiertes Beziehungsmanagement ermöglicht.
Neue Diskursteilnehmer durch Neue
­Medien
Während Journalisten und Öffentlichkeitsarbeiter lange
die Inszenierungsdominanz bei der Vermittlung und
Einordnung von Themen und Meldungen innehatten,
beteiligen sich durch neue Medien an derartigen Debatten nun auch Bürger ohne einen journalistischen Hin-
tergrund. Es wird getwittert und gebloggt. Über soziale
Netzwerke werden Informationen und Fotos z. T. anonym geschaltet. Ein Impressum ist teilweise nicht mehr
vorhanden. Jeder, der über die technische Infrastruktur
und ein entsprechendes Wissen verfügt, kann sich an
Debatten beteiligen (vgl. Pentzold/Katzenbach/Fraas
2014).
Insgesamt werden an die Online-Kommunikation die
gleichen normativen Ansprüche für die Herstellung von
Öffentlichkeit zu relevanten Themen und Ereignissen
gestellt, die auch über die klassischen Medienkanäle
vermittelt werden sollten. Im Web 2.0 existiert zusätzlich
eine diskursive Dialogstruktur, die den Austausch von
Interaktionen und Argumenten und daraus resultierend
die öffentliche Meinungs- und Willensbildung ideal
typischerweise fördern kann, um Glaubwürdigkeit und
Vertrauen aufzubauen (vgl. Zerfaß/Pleil 2012). Häufig
geht es aber nur um Unterhaltung und Selbstdarstellung. Sogenannte „You Tube-Berühmtheiten“ präsentieren im Internet selbst produzierte Videos und suchen
Anerkennung durch eine möglichst hohe Klickrate und
positive Kommentare (vgl. Schuegraf 2013). In Social-Media-Foren wie Facebook werden Rezipienten zu
Produzenten (Prosumer), indem sie Beiträge einstellen
und bewerten und somit zu einer neuen Gemeinschaftsund Identitätsbildung beitragen (vgl. Keller 2013).
103 | Im Fokus
Risiken durch offene Strukturen im I­ nternet
Die Kommunikation im Internet ist mit erheblichen
Risiken verbunden. Sie stellt eine ideale Plattform für
Verschwörungstheorien, Gerüchte, Lügen, falsche
Anschuldigungen und Skandalisierungen dar. Dort
besteht die Möglichkeit, anonyme Einträge einzustellen.
Es werden negative Bewertungen vorgenommen, die
auch dann kaum zu entfernen sind, selbst wenn sie sich
als unangemessen und haltlos herausstellen. Vertreter
neuer sozialer Bewegungen, wie auch „normale“ Bürger,
können ihrem Ärger über Blogs im Internet Raum geben,
sich mit Gleichgesinnten via Twitter vernetzen und damit
eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erreichen, die
dazu führen kann, dass der Reputation des Beschuldigten ungerechtfertigter Schaden zugeführt werden kann.
Im Gegensatz zu den klassischen Medien zeichnet sich
die Online-Kommunikation durch einen höheren Beschleunigungsgrad aus. Es ist technisch kein Problem,
Mitteilungen in Echtzeit an ein breites Publikum kostenlos zu verschicken, welches direkt darauf reagieren
kann. Somit ist ein rasches Feedback möglich.
Statusmeldungen werden bei Facebook gepostet. Die
Selbstdarstellung findet sich bei Xing wieder. Wikipedia-Einträge dienen der Wissensvermittlung und Eigenwerbung. Online-Communities bieten als Beziehungsnetzwerke einen konstruktiven Raum für Diskussionen,
können aber aus kommerziellen Gründen auch zur
Datenverwertung genutzt werden (vgl. Deutschlandradio
2013). Insofern lassen sich konstruktive Entwicklungen
aufzeigen, die unter dem Stichwort „Schwarmintelligenz“
subsumiert werden können. Gleichwohl lassen sich aber
auch destruktive Entwicklungen benennen, die Personen oder Gruppen massiv schaden können.
Dies hängt auch damit zusammen, dass sich durch die
Neuen Medien die Geschwindigkeit der Informationsübertragung rasant erhöht hat, was dazu führen kann,
dass die Maxime Gründlichkeit vor Schnelligkeit z. B. im
Journalismus eine höhere Priorität erlangt. In diesem Fall
werden dann Informationen ohne ausreichende Recherche weitergegeben. Die Anzahl der Falschmeldungen,
Verschwörungstheorien und Beschimpfungen gegenüber Personen, Organisationen und Institutionen nimmt
schon aufgrund des quantitativ wachsenden Anteils an
Diskursteilnehmern stetig zu.
Veränderungen der Kommunikation
Mit 40 Millionen Nutzerinnen und Nutzern sind rund die
Hälfte aller Bundesbürger Mitglied in mindestens einem
sozialen Netzwerk. Dies sind etwa 75 % aller Internetnutzer (vgl. Grimm/Zöllner 2012). Faktisch haben sich
soziale Netzwerke zu lukrativen Geschäftsmodellen
entwickelt. Aufgrund der Reichweite und der Folgen
derartiger Aktivitäten hat die öffentliche Debatte um die
Veränderung von Privatheit durch die auf Werbeeinnahmen angewiesenen sozialen Netzwerke wie Facebook
in den letzten Jahren rasant zugenommen. Jugendliche Nutzer sind der aktuellen JIM-Studie zufolge in
der Regel drei Stunden am Tag in sozialen Netzwerken
Im Fokus | 104
aktiv (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverband
Südwest 2013). Sie geben ihre Daten bisweilen sorglos
an die virtuelle Öffentlichkeit weiter, ohne sich über die
daraus resultierenden langfristigen Konsequenzen im
Klaren zu sein. Einstmals geschützte Kommunikationsräume werden geöffnet. Daten können somit weltweit
abgerufen und verbreitet werden:
„Aufzeichnungsmedien wie Handys, Digitalkameras, leistungsstarke Computer, Verbreitungsmedien im Social Web, also Netzwerk- und Multimediaplattformen wie Facebook, Twitter oder
YouTube, persönliche Websites und Wikis sind
die neuartigen Instrumente solcher Skandalisierungsprozesse. Sie liegen heute potenziell in
den Händen aller“ (Detel 2013: 57).
Grundsätzlich sind Daten im Internet weltweit für jeden
abrufbar und dauerhaft verfügbar. Theoretisch kann
jeder beobachtet werden und wird selbst zum Beobachter und damit zum Erzeuger oder Objekt eines Skandals
(vgl. Pörksen/Detel 2012). So werden z. B. enorme
Datenmengen mit skandalösem Inhalt durch Organisationen wie Wikileaks oder ehemalige Geheimdienstmitarbeiter wie Edward Snowden auch mit Unterstützung
von internationalen Qualitätsmedien ins Netz gestellt,
die Skandale und Missstände deutlich machen und so
für die breite Öffentlichkeit sichtbar sind (vgl. Schicha
2012, Schrader 2014).
Faktisch gilt, dass einmal ins Netz gestellte Daten
schwer oder gar nicht zu löschen sind. Private Daten
sind daher gegen Missbrauch zu schützen (vgl. Heuer 2013). Faktisch nutzen kommerzielle Anbieter die
Möglichkeit, Kundendaten zu sammeln, um Kaufprofile
zu erstellen (vgl. Marquardt 2012). Doch es gibt auch
Formen der freiwilligen Offenbarung, wenn Personen
private Informationen ins Netz stellen. Sie artikulieren
ihre politische Meinung, berichten über ihre Krankengeschichte und haben keine Hemmungen, „sich online zu
entblößen“ (Tönnesmann 2013: 47).
Debatin (2012) weist darauf hin, dass im Netz häufig
Sachverhalte geäußert werden, die im realen Dialog
so nicht artikuliert werden. Die Hemmschwelle scheint
geringer zu sein, weniger überlegte Statements zu
artikulieren. Es darf aber nicht übersehen werden, dass
derartige Bemerkungen in sozialen Netzwerken theoretisch die ganze Internetgemeinschaft erreichen können.
Übergriffe und Pöbeleien durch diffamierende Texte
und Bilder (Cyberbulling, -mobbing, -stalking) verstoßen gegen die Menschenwürde. Diese kann dann auch
durch Schmähkritik in sozialen Netzwerken, über Blogs
und Kommentare auf Internetseiten erfolgen. Durch
Handy-Videos, Twitter-Botschaften, SMS-Nachrichten
können Informationen und Dokumente rasent schnell an
eine Vielzahl von Nutzern verbreitet werden.
Grundsätzlich ist zu differenzieren zwischen gerechtfertigter Kritik an Personen oder Institutionen und Statements, die nur das Ziel haben, destruktiv zu agieren, um
105 | Im Fokus
Einzelnen oder Gruppen zu schaden. Besonders problematisch für die Reputation einzelner oder Gruppen ist
ein virtueller Shitstorm, der wie folgt definiert wird:
„Der Begriff steht für einen online aufflackernden, sich rasend steigernden Sturm der Empörung, der sich gegen Einzelne, aber auch gegen
Gruppen oder Unternehmen richten kann“
(Pörksen/Detel 2012: 114).
In derartigen Fällen können auch Skandalvorwürfe
erfolgen, die dann gerechtfertigt sein können, wenn die
entsprechenden Anschuldigungen den Tatsachen entsprechen. Wenn Vorwürfe berechtigt sind, sollte darauf
offen, transparent und ggf. mit einer Entschuldigung und
dem einzuhaltenden Versprechen einer Fehlerkorrektur
reagiert werden, um Schadensbegrenzung zu betreiben (vgl. o. V. 2014). Vielfach handelt es sich aber um
ungerechtfertigte Kritik, die sich bei gründlicher Prüfung
nicht belegen lässt.
Es ist wichtig, die Merkmale, Bereiche und einschlägigen
Falltypen herauszuarbeiten, die im Rahmen der Skandalisierung relevant sind, um Bewertungsmaßstäbe für ihre
Einschätzung und Beurteilung zu erhalten.
Bedeutung und Reichweite von Skandalen
Obwohl jeder Skandal einzigartig ist, besitzen alle Skandale gemeinsame Merkmale. Es erfolgt ein Verstoß gegen die herrschende Ordnung oder das geltende Recht,
aus dem ein Schaden resultiert, der einem oder mehre-
ren Tätern, aber auch Vereinen, Parteien und Unternehmen zugeschrieben werden kann (vgl. Kepplinger 2012).
An einem Skandal sind stets verschiedene Akteure beteiligt. Es gibt einen Skandalierten, der einer relevanten
Verfehlung bezichtigt wird. Dann existieren ein Skandali­
sierer, der diese Verfehlung öffentlich macht, und
Medien, die darüber berichten (vgl. Bulkow/Petersen
2011). Darüber hinaus gibt es öffentliche Reaktionen,
die Anschlussdiskurse und -berichte erzeugen können.
Jeder Skandal umfasst bestimmte Zyklen, die sich in die
Latenz-, Aufschwungs-, Etablierungs- und Abschwungphase einteilen lassen können. In der Latenzphase
befinden sich die Handlungen, die den später anzuprangernden Skandal ausmachen. Die eigentliche Enthüllung
durch die Medien wird in der Aufschwungphase angesiedelt. Die Etablierungsphase umfasst den Zeitraum
der öffentlichen Debatte und Bewertung des Skandals,
die bereits negative Konsequenzen für den Skandalisierten haben kann. In der Abschwungphase lassen das
öffentliche Interesse und die Berichterstattung nach
(vgl. Burkhardt 2006).
„Da wo Scandalum ist, ist Ärger.“ Auf diese kurze
Formel bringt Burkhardt (2006: 71) die Debatte
um die negative Konnotation von Skandalen.
Es geht um Streit und Auseinandersetzungen,
um Eifersucht, Neid und Schmach. Der Skandal
stellt einen Bruch von Normen und Konventionen dar und avanciert zu einer moralischen Kategorie. Die Entrüstung über skandalträchtige
Im Fokus | 106
Ereignisse führt zur Aufregung. Durch die Überschreitung moralischer Grenzen wird ein Missstand diagnostiziert, der Anstoß erregt. Soziale
Werte, Normen oder moralische Codes werden
verletzt. Die Reputation der Skandalverursacher
ist nachhaltig beeinträchtigt und kann zu einem
massiven Vertrauensbruch führen. Demzufolge sollen Skandale aus Sicht der Verursacher
möglichst nicht an das Licht der Öffentlichkeit
gelangen, damit eine Rufschädigung vermieden
wird.
Skandalöses Verhalten findet sich in der Wirtschaft,
der Politik, der Kunst, dem Sport, den Medien und der
Verwaltung. Moralische Verfehlungen von Personen und
Personengruppen können – je nach Tragweite – als
Skandale klassifiziert werden, sofern allgemein anerkannte Maßstäbe verletzt werden und damit in Unordnung geraten. Die Voraussetzung für die Skandalisierung
ist ein persönlicher Vorsatz des Beschuldigten, sofern z.
B. der Vorwurf der Korruption, Bestechung oder persönlicher Vorteilsnahme aus niederen Motiven erfolgt (vgl.
Imhof 2002).
Insgesamt umfasst der Skandal im Gegensatz zum Gerücht die drei Komponenten Verfehlung, Enthüllung und
Entrüstung (vgl. Hondrich 2002). Dabei findet zunächst
eine moralische oder justitiable Verfehlung einer Person oder Institution statt. Im Anschluss daran wird die
Verfehlung enthüllt. Schließlich ist eine öffentlich breit
geteilte Empörung über das Geschehen zu beobachten. Wer einen Skandal auslöst, stellt die bestehende
Ordnung in Frage und provoziert den Eklat. Bestehende
Schamgrenzen und Anstandsregeln werden verletzt.
Insgesamt verfügen Skandale über eine große Anziehungskraft, da sie ein hohes Unterhaltungspotenzial
besitzen. Entrüstung und Betroffenheit verschaffen den
Rezipienten einen Erlebniswert. Darüber hinaus lassen
sich zahlreiche Nachrichtenfaktoren wie Überraschung,
Prominenz, Negativität und Konflikt mit Skandalen in
Verbindung bringen.
Skandale erzeugen öffentliche Empörung und Anschlussdiskurse. Wenn darüber berichtet wird, ist das
öffentliche Interesse groß. Skandalmeldungen erreichen
ein breites Publikum, was sich positiv auf Einschaltquoten, den Verkauf von Printprodukten oder Klickraten
im Internet auswirkt. Eine große Wirkung wird vor allem
dann entfaltet, wenn es sich bei den Skandalvorwürfen
um prominente Personen, Parteien oder Wirtschaftsunternehmen handelt. Besonders interessant ist ein
durch die Medien aufgedecktes skandalöses Verhalten
dann, wenn bestimmte moralische Erwartungen an eine
Person erschüttert werden, die aufgrund ihrer Position
oder eigener moralischer Ansprüche an das Verhalten
anderer eine besonders hohe Reputation besitzen sollte.
Dann geht es z. B. um Fälle, in denen Akteure Bescheidenheit und soziales Engagement fordern und dann bei
der Steuerhinterziehung ertappt werden. Eine große
öffentliche Empörung lösen auch Personen mit einer
besonderen Verantwortung für andere – wie z. B. Politi-
107 | Im Fokus
ker, Lehrer oder Priester aus, sofern ihnen ein Verhalten
nachgewiesen werden kann, was anderen geschadet
hat.
Normen und Werte
Inhaltlich geht es bei Skandalen immer um die Überschreitung von gesellschaftlich vorgegebenen Normen
und Werten, die sich im Laufe der Zeit wandeln können.
So ist z. B. die Homosexualität eines Politikers oder gar
die Ehescheidung inzwischen in Deutschland kein Skandal mehr (vgl. Bulkow/Petersen 2011).
Skandale gelten als Verstöße, die sich gegen wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Normen und
Werte richten und daher geächtet werden können (vgl.
Mork 2007). Im Mittelpunkt stehen stets menschliche
Handlungen oder Unterlassungen. Ein skandalöses
Unterlassungsdelikt kann z. B. stattfinden, wenn Hilfe in
konkreten Notsituationen unterlassen wird. In der Regel
geht es bei der Bewertung des potenziellen Skandals
primär um die Verletzung von konkreten Werten auf
ganz unterschiedliche Ebenen, zu denen u. a. Treue,
Nächstenliebe und Freiheit gehören. Von besonderem
öffentlichem Interesse sind „Normüberschreitungen
im besonders anschaulichen Zusammenhang Liebe,
Sexualität, Finanzen und politische Macht“ (vgl. Bulkow/
Peterson 2011: 15). Es geht stets auch um die Kategorien Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Sofern es Normverletzungen gibt, werden die beschuldigten Akteure an
den (medialen) Pranger gestellt. Der Skandal geht mit
dem Verlust an Reputation und Ehre einher. Dann ist von
Sündern und Schande die Rede, da der praktizierte oder
angenommene Normbruch zu einer allgemeinen Empörung führt, die entsprechend negativ konnotiert wird. Es
wird vom Beschuldigten sogar eine Beichte erwartet. Im
Falle eines großflächigen Skandals ist auch von Sumpf
oder Seuche die Rede.
Vorurteile
Skandale lassen sich zwar anhand von bestimmten Maßstäben konkret beurteilen, gleichwohl hängt die Bewertung des Empörungsgrades über bestimmte Verfehlungen auch von individuellen und kollektiven Sichtweisen,
Erfahrungen und normativen Einstellungen ab.
„Sind Schemata einmal etabliert, erscheinen
alle Fakten und Interpretationen, die ihnen
widersprechen, als faktisch oder irreführend, als
Übertreibung oder Untertreibung. Dagegen wird
alles, was die Schemata zu bestätigen scheint,
bereitwillig akzeptiert und notfalls stimmig
gemacht. Geglaubt wird nur noch, was zum
Schema passt. Die eigene Sichtweise erscheint
dabei nicht als subjektive Meinung, sondern als
objektive Einsicht in die Natur der Sache“ (Kepplinger 2012: 25).
Es fällt häufig schwer, eigene Vorurteile zu revidieren,
konträre Meinungen zu akzeptieren und sich selbst in
seiner Einschätzung zu korrigieren. Wenn Journalisten
beispielsweise einen Wirtschaftsskandal aufdecken
Im Fokus | 108
möchten, von dessen Existenz sie überzeugt sind, dann
fällt es nicht leicht zu akzeptieren, dass nach näherer
Prüfung an den erhobenen Vorwürfen ggf. nichts dran
ist. Dies dokumentiert dann auch die eigene Fehleinschätzung, die nur ungern zugegeben wird. Zudem ist ja
auch der Druck da, eine Geschichte zu publizieren. Dies
kann dann auch dazu führen, dass nur geringe Verfehlungen zu einem Skandal aufgebauscht werden.
Zudem neigen Journalisten dazu, Themen aufzugreifen, die von anderen Kollegen bereits bearbeitet werden. Eine kollektive Skandalberichterstattung erzeugt
„Trittbrettfahrer“ (Kepplinger 2009: 185), die sich an
den Skandalisierungstrend zu einem bestimmten Thema
beteiligen, auch wenn ggf. gar keine Substanz und Relevanz vorhanden ist. Die Skandalauswahl und -bewertung
folgt Trends und Zyklen. Der eigentliche Umfang und
die Schwere des Vergehens sind hierbei nicht zwingend
ausschlaggebend.
„Trotzdem glaubt auch bei Skandalen jeder, er
urteile unabhängig von den anderen – sozusagen aus eigener Einsicht. Jeder betrachtet sich
fälschlicherweise als autonome Person: Was sie
für ein individuelles Urteil halten, ist einer sich
selbst bestärkenden Glaubensgemeinschaft.“
(Kepplinger 2012, S. 28).
Menschen neigen dazu, sich bestimmten (Vor-)Urteilen
anzuschließen und den neutralen und unabhängigen
Blick gerade dann zu verlieren, wenn eine emotionale
Empörungswelle die öffentliche Debatte prägt.
Möglichkeiten der Analyse
Es gibt unterschiedliche Zugänge, um Skandale zu
untersuchen. So bietet es sich zunächst an, die Geschichte und Veränderungen von Normen im Lichte der
Öffentlichkeit zu untersuchen, die Skandalbewertungen
nach sich gezogen haben. Des Weiteren kann aufgezeigt werden, wie unterschiedliche Mediengattungen
wie der Boulevard- und Qualitätsjournalismus Skandalisierungen publizistisch erörtern. Sofern der Verlauf
einzelner Skandale rekonstruiert wird, kann herausgearbeitet werden, ob die Kritik an die vermeintlichen oder
tatsächlichen Skandalverursacher berechtigt ist oder
nicht. Darüber hinaus ist es auch möglich, die Rolle von
Personen oder Organisationen zu untersuchen, die an
Skandalen beteiligt sind. Dazu gehören auch die Medien,
die Skandale öffentlich machen und die Reaktionen des
Publikums. Weiterhin besteht die Option, die grundlegenden Mechanismen von Skandalen aufzuzeigen. Hier
werden z. B. Verläufe systematisch herausgearbeitet,
die im Rahmen der Skandalisierung beobachtet werden
können, um charakteristische Merkmale erkennen und
bewerten zu können (vgl. Kepplinger 2012).
Medienskandale
Medien als Wirtschaftsunternehmen
Einige Journalisten orientieren sich weniger an der
Unschuldsvermutung oder der Beachtung des Persönlichkeitsschutzes, sondern primär daran, möglichst
109 | Im Fokus
schnell entsprechende Meldungen und Berichte zu
veröffentlichen, um damit Geld zu verdienen. Medien, die
zugleich ein Wirtschafts- und Kulturgut sind, arbeiten in
der Regel profitorientiert, müssen rentabel wirtschaften
und stehen in Konkurrenz zu ihren Mitbewerbern. Sie
funktionieren nach dem Marktmodell, sofern von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland
einmal abgesehen wird. Letztere finanzieren sich zum
Großteil über die Gebühren der Zuschauer und besitzen
einen Programmauftrag im Sinne eines Integrationsmodells, um auch ihrer Informationspflicht über gesellschaftlich relevante Sachverhalte nachzukommen.
Die meisten Medienbetriebe sind hingegen wirtschaftlich abhängig von der Resonanz der Rezipienten, die
sich je nach Medium von Internet-Klicks, Rundfunk-Einschaltquoten oder dem Verkauf von Printprodukten
messen lässt. Die Quote und die Auflage bestimmen die
Werbepreise, die für die Existenz von Medienbetrieben
unverzichtbar sind, sofern keine Subventionierung oder
Gebührenfinanzierung erfolgt (vgl. Friedrichsen/Gertler
2011). Insofern ist die Skandalisierung ein beliebtes
Instrument, um die Aufmerksamkeit zu wecken, die ökonomisch erfolgsversprechend sein kann.
Stand der Forschung
Beim Blick auf die einschlägige „Medienskandalliteratur“
fällt auf, dass der Blick primär auf einschlägige Fallbeispiele gelegt wird. Hingewiesen sei hier exemplarisch
auf die Publikation von Stephan Lamprecht (2013). Er
liefert einen Überblick über Lügen, Skandale und Intrigen. Das Spektrum reicht von Medizinskandalen über
Sportskandale, politische Skandale, Drogenskandale
und Medienskandale bis hin zu Sexskandalen.
Ein primär theoretischer Zugang zum Phänomen der
Medienskandale aus einer wissenssoziologischen Perspektive wird von Burkhardt (2006) vorgenommen. Der
Autor greift unter Rekurs auf konkrete Fälle auf Konzepte des Konstruktivismus sowie der Diskurs-, Narrations- und Systemtheorie zurück, um die Funktionen
von Medienskandalen für das kollektive Differenz- und
Identitätsmanagement der Gesellschaft aufzuzeigen.Die
Monografie von Kepplinger (2005) setzt sich der Frage
auseinander, wie aus einem Missstand ein Skandal wird,
in welcher Form Täter zu Opfer avancieren und inwiefern
sich bei einem zunächst desinteressierten Publikum Empörung einstellt.
Gleich zwei Publikationen beschäftigen sich systematisch mit skandalösem Kampagnenjournalismus. Scherz
und Schuler (2007) dokumentieren in ihrem Sammelband ausgewählte Fälle, bei denen Prominente und
Nicht-Prominente sich willkürlichen medialen Angriffen
u. a. in Boulevardzeitungen wie BILD ausgesetzt sahen.
Gmür (2007) greift in seiner Monografie Rufmordfälle
auf, deren typische Muster aufgezeigt, eingeordnet und
bewertet werden. Beide Bücher liefern zentrale Analysekategorien, die wertvolle Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen liefern. Konstruktiv werden konkrete
Kriterien benannt, um Verfehlungen und Missstände zu
reduzieren.
Im Fokus | 110
Der Interviewband von Bergmann und Pörksen (2009)
schließlich widmet sich Journalisten, die Skandale
aufgedeckt haben oder in anderen Fällen selbst in Medienskandale involviert waren.
Bulkow und Petersen (2011) kümmern sich in Ihrem
Sammelband um die „Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung“ von Skandalen
anhand von konkreten Fallanalysen in der Politik, in den
Medien und in der Kunst aus einer interdisziplinären Perspektive mit unterschiedlichen methodischen Zugängen.
Dass der Kampf um die Aufmerksamkeit und Schlagzeilen unter Konkurrenzbedingungen auch zu journalistischen Fehleinschätzungen und einer unangemessenen
Skandalisierung führen kann, dokumentiert der Band
von Zimmermann (2011), der sich mit Verfehlungen
innerhalb der Schweizer Medienlandschaft beschäftigt
hat.
Wie Medien Skandale „machen“
Skandale werden von den Medien nicht nur aufgegriffen,
sondern anhand spezifischer Produktionsbedingungen,
sowie Verarbeitungs- und Präsentationslogiken konstruiert, die sich auch am Nachrichtenwert orientieren.
„Die Medien decken keine Skandale auf. Skandale sind keine vorgegebenen Sachverhalte, die
man aufdecken und berichten kann, sondern die
Folge öffentlicher Kommunikation über Missstände“ (Kepplinger 2012: 77).
Medien machen Missstände zu Skandalen, indem sie von
ihnen angeprangert werden. Sie haben im Rahmen ihrer
Kontroll- und Kritikfunktion die Aufgabe, gesellschaftlich relevante Skandale aufzudecken und öffentlich zu
machen. Der investigative Journalismus hat hier wichtige
Arbeit geleistet. So wurde u. a. die Watergate-Affäre 1973–1974 in den USA durch die Recherche der
Washington-Post-Journalisten Bob Woodward und Carl
Bernstein ans Licht gebracht, die dazu geführt hat, dass
der damalige amerikanische Präsident Richard Nixon
zurücktreten musste. Neben Umwelt-, Wirtschaftsund Sportskandalen standen auch in Deutschland in
den letzten Jahren zahlreiche politischen Skandale
im Mittelpunkt des Interesses, die von investigativen
Journalisten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht
werden konnten (vgl. Kamps 2007). Das Aufspüren von
derartigen Missständen ist für freie Gemeinschaften
von zentraler Bedeutung. Nur in den Gesellschaften, in
denen Pressefreiheit herrscht und wo Journalisten die
Möglichkeit ­besitzen, frei und ohne politischen Druck zu
recherchieren, um Missstände und Skandale transparent
zu machen, kann eine Demokratie funktionieren. Gleichwohl sind Skandale „keine vorgegebenen Sachverhalte,
die man aufdecken und berichten kann, sondern die
Folge der öffentlichen Kommunikation über Missstände“
(vgl. Kepplinger 2005: 63) Der Maßstab zur Beurteilung
von Skandalen wandelt sich im Laufe der Zeit und ist
stets von den gängigen Norm- und Wertmaßstäben der
entsprechenden Gemeinschaft abhängig.
111 | Im Fokus
Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Massen­
medien Skandale aufdecken. Kepplinger (2009) zufolge
werden jedoch Missstände von Journalisten als empörend klassifiziert. Es hängt also auch von der Einschätzung der Berichterstatter ab, ob ein ­Missstand oder
Fehlverhalten als skandalös bewertet wird oder nicht.
Bei der Bewertung werden implizit oder ­explizit eine
Reihe von Grundsatzfragen gestellt, um den poten­ziellen
Grad der Skandalisierung durch die Verursacher zu eruieren (vgl. Kepplinger/Ehmig/Hartung 2002):
•
•
•
•
•
•
Wird die Existenz eines behaupteten Vorwurfes
zugegeben oder bestritten?
Ist der Vorwurf einer einzelnen Person zuzuschreiben oder sind widrige strukturelle Ursachen dafür
verantwortlich?
Waren die Folgen des Fehlverhaltens bekannt oder
nicht?
Hätte es die Möglichkeit gegeben, negative Konsequenzen ggf. rechtzeitig abzuwehren?
Sind konkrete Personen geschädigt worden?
Ist Druck auf den Verursacher ausgeübt worden, das
ein Fehlverhalten erklären oder sogar legitimieren
kann?
Neben der notwendigen Aufklärung neigen Medien
aber auch zu unangemessenen Dramatisierungen. Zwar
müssen komplexe Sachverhalte sich im Rahmen der
Berichterstattung zumindest durch die Überschrift – die
auf die Meldungen aufmerksam machen sollen – auf
wenige Schlagworte reduzieren. Schlagzeilen, die spe-
ziell in den Boulevardmedien mit Begriffen wie Desaster, Störfall, Bedrohung, Gift oder Lebensgefährdung
operieren, wecken zwar öffentliches Interesse, sind aber
häufig übertrieben. Kepplinger (2012: 50 f.) differenziert
hier zwischen unterschiedlichen Typen, die als Skandale
klassifiziert werden:
•
•
Horror-Etiketten (z. B. Waldsterben, Giftregen, Killerbakterien),
Katastrophen-Suggestionen (z. B. Vogelgrippe,
Schweinegrippe, Super-GAU),
Katastrophen-Collagen (z. B. Aidsviren, Rinderwahnsinn, Schweinepest).
Hierbei wird auch mit dramatisierenden Bildern gearbeitet, um den Ernst der Situation zu dokumentieren. Wenn
Ärzte und Pfleger einen Schutzanzug und Mundschutz
tragen, wird das Bedrohungspotenzial, z. B. von ansteckenden Krankheiten zusätzlich visuell unterstrichen.
Darüber hinaus kann auch durch optische Mittel wie
den Einsatz von Zeitlupen, Schwarz-Weiß-Aufnahmen,
Texteinblendungen oder Vergrößerungen gearbeitet
werden. Wenn dann auch noch emotionalisierende Trauermusik eingespielt wird, ist die Dramaturgie perfekt,
die Ängste, Empörung und Wut erzeugen kann. Durch
derartige Inszenierungsstrategien kann es zu unangemessenen Übertreibungen kommen, die dem faktischen
Skandalisierungsgrad u. U. konträr gegenüberstehen.
Im Fokus | 112
Neben der konstruktiven Skandalaufdeckung können
Medienberichterstatter jedoch auch selbst in Skandale
verwickelt sein, wie die nachfolgenden Beispiele dokumentieren (vgl. Schicha 2013).
Der Journalist Tom Kummer arbeitete ab 1993 als
Hollywood-Korrespondent u. a. für die Süddeutsche
Zeitung (SZ). Zahlreiche seiner gefälschten Interviews
mit prominenten Filmstars wurden im Magazin der SZ
abgedruckt (vgl. Kummer 2009).
Journalistische Skandale
Vor mehr als 30 Jahren erschütterte die Veröffentlichung der gefälschten Hitlertagebücher die Glaubwürdigkeit des STERN. 1983 gab es die legendäre Pressekonferenz, bei der der Journalist Gerd Heidemann die
angeblichen 62 Hitler-Tagebücher präsentierte, die er
für mehr als neun Milliarden DM beim Fälscher Konrad
Kujau erwarb. Es stellte sich jedoch heraus, dass hier
die Kontrollmechanismen beim STERN massiv versagt hatten. Das Papier, auf dem Hitler angeblich seine
Aufzeichnungen aufgeschrieben haben soll, wurde mit
den Weißmachern versetzt, die erst nach 1950 in der
Papierherstellung zum Einsatz gekommen sind. Teile der
Bücher wurden aus historischen Dokumenten abgeschrieben (vgl. Heidemann 2009, Seufert 2008).
Die solide Recherche unter Berücksichtigung mindestens zweier Quellen gilt als Basis jeder seriösen Berichterstattung. Dennoch werden frei erfundene Berichte
immer wieder ausgestrahlt oder gedruckt. Dies dokumentiert das eklatante Versagen der journalistischen
Sorgfaltspflicht. Skandale, an denen Journalisten selbst
beteiligt waren, sind ebenfalls publizistisch aufgearbeitet
worden (vgl. Schicha 2013)
Die Berichterstattung im „Fall Sebnitz“ über ein angeblich von Skinheads ertränktes Kind mit Migrationshintergrund stellte sich als falsch heraus, da der Junge bei
einem Badeunfall ohne Fremdeinwirkung ertrunken war.
Die Falschmeldung wurde von mehreren Zeitungen publiziert, die offensichtlich ohne eigene Recherche voneinander abgeschrieben hatten (vgl. Jogschies 2001).
Der Fernsehproduzent Michael Born hatte 1996 insgesamt 23 Fernsehbeiträge gefälscht und mit Erfolg an
privat-kommerzielle und öffentlich-rechtliche Politikmagazine verkauft, die die z. T. völlig absurden Geschichten
von Katzenjägern über Krötendrogen bis hin zu angeblichen Auftritten des Ku-Klux-Klan in Deutschland ausgestrahlt haben (vgl. Born 1997, Gerhards/Borg/Lambert
2005, Pritzl 2006).
Die Beispiele dokumentieren die Gier nach einer interessanten und lukrativen Geschichte, die unter Missachtung
journalistischer Standards zu einem Skandal werden
kann. Dies ist dann besonders verwerflich, wenn Unschuldige zu Unrecht skandalisiert werden und die Medien als Plattform genutzt werden, um falsche Verdächtigungen und Lügen zu verbreiten, wie die nachfolgende
Beispiele zeigen.
Wenn prominente Persönlichkeiten beschuldigt werden, andere Personen sexuell missbraucht zu haben,
113 | Im Fokus
dominiert dieser Verdacht große Teile der Medienberichterstattung. Die öffentliche Empörung ist groß und
sogenannte Experten äußern medienwirksam ihre Beurteilung, noch bevor der juristische Prozess überhaupt
zu einem Urteil gelangt ist. Im Fall des Wettermoderators
Jörg Kachelmann, der einer Vergewaltigung beschuldigt
und schlussendlich freigesprochen wurde, ging eine
lange Mediendebatte voraus. Während die Wochenzeitung DIE ZEIT und der SPIEGEL den Angeklagten
publizistisch unterstützten, wurden in der BUNTE und in
der BILD-Zeitung erhebliche Vorwürfe ihm gegenüber
artikuliert (vgl. Kepplinger 2012).
Dass Medien auch psychische Gewalt auf Opfer der Berichterstattung ausüben können, dokumentieren zahlreiche Beispiele, bei denen die BILD-Zeitung eine negative
Rolle gespielt hat. Dieses Blatt steht nach wie vor für einen gezielten Kampagnenjournalismus und sorgt dafür,
dass Personen systematisch persönlich diffamiert und
diskreditiert werden (vgl. Boenisch 2007, Kepplinger
2012). Provokation und Tabuverletzung stellen dabei
zentrale Strategien dar, um die Aufmerksamkeit der
Leser zu erreichen. Normale Ereignisse werden zu Skandalen hochstilisiert. Dabei kann die Grenze zur Lüge,
Fälschung und Manipulation durchaus überschritten
werden. Symbolische Zuspitzungen dienen der Komplexitätsreduktion und Vereinfachung. Es erfolgt eine klare,
aber nicht zwingend berechtigte Zuordnung von Gut und
Böse. Inhalte werden übertrieben und aufgebauscht.
Dabei kommen persuasive und manipulative Mittel und
Methoden zum Einsatz, die Lügen und Verleumdungen
enthalten können. Artikel über die Studentenbewegung
in BILD kamen zu dem Ergebnis, dass demonstrierende Studierende pauschal als „Rabauken“, „Akademische Gammler“, „Eiterbeulen“, „Schreihälse“, „Geistige
Halbstarke“, „Politische Spinner“ und „Krawall-Studenten“ bezeichnet worden sind. Mehrfach wurden grüne
Politiker Opfer von BILD-Kampagnen. Die Veränderung
eines Bildausschnitts etwa vermittelte den falschen
Eindruck, dass der ehemalige Minister Jürgen Trittin bei
einer Gewalt-Demo dabei gewesen sei.
Doch nicht nur Politiker, sondern auch Medienschaffende wurden regelmäßig Opfer der BILD-Berichterstattung. Durch die Streuung ehrverletzender Gerüchte
wurden Prominente diffamiert. So sah sich der Moderator Andreas Türk dem Vorwurf der Vergewaltigung
ausgesetzt. BILD startete eine Kampagne gegen ihn.
Überschriften wie „Die Sex-Akte Türck“ und „Hier steht
Andreas Türck ein letztes Mal im Licht“ trugen dazu bei,
dass der zu Unrecht erhobene Vergewaltigungsvorwurf publizistisch ausgeschlachtet wurde. Da sich die
Vorwürfe nicht erhärtet haben, wurde Türck freigesprochen. Dennoch war seine TV-Karriere dadurch für Jahre
zerstört (vgl. Schertz/Schuler 2007).
Politische Skandale
Politiker stehen unter einer permanenten Medienbeobachtung. Sie brauchen die Medien, um ihre Positionen
darzulegen. Ihre Karriere hängt von den Wahlentscheidungen der Bevölkerung ab. Deshalb ist es zentral,
Im Fokus | 114
einen möglichst positiven Eindruck beim Wahlvolk zu
hinterlassen. Ein Fehler in der Öffentlichkeit oder ein
durch die Medien öffentlich gemachtes Fehlverhalten
kann einen derartig großen öffentlichen Druck erzeugen, dass es zu einem Karriereknick oder gar zu einem
Karriereende kommt. Eine missglückte Rede über die
Rolle der Juden im Dritten Reich führte z. B. 1988 zum
Rücktritt des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp
Jenninger.
Besonders sensibel werden persönliche Bereicherungen von Politikern wahrgenommen. So flog der damalige
Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) 1991 auf Kosten der Industrie. 2002 wurden dienstlich erworbene
Bonus-Flugmeilen von den Politikern Gregor Gysi (DIE
LINKE) und Cem Özdemir (BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN)
privat genutzt. Im selben Jahr erhielt der ehemalige
Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) Zuwendungen einer PR-Agentur (vgl. Kepplinger 2012).
Der damalige Bundespräsident Christian Wulf musste
2012 aufgrund der zahlreichen Vorwürfe einer persönlichen Bereicherung zurücktreten, auch wenn diese
Beschuldigungen durch ein juristisches Verfahren später
entkräftet wurden.
Skandalöses Verhalten von Politikern aufzudecken
ist inzwischen nicht nur eine journalistische Aufgabe,
sondern sie wird auch durch Bürgerinnen und Bürger mit
Hilfe der Neuen Medien wahrgenommen.
Dass die zahlreichen Plagiatsfälle der Doktorarbeiten
von Politikern inzwischen nachgewiesen werden konnten, ist Rechercheuren aus der Zivilgesellschaft zu verdanken, die ihre Fundstellen öffentlich gemacht haben
und damit dazu beitragen konnten, dass unsauberes
wissenschaftliches Arbeiten nachgewiesen werden
konnte. Dank diverser Internetforen wie Guttenplag und
Vroniplag sind neben der Dissertation von Karl Theodor
zu Guttenberg die Arbeiten verschiedener Politiker einer
systematischen Prüfung unterzogen worden. Insgesamt
haben zu Beginn nicht die klassischen Massenmedien,
sondern die aktiven Internetnutzer dazu beigetragen, die
Plagiatsaffaire aufzudecken.
Der ehemalige Verteidigungsminister Karl Theodor zu
Guttenberg (CSU) ist zurückgetreten, nachdem ihm
eine Täuschung nachgewiesen werden konnte (vgl.
Schicha 2011). Er hatte versäumt, rechtzeitigt seine
Fehler zuzugeben, die berechtigten Vorwürfe wiederholt bestritten und wurde durch immer neue Plagitasfunde überführt (vgl. Kepplinger 2012). Die damalige
Bundesforschungsministern Annette Schawan (CDU)
übte im Rahmen seiner Plagiatsaffäre heftige Kritik am
Verhalten des Ministers von zu Guttenberg. Die Prüfung
ihrer eigenen Promotion führte jedoch ebenfalls zu einer
Aberkennung ihres Doktortitels und einem Rücktritt. Inzwischen wurde weiteren Politikern der Doktortitel nach
der Aufdeckung der Plagiatfinder durch die nachfolgende Prüfung der jeweils zuständigen Fakultäten an den
Universitäten aberkannt.
115 | Im Fokus
Wirtschaftsskandale
Ebenso wie Politiker spielen auch Entscheidungsträger
in den Wirtschaftsbetrieben im Rahmen von Skandalvorwürfen eine besondere Rolle. Die hohen Managergehälter werden a priori als Skandal klassifiziert.
Ein grundlegendes Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Profitorientierung von Unternehmen führt dazu,
dass eine hohe Transparenz der Aktivitäten gegenüber
der Öffentlichkeit erwartet wird. Dies gilt vor allem für die
Branchen, die über ein erhebliches Risikopotenzial wie
z. B. Chemieunternehmen oder die Atomindustrie verfügen. Als besonders dramatisch werden Störfälle, Unfälle
und Katastrophen wahrgenommen, die die ökologische
Umwelt und die Gesundheit von Mensch und Tier nachhaltig belasten.
Äußerst sensibel reagieren Verbraucher auch auf Lebensmittelskandale, da hier eine unmittelbare Betroffenheit der Bürger zu konstatieren ist. Gerade in derartigen
Fällen berichten nicht nur die traditionellen Medien über
die Skandale, sondern auch Verbraucherschützer und
Umweltverbände, die den Skandal neben der notwendigen Aufklärung auch dazu nutzen, die eigene Reputation
zu stärken (vgl. Geffken 2005).
Fazit
„Skandalisierungen […] verweisen auf die
Grenzlinien zwischen dem Öffentlichen und
dem Geheimen. […] Sie indizieren Umbruchs­
perioden im sozialen Wandel, sie verweisen auf
Moralisierungswellen und damit fundamente
Prozesse des Norm- und Medienwandels […],
und sie spiegeln die Ausdifferenzierung des
Mediensystems […] und die damit verbundenen
neuen Selektions- und Interpretationslogiken in
der medienvermittelten Kommunikation“ (Imhof
2002: 94).
Die medienethische Relevanz von Medienskandalen ist
offenkundig, da diese moralische Fehlentwicklungen
innerhalb der Berichterstattung öffentlich machen.
Gleichwohl sollten derartige Entwicklungen nicht isoliert
betrachtet werden. Der Skandal ist immer auch ein Spiegel gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und sollte
daher in einen entsprechenden Bewertungszusammenhang eingeordnet werden.
An der Aufdeckung von Missständen besteht zu Recht
ein großes öffentliches Interesse. Die Herstellung von
Öffentlichkeit bei Missständen ist schließlich ein Zeichen
einer funktionierenden Demokratie. Skandale besitzen
eine erhebliche Anziehungskraft. Emotionen werden geschürt. Es erfolgt eine klare Einteilung in Gut und Böse
bzw. Opfer und Täter. Schließlich geht es stets darum,
die knappe Ressource der öffentlichen Aufmerksamkeit
zu erreichen. Was nicht wahrgenommen wird, existiert
Im Fokus | 116
nicht. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass
Skandale mediale Anschlussdiskurse zur Folge haben.
Der Skandal liegt hierbei nicht zwingend am provozierenden Verhalten der Protagonisten, sondern ggf. vielmehr darin, dass ihnen zuvor eine Bühne gegeben wird,
um sich skandalträchtig medial in Szene zu setzen.
Neben den inszenierten Skandalen, bei denen es in
erster Linie darauf ankommt, öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten, gibt es die ebenfalls primär kommerziell
motivierte Berichterstattung, wo weniger die Wahrhaftigkeit der Journalisten, sondern ihre ökonomischen Interessen im Mittelpunkt stehen. Medienethisch relevant
sind besonders die Fälle, in denen unter dem Etikett
des glaubwürdigen Journalismus plumpe Fälschungen
präsentiert werden, die das Vertrauen in die Berichterstattung nachhaltig erschüttern. So dokumentieren die
frei erfundenen Berichte von Born und Kummer, dass
die Kontrollmechanismen der betroffenen Redaktionen
kläglich versagt haben.
Die Skandalisierung ist immer dann ungerechtfertigt,
wenn Menschen oder Institutionen geschädigt werden
und die Vorwürfe haltlos sind. Dies ist beim Paparazzi-Journalismus ebenso der Fall wie bei den Rufmord-Kampagnen der BILD-Zeitung.
Als grundlegender Handlungsbedarf bleibt festzuhalten,
dass journalistische Arbeitsbedingungen erforderlich
sind, die den Berichterstattern trotz Zeit- und Konkurrenzdruck ermöglichen, gründlich zu recherchieren, um
Qualität zu liefern.
Zudem sind Journalisten, aber auch Blogger und alle anderen Diskursteilnehmer gefordert, grundsätzlich sensibel und zurückhaltend mit skandalisierenden Vorwürfen
gegenüber Personen und Gruppen zu sein, wenn diese
nicht bewiesen sind. Jeder, der mit nichtzutreffenden
Behauptungen in die Öffentlichkeit tritt, löst damit weitreichende öffentliche Reaktionen auch über die Neuen
Medien aus, die sich dann rasant verbreiten können.
Eine unangemessene Skandalisierung kann dramatische Folgen für die Betroffenen haben. Die Verbreitung
falscher Verdächtigungen und üble Nachrede sind
zudem justiziabel und können neben Schadenersatzforderungen auch die Reputation desjenigen beschädigen,
der einen unangemessenen Skandalisierungsverdacht
ohne die notwendige Prüfung des Wahrheitsgehaltes
vorschnell verbreitet hat.
Die Herstellung von Öffentlichkeit ist im Rahmen der
Skandalberichterstattung mit Chancen und Risiken
verbunden. Journalisten haben einen öffentlichen Auftrag und sind verpflichtet, der Öffentlichkeit gegenüber
gesellschaftlich relevante Informationen zur Verfügung
zu stellen, indem sie über Skandale von öffentlichem
Interesse berichten. Es existieren zwar spezifische
Strukturen und Sachzwänge, die verhindern, dass
die Ansprüche an eine angemessene und informative
Berichterstattung immer eingelöst werden können.
Berichterstatter stehen in einem Spannungsverhältnis
zu den faktischen Gegebenheiten der journalistischen
Praxis, die durch Konkurrenzdruck, kommerzielle
Interessen und Zeitdruck geprägt sind. Der Zwang zur
117 | Im Fokus
Aktualität schränkt strukturell die Möglichkeit zur umfassenden Recherche, zur ­Überprüfung und zur Hintergrundinformation ein. Dennoch sollte versucht werden,
eine Annäherung an ideale Leitbilder bei der Herstellung
von Öffentlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren, um
medienethische Standards auch im Rahmen der Skandalberichterstattung zu gewährleisten. Hierbei sind
folgende Regeln zu beachten:
Bei Beachtung dieser Leitlinien kann es sicher eher gelingen, die Öffentlichkeit über real existierende Skandale
angemessen aufzuklären, ohne Unschuldige zu diskreditieren. Eine unzulässige Skandalisierung beschädigt
nicht nur die Reputation des Opfers, sondern auch die
desjenigen, der dafür verantwortlich ist.
•
Bergmann, J./Pörksen, B. (Hrsg.) (2009): Skandal! Die
Macht öffentlicher Empörung, Köln.
•
•
•
•
Die Privat- und Intimsphäre von Personen ist grundsätzlich auch dann zu respektieren, wenn ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung besteht.
Die Aufklärung von Missständen ist grundsätzlich
positiv zu bewerten. Gleichwohl sollte darauf geachtet werden, dass Informanten und Unbeteiligte
dadurch nicht zu Schaden kommen.
Eine sauber recherchierte Netzkritik kann nur dann
moralisch angemessen sein, wenn der Verfasser seine eigene Identität Preis gibt und somit haftbar gemacht werden kann, falls er gegen Regeln verstößt.
Grundlegende ethische Standards wie die Wahrheitspflicht und die Beachtung der Menschenwürde
sind grundsätzlich einzuhalten.
Die möglichen negativen Folgen der Skandalberichterstattung sollten vor der Veröffentlichung reflektiert werden und ggf. dazu führen, dass entsprechende Meldungen unterlassen werden, sofern ein
unkalkulierbarer Schaden zu erwarten ist, der nicht
verantwortet werden kann.
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Anmerkung: Dieser Beitrag ist erschienen in: Bentele,
Günter / Piwinger, Manfred / Schönborn, Gregor (Hrsg.):
Kommunikationsmanagement. Strategien – Wissen –
Lösungen, 5.8.1., S. 1-35
121 | Im Fokus
Prof. Dr. Christian Schicha
Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf
Mediadesign Hochschule
für Design und Informatik GmbH
Private Hochschule
staatlich anerkannt
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10969 Berlin
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Im Fokus:
Medien- und
Kommunikationsmanagement
Hast du mich ­gerade
­Kleines genannt?
Der ­Liebesfilm –
Eine ­Annäherung an ein
­unterschätztes Genre
Prof. Dr. Helmar Baum
Dekan Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement
Mediadesign Hochschule Berlin
Im Fokus | 124
Hast du mich gerade Kleines
genannt?­– Eine Annäherung an ein
unterschätztes Genre
Auch wenn sie heute nicht mehr Humphrey Bogart und
Charles Boyer, sondern Richard Gere und George
Clooney heißen – das Phänomen, das die verzweifelte
Minnie Moore ihrer Freundin Florence zu erklären
versucht, kennen viele Frauen: Auf der Leinwand scheint
die Liebe größer und dramatischer, als alles was das
wahre L(i)eben zu bieten hat. [1]
“You know I think that Movies are a conspiracy?
I mean it. I mean they are an actually conspiracy
because they set you up for it. They set you up
from the time you are a kid, they set you up to
believe in everything, they set you up to believe
in ideals and strength and good guys and romance and of course love. Love for instance. So
you believe it, right? You go out, you start looking. It doesn‘t happen, you keep looking. You
get a job, […], you spend a lot of time fixing your
apartment and […] then you learn how to be feminine… you know quotes „feminine“, learn how
to cook...there is no Charles Boyer in my life […].
You know, I‘ve never even met a Charles Boyer.
I never met Clark Gable, I never met Humphrey
Bogart, I never met anyone, you know. They
don‘t exist […], that‘s the truth. But the movies
set you up, you know? They set you up and no
matter how bright you are, you believe it.“ [2]
Wie kaum eine andere Mediengattung ist die Romance [3]
in ihrer Rezeption weiblich dominiert. Bereits vor 70 Jahren waren Liebesfilme die bei Frauen beliebteste und bei
Männern gleichzeitig unbeliebteste Filmgattung; heute
liegt das Geschlechterverhältnis in den Kinosälen bei
etwa 70:30. [4] Damit ist sie besonders geeignet, kulturell
geprägte Weiblichkeitsbilder erfolgreich zu manifestieren oder in Frage zu stellen.
Mit steigender Mediatisierung des Alltags generieren
Heranwachsende ihre Vorbilder nicht mehr nur aus dem
direkten sozialen Umfeld, sondern auch aus teils fiktiven
medialen Werken. Ob Luise Miller, Elizabeth Bennet oder
Hermine Granger: Mediale Vorbilder können Mädchen
und Frauen das eigene Selbst neu überdenken lassen
und so (hypothetisch) gesellschaftliche Veränderungen
auf der Makro- wie auch auf der Mikroebene mittragen.
Romance – Der Versuch
einer Definition
Als weiblich besetztes Genre wird der Romance gesellschaftlich wie auch filmwissenschaftlich geringere
Bedeutung beigemessen als männlich assoziierten, wie
dem Thriller oder dem Western. Diese Vernachlässigung romantisch geprägter Filme führt zu einer bisher
unsauberen Genreabgrenzung. Anette Kaufmann weist
1 Der folgende Artikel reflektiert ausgewählte Ergebnisse der Bachelorarbeit „Hast Du mich gerade Kleines genannt – Eine empirische Untersuchung
der historischen Entwicklung des Frauenbilds in romantischen Hollywood-Filmen“ von Anja Stahr, Berlin, 2014
3 Im Folgenden wird der im amerikanischen Diskurs gebräuchliche und
von Anette Kaufmann im Deutschen eingeführte Begriff der „Romance“ als
Genreklassifikation übernommen (Vgl. Kaufmann 2007)
2 Wörtlich entnommen aus Minnie und Moskowitz. R: John Cassvetes. 1971
4 Vgl. Kaufmann 2007: 45
125 | Im Fokus
Prof. Dr. Helmar Baum, Fachbereichsleiter Medien- und
­Kommunikationsmanagement
darauf hin, dass in der Genreforschung „lediglich in zwei
Publikationen […] der rote Faden der […] Filmauswahl
der Liebes-Aspekt“ [5] sei. In sämtlichen übrigen Studien
seien Filme mit dominierender Liebes-Handlung jeweils
entweder als Komödie oder als Melodrama geführt [6].
Dass eine Genredefinition doch komplizierter ist als vielleicht vermutet, zeigt eine Studie von Bordwell/Staiger/
Thompson: „Of the one hundred films […] ninety-five
involved romance at least one line of action, while eighty-five made that the principle line of action.“ [7] Obwohl
die Autoren sich auf Produktionen bis zum Jahr 1960
beziehen, kann man ähnliche Verhältnisse auch im heutigen Kino beobachten. 85% aller Filme in einem Genre
zusammenzufassen scheint weder aus Kritiker- oder
Produzenten- noch aus Zuschauersicht zielführend.
Umso mehr, da ein Großteil der genannten romantischen
Handlungsstränge für die entsprechenden Filme und
deren eigentliches Erzählziel irrelevant sind. [8]
5 Ebd: 29
6 Neben diesen beiden Kategorien hat lediglich die Romantic Comedy,
oft auch als RomCom abgekürzt, als Subgenre einen Platz im kollektiven
Kulturbewusstsein.
Obwohl immer noch sehr grob gefasst, kommt Caweltis
Definition dem Kern der Romance deutlich näher:
“The crucial defining characteristic of romance
is […] that its organizing action is the development of a love relationship, usually between a
man and a woman.” [9]
Die betonte handlungsorganisierende Funktion der erzählten Liebesgeschichte grenzt einen Großteil der 85%
aus. Gleichzeitig lässt Caweltis genug Platz innerhalb der
Genregrenzen für Filme, die nicht nur die Neu-sondern
auch die Weiterentwicklung einer (potenziellen) Beziehung erzählen. Die angesprochene Heterosexualität des
Paares ist, obwohl nach wie vor mehrheitlich vertreten,
heute nicht mehr als so selbstverständlich zu betrachten
wie noch 1976.
Romance – Ein historischer
Überblick
Die Zeitspanne von den 1950ern bis heute weist in
Bezug auf die Romance drei charakteristische Perioden
auf, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen.
7 Bordwell et al. 1985: 16
8 Insbesondere in auf ein männliches Publikum zugeschnittenen Filmen
dienen weibliche Love Interests vorrangig als „Fräulein in Not“ und/oder als
sexuelle Trophäe nach erfolgreicher Missionsbewältigung. In den vergangenen Jahren, in denen maskulin dominierte Genres auch vermehrt weibliche
Zuschauer anziehen konnten, werden romantische Nebenerzähl­stränge auch
zur Zuschauervermehrung durch die Attraktion eben jener neuentdeckten
Zielgruppe genutzt.
9 Cawelti 1976: 41
Im Fokus | 126
Das Ende des klassischen Hollywood
Mit der Erfindung des Tonfilms begannen die „Goldenen
Jahre“ Hollywoods, in denen fünf (vertikal komplett integrierte) Major- und drei Minorstudios das amerikanische
Filmgeschäft oligopolistisch untereinander aufteilten. [10]
Diese Ära, geprägt von einem teilweise bis heute anhaltenden Starkult [11], war 1954 bereits dem Ende geweiht. Ein verschärftes Kartellrecht und der Einzug des
Fernsehens in die amerikanischen Haushalte ließen die
Umsätze erstmals in der Geschichte sinken. [12]
Zumindest die Idole glorreicherer Zeiten blieben dem
Kino erhalten und färbten mit ihrem Glanz auf vergleichsweise neue Gesichter wie Marilyn Monroe,
Audrey Hepburn und Shirley MacLaine ab. Die Romance
wurde in dieser Phase gleich von mehreren stilbildenden
Regisseuren geprägt. Billy Wilder wechselte spielend
zwischen abstrusen Komödien und ernsten Dramen [13]
dem Melodrama drückte der deutsche intellektuelle
Douglas Sirk seinen Stempel auf, wie kaum ein zweiter.
[14]
Die Romantic Comedy erlebte zwischen 1954 und
1964 eine Blütezeit. Viele Filme dieser Ära zählen heute
als zeitlose Klassiker, darunter Frühstück bei Tiffany,
Bettgeflüster und Manche mögen‘s heiß. Mit Audrey
Hepburn, Doris Day und Marilyn Monroe sind diese mit
den größten Stars der Romance dieser Zeit besetzt,
die jeweils einen eigenen Frauentyp widerspiegelten.
Marilyn gilt mit ihren üppigen Kurven noch heute als
größtes Sexsymbol aller Zeiten, die ihr von 20th Century
Fox verordneten Rollen bestachen eher durch unbedarfte Naivität und Charme, denn durch Geist. Dazu setzte
Audrey Hepburn als ausnehmend elegante Europäerin
in wortgewandten Rollen einen direkten Kontrapunkt.
Doris Day hingegen war als Amerikas konservative Ikone
berühmt geworden und stärkte diesen Ruf mit jedem
Film, in dem sie ihre jungfräuliche Ehre (teilweise unter
großen Anstrengungen) gegen männliche Unzucht verteidigte und bis zur Heirat bewahrte.
Die Entzauberung der Liebe
Die gesellschaftlichen Umbrüche der späten Sechziger
Jahre beeinflussten auch die Filmindustrie. Mit der Stärkung der Frauenrechte in den USA ging neben einem
erstmaligen Anstieg der Frauenerwerbsquote auf über
50% [15] auch eine Verdoppelung der Scheidungsrate
zwischen 1960 und 1970 einher. [16]
10 Vgl. King 2002: 27
11 Schauspieler wie Humphrey Bogart, Lauren Bacall, Cary Elizabeth Taylor
oder Cary Grant gelten bis in die heutige Zeit als die Filmstars. Ihre Filme werden insbesondere in der New Romance zum vielzitierten Fixpunkt.
12 Vgl. Schatz 2004: 211 ff.
13 z. B. Das Appartement, das er jedoch geschickt in den Mantel der
Komödie hüllte.
15 Vgl. Caplow 1994: 124 ff.
14 Vgl. Klinger 1994
16 Vgl. Schultz 1988: 382 f.
127 | Im Fokus
In Hollywood hielt eine neue Generation Filmemacher
Einzug, und mit ihr das maskulin dominierte „Buddy Movie“. Für die plötzliche Abwesenheit von Frauen auf der
Leinwand macht Philippa Gates gekränkten männlichen
Stolz verantwortlich:
„To punish women for their desire for equality,
the buddy film pushes them out of the center of
the narrative [...]. By making both protagonists
men, the central issue of the film becomes the
growth and development of their friendship.
Women as potential love interests are thus eliminated from the narrative space.” [17]
Anette Kaufmann fasst diese Periode aus Sicht der
Romance ernüchtert zusammen:
„Zu den Verlierern dieses Wandels zählte der
Liebesfilm, denn das ‚Buddy“-Kino der ausgehenden 1960er Jahre zeigte wenig Interesse an
frauenaffinen Gefühlsfilmen. […] In den Filmen
der späten 1960er, der 1970er und der frühen 1980er war das Lieben eine überwiegend
frustrierende Angelegenheit mit ungewissem
Ausgang. Das Happy End, das [...] zu den Konstanten des klassischen Hollywood Kinos zählt,
war fast völlig von der Leinwand verschwunden,
[…] Lieben [bedeutete] vor allem Desillusionierung.“ [18]
Dass große Gefühle, wenn auch aus der Mode, dennoch großen Anklang beim Publikum fanden, zeigt der
durchschlagende Erfolg von Arthur Hillers Love Story,
der 1970 mit Einnahmen von über 100 Mio. US$ zum
erfolgreichsten Film des Jahres wurde.
Mit anderen Romances dieser Dekade verbinden ihn dabei gleich mehrere Eigenschaften. Im Gegensatz zu den
Romantic Comedies des Goldenen Hollywoods erzählen Filme dieser Phase nur selten die Entstehung einer
Beziehung vom Kennenlernen bis zur Paarwerdung. [19]
Stattdessen konzentrieren sich die Werke auf schon
bestehende Beziehungen, welche Krisen unterworfen
werden und an denen sie zumeist scheitern. Das märchenhafte Happily Ever After hält der Überprüfung durch
die Realität nicht stand und muss weichen.
Die bedeutendsten Darstellerinnen der Romance in diesen zwei Jahrzehnten waren neben der durch Love Story
zu Weltruhm gelangten Ali MacGraw, dem Sinnbild des
modernen Collegegirls, insbesondere Barbra Streisand
und Goldie Hawn. Während Letztere in ihrer unerschütterlich optimistischen Art gleichermaßen zur Geliebten
wie zum „Buddy“ wurde und so das Glück in der Liebe
finden durfte, war Streisands tiefe, dramatische Liebe
stets dazu verdammt, an ihrem Erfolg oder ihren Ambitionen zu zerbrechen.
17 Gates 2004: 24
18 Kaufmann 2007: 9
19 Welche bis dahin das klassische Happy End darstellte.
Im Fokus | 128
Die New Romance
Nachdem Mitte der Achtziger Jahre wieder erste harmlose Romantic Comedies auf die Leinwand fanden,
sollten drei Filme den Siegeszug der New Romance einleiten: Mondsüchtig, Harry und Sally und Pretty Woman.
Seitdem finden sich jedes Jahr zahlreiche Liebesfilme
in den Kinos: Erfolgreichstes Subgenre unserer Zeit
ist zweifellos die Romantic Comedy, doch auch andere
Genres gewannen wieder zunehmend an Bedeutung.
Die Verfilmung klassischer Literatur führte den Romantic
Costume Film zu neuer Blüte, die bekannteste Darstellerin in diesem Subgenre ist heute die Britin Keira
Knightley. [20] Das Melodrama wurde insbesondere durch
die Verfilmung zahlreicher Romane des Autors Nicholas
Sparks wiederbelebt und um zeitgenössische Elemente
erweitert. Das Romantic Drama erlebte von allen Sub­
genres die größte kreative Entwicklung und damit
einhergehend die größte thematische Differenzierung
innerhalb einer Untergattung. Die Themen reichen hier
von Obsession [21], Rassismus und Armut [22] bis hin zu
Liebe zwischen Mensch und Maschine. [23] Als einziges
20 Nach ihrem Auftritt in der Abenteuer-Historien-Reihe Fluch der Karibik
war sie in mehreren Kostümfilmen zu sehen, darunter dreimal unter der Regie
von Joe Wright: Stolz & Vorurteil. 2005; Abbitte. 2007; Anna Karenina. 2012
Andere Auftritte in diesem Genre: Edge of Love – Was von der Liebe bleibt. R:
John Maybury. 2008; Die Herzogin. R: Saul Dibb. 2008; Eine dunkle Begierde.
R: David Cronenberg. 2011
Subgenre der Romance kann das Romantic Drama auch
heute noch regelmäßig Erfolg bei der Verleihung renommierter Filmpreise vorweisen.
Konklusion
Die zunehmende thematische und künstlerische Standardisierung der amerikanischen Romantic Comedy in
den vergangenen 20 Jahren macht das Genre auch für
Branchenauszeichnungen zunehmend unattraktiver.
Gleichwohl begründet das Genre nach wie vor große
Schauspielkarrieren. Darstellerinnen wie Julia Roberts,
Meg Ryan, Sandra Bullock und Reese Witherspoon
sind – obwohl auch in anderen Genres aktiv und dafür
vielfach ausgezeichnet [24] - untrennbar mit der Romantic
Comedy verknüpft.
Literatur
Bordwell, David; Staiger, Janet; Thompson, Kristin
(1985): The classical Hollywood cinema. Film style &
mode of production to 1960. New York: Columbia University Press.
Caplow, Theodore (1994): Recent social trends in the
United States, 1960-1990. 1st pbk. ed. Montreal,
Buffalo: McGill-Queen’s University Press (Comparative
charting of social change).
21 Vgl. Eine verhängnisvolle Affäre. R: Adrian Lyne. 1987; Untreu. R: R:
Adrian Lyne. 2002
22 Vgl. Monster’s Ball. R: Marc Foster. 2001
23 Vgl. Her. R: Spike Jonze. 2013
24 Den Oscar als beste Hauptdarstellerin gewannen für dramatische Rollen:
Julia Roberts für Erin Brokovich (2001), Reese Witherspoon für Walk The Line
(2006), Sandra Bullock für The Blind Side (2010)
129 | Im Fokus
Cawelti, John G. (1976): Adventure, mystery, and romance. Formula stories as art and popular culture. Chicago:
University of Chicago Press.
Gates, Philippa (2004): Always a Partner in Crime: Black
Masculinity in the Hollywood Detective Film. In: Journal
of Popular Film and Television 32 (1), S. 20–29.
Kaufmann, Anette (2007): Der Liebesfilm. Spielregeln
eines Filmgenres. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
King, Geoff (2002): New Hollywood cinema. An introduction. New York: Columbia University Press.
Klinger, Barbara (1994): Melodrama and meaning. History, culture, and the films of Douglas Sirk. Bloomington:
Indiana University Press.
Schatz, Thomas (2004): Hollywood. London, New York:
Routledge (Critical concepts in media and cultural studies).
Schultz, T. P. (1988): Research in population economics.
A research annual: vol. 6. Greenwich, CT: JAI Press.
Prof. Dr. Helmar Baum
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Im Fokus:
Medien- und
Kommunikationsmanagement
­Verhaltensänderung
oder doch lieber
­alte ­Gewohnheit?
Karin Sölch
Dozentin Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement
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Im Fokus | 132
Verhaltensänderung oder doch
lieber alte Gewohnheit?
„Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung“ sagte schon Heraklit von Ephesus etwa 500 Jahr
vor Christus. Dennoch fallen uns Veränderungen oft
schwer, vor allem, wenn wir uns bewusst verändern
wollen. Für die Etablierung neuer Gewohnheiten,
brauchen wir das Verständnis, warum wir so gerne am
Alten festhalten sowie das Wissen um die unterstützenden Elemente, die uns eine gewünschte Verhaltensänderung erleichtert.
„Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es
anders wird. Aber es muss anders werden, wenn
es besser werden soll.“
Georg Christoph Lichtenberg (Experimentalphysiker,
† 24.02.1799)
Wer kennt das nicht: Die guten Vorsätze zum Beispiel
zum Jahreswechsel. Zuerst sind wir hochmotiviert bei
der Sache, wenn es darum geht etwas in Zukunft anders
zu machen, doch dann fallen wir in die alten Gewohnheiten wieder zurück. Vergessen ist der Vorsatz, was bleibt
ist ein schlechtes Gewissen, dass es wieder einmal nicht
möglich war, ein neues Verhalten beizubehalten. Warum
fallen uns Verhaltensänderungen so schwer? Häufig
wissen wir, was für uns richtig ist oder besser wäre, tun
es aber trotzdem nicht. Echte Veränderungen setzen am
Verhalten an und erfordern Wille, Aufmerksamkeit, Zeit,
Energie und manchmal auch Mut.
Mutig. Felsenspringer in Acapulco, Mexiko (eigenes Foto)
Um besser zu verstehen, wie Verhalten nachhaltig
verändert werden kann, ist es wichtig zu verstehen wie
Lernen funktioniert. Lernen ist ein Prozess, der in einer
relativ konsistenten Änderung des Verhaltens oder des
Verhaltenspotenzials resultiert, und basiert auf Erfahrung. Lernen findet ausschließlich durch Erfahrung statt.
Eine überdauernde Verhaltensänderung erfordert eine
Kombination aus neuer Erfahrung und ernst gemeinter
Bereitschaft! Manchmal lernen wir auch unbewusst. Wir
stellen erst zu einem späteren Zeitpunkt fest, dass wir
Wissen oder ein bestimmtes Verhalten erworben haben.
So haben wir zum Beispiel unbewusst unsere Muttersprache oder Treppen steigen gelernt.
Bei genauerer Betrachtung der Ereignisse in unserem
Leben, stellen wir fest, dass wir in bestimmten Situati-
133 | Im Fokus
onen eine starke emotionale Reaktion oder eine starke Vorliebe auf etwas zeigen. Wir haben dann etwas
unbewusst gelernt und verhalten uns reflexartig, da wir
im Laufe unseres Lebens konditioniert wurden. Eine
Konditionierung bezeichnet ein Ereignis, dass das Auftreten eines anderen Ereignisses vorhersagt. Ivan Pavlov
(1849-1936) war der wissenschaftliche Urvater dieses
Lernens durch Konditionierung. Er fand heraus, dass
Hunde bereits Speichelfluss entwickeln, wenn sie eine
Glocke hören. Dies war möglich, weil es im Vorfeld Futter
(das den Speichelfluss auslöste) im Zusammenhang
mit dem ertönen einer Glocke gab. Nach einer Weile
reichte für den Speichelfluss das Ertönen der Glocke,
obwohl kein Futter gereicht wurde. Auf Menschen
übertragen bedeutet das beispielsweise, dass jemand
bereits aufgeregt ist, wenn er nur daran denkt vor vielen
Leuten sprechen zu müssen. Er hat in der Vergangenheit erfahren, dass öffentliches Reden bei ihm das Herz
rasen lässt, die Hände befeuchtet oder den Atem stoppt.
Im Laufe der Zeit wird der Gedanke an einen Vortrag reichen, um dieselben körperlichen Symptome auszulösen.
Wir haben also unbewusst gelernt, dass Vorträge vor
anderen Leuten unangenehm sind und erhalten reflexartig bestimmte Körpersymptome.
Auch Veränderungen können so eine konditionierte
unbewusste Reaktion auslösen, wenn wir beispielsweise
in der Vergangenheit erfahren haben, dass Veränderungen mit Arbeit, Durchhalten, Gewissenskonflikten,
Mühsal, Ungewissheit, Ernsthaftigkeit oder Schinderei
einhergeht. Der Gedanke an eine Veränderung wird mit
solchen Erfahrungen automatisch zu einer reflexartigen
Vermeidungshaltung führen. Der neue Vorsatz zum Jahreswechsel ist dazu verdammt, schnell wieder in Vergessenheit zu geraten, um alten Gewohnheiten wieder
Platz zu machen. Es ist gut nachzuvollziehen, dass nur
die wenigsten von uns unter diesen Umständen die ernst
gemeinte Bereitschaft verspüren, ein Verhalten langfristig zu verändern.
Verhaltensänderungsstraßenschild (eigene Darstellung)
Doch wie sieht die Lösung aus, um unser Verhalten dennoch zu verändern? Es geht nur durch neue Erfahrungen
bzw. durch neue Konditionierungen. Wir können natürlich ebenso lernen, dass Veränderungen Spaß machen,
dass sie Erfolg auslösen, Glück erzeugen und zufrieden
machen. Dazu ist es hilfreich, bewusst mit Verstärkern zu
arbeiten. Ein Verstärker ist zum Beispiel eine Belohnung,
die wir uns selber gönnen, oder die uns ein anderer
schenkt. Eine solche Belohnung nennt man auch „positiven Verstärker“, er unterstützt das automatische Verhalten, das wir wollen. Es gibt auch negative Verstärker.
Im Fokus | 134
Eine negative Verstärkung erzeugen wir oft unbewusst,
nämlich immer dann, wenn wir einem auslösenden Ereignis aus dem Weg gehen. Wenn derjenige, der ungern
vor vielen Leuten spricht, solche Situationen vermeidet,
dann entkommt er dem Herzrasen, den feuchten Händen und der Atemlosigkeit. Unbewusst verstärkt er sein
Verhalten, wenn er unangenehmen Situationen einfach ausweicht. Die Folge der Vermeidung ist, dass wir
sozusagen immer belohnt dafür werden, wenn wir „ ins
Vermeiden“ gehen. Es hilft demnach nicht, sich weiterhin
vor scheinbar unangenehmen Situationen zu drücken.
Wir müssen neue Erfahrungen wollen und zulassen,
um neu konditioniert zu werden. Wenn wir unser Verhalten ändern wollen, dann ist es hilfreich bewusst, mit
positiven Verstärkern zu arbeiten. Das bedeutet, dass
wir neue Erfahrungen entsprechend belohnen z. B. mit
einem Spaziergang in der Natur, einem guten Buch oder
hervorragendem Essen, je nachdem womit wir uns wohl
fühlen und was unser Herz glücklich macht.
Ebenso wichtig für eine Verhaltensänderung wie die
Belohnungen, ist auch ein wirklich großes Verlangen
nach der Veränderung. Ein starker, fester Wille, ab jetzt
wirklich anders zu handeln. Viele Menschen lernen
diesen eisernen Willen kennen, wenn schwere Schicksalsschläge wie beispielsweise eine schwere Krankheit
oder eine Kündigung zu neuem Handeln zwingen. Diese
sogenannten „teachable moments“ lösen alte Gewohnheiten ab, weil wir auf eine neue unvorhersehbare
Situation schnell reagieren müssen. Allerdings wäre es
schlimm, wenn wir Veränderungen nur mit einem Schick-
salsschlag erfolgreich umsetzen könnten. Natürlich geht
es auch anders und auch der Vorsatz zum neuen Jahr
hat eine gute Chance wirklich auf Dauer umgesetzt zu
werden. Dafür ist es wichtig, in uns hineinzuhorchen.
Wenn ein neues Verhalten schwer fällt, zum Beispiel die
Umsetzung des Vorsatzes mehr Sport zu treiben, dann
findet unser Unterbewusstes noch zu viele Vorteile am
„faul sein“ anstatt Sport zu treiben. Die Vorteile, die für
mehr Sport sprechen, kennt unser Bewusstsein oft nur
zu gut, darum gibt es auch diesen Vorsatz. Aber vielleicht
bedeutet mehr Sport zu treiben auch weniger Zeit mit
der Familie zu verbringen, was das Unterbewusste auf
gar keinen Fall will. Die Argumente für das alte Verhalten
liegen leider oft nicht sofort auf der Hand. Es gilt also
genau zu erforschen, was das Bedürfnis beziehungsweise der versteckte Gewinn ist, um am Alten festzuhalten.
Gäbe es keinen versteckten Gewinn in der alten Verhaltensweise, dann hätten wir unser Vorhaben schon lange
erfolgreich in die Tat umgesetzt. Wenn das Bedürfnis,
das hinter dem versteckten Gewinn steht, erkannt ist,
dann gilt es auch dieses weiterhin zu befriedigen, also in
diesem Fall sowohl Sport zu treiben, als auch Zeit mit der
Familie einzuplanen.
Bleibt noch der Gedanke der Verhältnismäßigkeit.
Manchmal ist es hilfreich, nicht sofort die totale Veränderung zu wollen, sondern in kleinen Schritten den Weg
der Veränderung zu gehen. Wir sind bei kleinen Schritten
schneller erfolgreich, was wiederum unsere Motivation
erhöht weiter zu machen. Manchmal ist es nützlich sich
von anderen Menschen dabei unterstützen zu lassen.
135 | Im Fokus
Menschen verhalten sich „unter Aufsicht“ anders. Die
Wissenschaft nennt das den „Hawthorne-Effekt“ [1]. Das
bedeutet, dass wir unser Verhalten ändern, wenn wir
meinen, dass wir unter Kontrolle stehen. Das können
wir auch für eine Verhaltensänderung nutzen, indem wir
unser Vorhaben möglichst vielen Menschen mitteilen.
Na dann geben wir neuen Verhaltensweisen doch die
Chance für neue gute Erfahrungen und machen ab
morgen etwas anders als sonst, dann ist es übermorgen
eine neue Gewohnheit, eine, die wir schon immer haben
wollten.
Es spielt dabei gar keine große Rolle, ob die Eingeweihten uns regelmäßig nach unseren Fortschritten fragen
oder nicht. Wichtig dabei ist nur, dass durch die Veröffentlichung unserer Vorsätze die Möglichkeit besteht,
dass wir beobachtet werden, was uns das neue gewünschte Verhalten erleichtert.
Literaturhinweise
Eine echte Veränderung ist also möglich, sie erfordert
allerdings Aufmerksamkeit, Zeit und Energie sowie ein
wirkliches Wollen. Auch eine positive Konditionierung
kann zur Gewohnheit werden und reflexartig sich richtig
gut anfühlen. Denken wir doch nur an Schokolade, gute
Noten, Sport, bestimmte Musikstücke, gesellige Abende, usw. Wie stellt Laufer so treffend fest:
„Entwickeln von Verhaltensgewohnheiten:
Durch Kennenlernen zur Kenntnis.
Durch Anwenden zum Können.
Durch Wiederholen zur Gewohnheit.“
1 Der Hawthorne-Effekt ist ein Phänomen der gruppenbasierten Beobachtungsstudien, das in den 1920er Jahren bei Experimenten in den Hawthorne-Werken (Illinois, USA) entdeckt wurde. Er besagt, dass die Teilnehmer
einer Studie ihr natürliches Verhalten ändern, weil sie wissen, dass sie an einer
Studie teilnehmen und unter Beobachtung stehen.
Diesbrock, Tom (2011): Ihr Pferd ist tot? Steigen Sie ab!,
Wie Sie sich die innere Freiheit nehmen umzusatteln,
Campus, Frankfurt/Main
Gerrig, Richard J., Zimbardo, Philip G. (2008): Psychologie, 18. Aufl., Pearson Studium, München
Gulder, Angelika (2013): Finden den Job, der Dich
glücklich macht, von der Berufung zum Beruf, Campus,
Frankfurt/Main
Krelhaus, Lisa (2012): Wer bin ich – wer will ich sein?,
Ein Arbeitsbuch zur Selbstanalyse und Zukunftsgestaltung,8. Aufl., mvg, München
Laufer, Hartmut (2005): Grundlagen erfolgreicher Mitarbeiterführung, Gabal, Offenbach
Roth, Gerhard (2011): Persönlichkeit, Entscheidung und
Verhalten: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu
ändern, 6. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart
Seligman, Martin E. P. (2012): Der Glücks-Faktor, warum
Optimisten länger leben, 9. Aufl., Bastei Lübbe, Köln
Im Fokus | 136
Storch, Maya (2005): Das Geheimnis kluger Entscheidungen, Goldmann, München
Tiggelaar, Ben (2010): Träume, Wage, Tun - Wie Sie den
schwierigsten Menschen der Welt managen: sich selbst,
Gabal, Offenbach
Zeug, Katrin (2013): Mach es anders! Neue Gewohnheiten zu etablieren ist einfacher, als alte abzulegen,
ZEIT Wissen Nr. 02/2013, in: http://www.zeit.de/
zeit-wissen/2013/02/Psychologie-Gewohnheiten/
seite-4, (Letzter Zugriff: 16.09.2014)
Karin Sölch
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Stricken zur Primetime –
Das Phänomen Slow TV
aus Norwegen
Prof. Dr. Bert Neumeister
Dozent Fachbereich Medien- und ­Kommunikationsmanagement
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Im Fokus | 139
Stricken zur Primetime – Das
­Phänomen Slow TV aus Norwegen
„Wer Fernsehen zu seinen Hobbys zählt, steht vermehrt
unter Zeitdruck: Je rascher man sich durch die neue
Staffel von „House of Cards“ gearbeitet hat, desto
schneller kann man sich der neuen Serie „Better call
Saul“ auf Netflix widmen. Und dann warten da noch zehn
Folgen von „Breaking Bad“ auf DVD, die man sicher bis
zum Mittwoch geschafft hat, um rechtzeitig das Finale
von „Mad Men“ anzusehen – und nebenbei bloß nicht
den viel besprochenen Pilot von „The Man in the High
Castle“ auf Amazon verpassen, um mitreden zu können.
22 Knoten Geschwindigkeit – als Direktübertragung zu
bester Sendezeit.
Seiner Lieblingsserie im Fernsehen zu folgen, war lange
Zeit eine langsame und fremdbestimmte Tätigkeit. Man
musste eben eine Weile warten und sich in Geduld üben,
um die nächste Folge in einer Woche am gewohnten
Sendeplatz sehen zu können.
Der Begriff „langsam“ hat in unserer hektischen
TV-Landschaft einen durchaus negativen Klang wie
etwa „ich war zu langsam, um mit der Serie Schritt zu
halten“ – so aber nicht in Norwegen, wo Slow TV sich zu
einem kulturellen Phänomen entwickelt hat.
Wie es scheint, haben unsere skandinavischen Nachbarn das Fernsehen als eine ruhige und im wahrsten
Sinne des Wortes zerstreuende Aktivität zurückerobert.
Sie sehen sich ohne jegliche Zwischenschnitte oder
Zeitraffer eine mehrstündige Zugfahrt von Bergen nach
Oslo an oder ein durchgängiges fünf Tage dauerndes
Programm, welches die Reise eines Schiffs auf der Hurtigrute entlang der Küste zeigt. Fjord für Fjord und Hafen
für Hafen von Süden nach Norden mit gemächlichen
Mehrstündige Zugfahrt von Bergen nach Oslo.
(Quelle: http://www.nrk.no/)
Selbst acht Stunden live Stricken – vom Scheren eines
Schafs, über das Spinnen der Wolle bis zum fertigen Pullover – entpuppte sich als überraschender Publikumserfolg. Hierbei gibt es am nächsten Tag sicher nicht viel
darüber in norwegischen Kaffeeküchen den Kollegen
zu erzählen, die Clips daraus werden sich in den sozialen
Medien kaum viral verbreiten und es wird selten Konflikte geben, wenn ein Kollege das überraschende Ende der
Sendung schon im Voraus verrät. Die Seherfahrung ist
dafür viel weniger gehetzt und intensiver.
140 | Im Fokus
britischen Fernsehmacher der BBC versuchen mit The
Canal – einer zweistündigen Kanalfahrt auf der Themse
– ihr Publikum zu begeistern. Der Bayerische Rundfunk
startete kürzlich das erste deutsche Slow TV-Projekt mit
der Sendereihe MORA. In sehr langsamen Einstellungen
konnten die Zuschauer einem schweigenden, in seine
Arbeit vertieften Uhrmacher bei der Entstehung einer
Taschenuhr beobachten.
Acht Stunden Live-Stricken (Quelle: http://www.nrk.no/)
(Quelle: http://www.nrk.no/)
Vielleicht ist es an der Zeit lange Aufmerksamkeitsspannen zu der Liste an Qualitäten zu setzen, welche die
Norweger mutmaßlich für sich entdeckt haben. Es stellt
sich die Frage, ob sich Slow TV auch in weiteren Ländern
etablieren kann. Besitzen Fernsehzuschauer in anderen
Nationen auch so viel Nervenstärke, um Freude an der
Monotonie von Pulloverstricken und herunterbrennenden Lagerfeuern im Hauptabendprogramm zu finden?
Sender in Großbritannien, den Vereinigten Staaten
und Deutschland versuchen gerade diese These zu
überprüfen. Der Travel Channel in den USA wird am
27. November 2015 Slow Road Live, eine zwölfstündige Reise mit dem Wohnmobil durch die einsamen
Weiten des Mittleren Westens zeigen. Das Datum ist
bewusst gewählt, denn am sogenannten Black Friday
beginnt die Rabattschlacht in den Einkaufszentren und
die Konkurrenz um Schnäppchen und Parkplätze. Die
Slow TV ist durch einen Zufall entstanden. Ursprünglich wollten die Produzenten des öffentlich-rechtlichen
Senders NRK eine Dokumentation über die Bergen-Linie, jene landschaftlich reizvolle Bahnstrecke zwischen
Oslo und Bergen, drehen. Nun fand das Team es schade,
das herausgeschnittene Material wegfallen zu lassen.
Was würde passieren, wenn man das gesamte M
­ aterial
zeigen würde? Die Produzenten beschlossen, das
Risiko einzugehen und die Sendung als Innovation zu
­betrachten.
Die erste Slow TV Sendung in Norwegen war tatsächlich sehr neu und anders. Eine an der Spitze des Zuges
montierte Kamera filmte durchgängig die Fahrt durch
Tunnel, unter Brücken hindurch und über eine Landschaft hinweg, die zwischen Schnee und Gras wechselt.
Hin und wieder taucht in der Ferne ein See auf, um dann
langsam aus dem Blickfeld zu gleiten. Das monotone
Rattern des Zuges auf den Gleisen wird nur manchmal
von einer Stationsansage unterbrochen. Die Handlung,
wenn man überhaupt von einer sprechen kann, ist simpel
und letztlich meditativ.
Im Fokus | 141
Anfangs waren die Erwartungen an die Zuschauerzahlen
sehr gering. Vielleicht würde nur eine Hand voll Bahn­
enthusiasten einschalten. Das tatsächliche Ergebnis
bezifferte sich auf überwältigende 1,6 Millionen Norweger die zusahen – und das in einem Land mit fünf
Millionen Einwohnern. Eine beachtliche Leistung, welche
die Fantasie für noch größere und noch langsamere
Projekte beflügelte. Als nächstes wurde die Hurtigrute
abgefilmt, jede einzelne Minute der gesamten Fahrt, die
sich insgesamt auf 134 Stunden und 42 Minuten belief.
Dieses Mal wurde die Schiffsreise live ausgestrahlt, was
zu einem nationalen Ereignis wurde. Bewohner der Küste winkten dem Schiff zu und versuchten durch ungewöhnliche Aktionen, die Aufmerksamkeit der Kameras
auf sich zu lenken. Viele Menschen schwangen Fahnen
oder hielten selbstgestaltete Plakate mit Botschaften.
Bei dieser Ausstrahlung verdoppelte sich die Einschaltquote auf 3.2 Millionen – mehr als die Hälfte der
Bevölkerung. Seitdem bescherte NRK seinen Zuschauern weitere Sensationen wie die „Nationale Holzfeuer
Nacht“ (ein stundenlanges Herunterbrennen eines Lagerfeuers mit detaillierten Diskussionen über die richtige
Methode Brennholz aufzuschichten), eine live „PiepShow“ (kleine Vögel, die in einer Art Miniatur-Kaffee über
Stunden herumflattern und Körner verspeisen) sowie die
ununterbrochene Ausstrahlung von 899 Kirchenliedern.
Ein Fernsehphänomen, das von vielen Kommentatoren
und Talkshow-Hosts wie David Letterman weltweit zur
Zielscheibe endloser Witze geworden ist. Das war bei
diesem ungewöhnlichen Medieninhalt sicher zu erwar-
ten. Worin besteht also die Anziehungskraft? Das Slow
TV Team des Senders NRK gibt dazu Erklärungsversuche. Die Sendungen sind beruhigend und haben den
Charakter von sozialen Ereignissen, die wie beim Lagerfeuer Gefühle nationaler Verbundenheit wecken. Man
kann solche Sendungen durchaus im Hintergrund laufen
lassen und gleichzeitig anderen Tätigkeiten nachgehen
oder auf zusätzlichen Bildschirmen (Laptop, Smartphone) weitere Medieninhalte konsumieren, ohne viel von
Slow TV zu verpassen.
Nebenbei kann man sich noch mit anwesenden Freunden unterhalten. Slow TV erwartet nichts vom Zuseher:
keine durchgängige Aufmerksamkeit und keine Abstimmungen per SMS. Es ist der mediale Gegenentwurf
zum hektischen Alltag. Gleichzeitig lässt sich daran
auch ablesen, dass das Medium Fernsehen zur Zeit das
gleiche Schicksal ereilt wie das Medium Radio als das
Fernsehen in den 1960ern populär wurde – es mutiert
zum Hintergrundmedium, zu einer Bild- und Tonkulisse
ähnlich einer unaufdringlichen Tapete oder den Schallplatten mit Partygeräuschen von James Last, die in den
1970ern so angesagt waren.
Obwohl die Slow TV-Bewegung revolutionär erscheint,
sind die Ideen dahinter nicht allzu neu. Bewegte Bilder
in Realzeit gehen auf die Anfänge der Filmkunst, bis
zu den Gebrüdern Lumiére zurück. Ihr Film „Einfahrt
eines Zuges in den Bahnhof von La Ciotat“ von 1896
zeigt fünfzig Sekunden lang genau das, was der Titel
ankündigt. In der Neuzeit haben ungeschnittene oder in
142 | Im Fokus
Endlosschleife laufende Videos eher Einzug in Kunstgalerien und Museum gehalten und sind nicht Teil der Unterhaltungskultur geworden. Andy Warhol drehte seinen
ersten Anti-Film 1963. „Sleep“ zeigte einen schlafenden
Mann über mehr als fünf Stunden. Darauf folgte „Empire“, eine über achtstündige Ansicht des Empire State
Buildings in New York.
Quellen:
Das heutige Slow TV scheint dagegen die Grenzen
zwischen Unterhaltungs- und Kulturfernsehen zu verwischen. Ebenso fluktuiert die Rolle des Zuschauers vom
passiven Rezipienten zum aktiven Gestalter des Programms, indem er aus dem schier endlosen Bildangebot
einer achtstündigen Zugfahrt jenen Elementen seine
Aufmerksamkeit schenkt, welche ihn faszinieren und
andere Elemente übersieht, die ihn unterschwellig nicht
berühren. Und wie sieht die Zukunft von Slow TV aus?
Wahrscheinlich wird nicht viel passieren.
Heritage, Stuart: Slow TV – the Norwegian movement
with universal appeal. The Guardian. 04.10.2013.
Bevanger, Lars: Norway’s slow TV – now it’s live knitting.
Deutsche Welle. 29.10.2013.
Gilbert, Gerard: Slow Television – the latest nordic trend.
The Independent. 11.02.2014.
Hellum, Thomas: Slow TV. NRK. 24.11.2014.
Klusak, Detlef: Slow TV – MORA. Bayerischer Rundfunk.
03.03.2015.
Merry, Stephanie: A five-day boat ride. Twelve hours of
knitting. Are Americans ready for Norway’s Slow TV?
Washington Post. 13.03.2015.
Okrent, Arika: 4 shows from Norway’s crazy, successful
slow TV experiment. The Week. 07.06.2013.
Williams, Carol: Slow TV a hit in Norway. Los Angeles
Times. 04.10.2013.
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Im Fokus:
Medien- und
Kommunikationsmanagement
Ohne Arme keine
­Kekse! – ­Wertewandel
(r)evolutioniert
Unternehmens­kultur und
­Markenführung
Prof. Carola Anna Elias
Dozentin Fachbereich Medien- und ­Kommunikationsmanagement
Mediadesign Hochschule Berlin
Im Fokus | 145
OHNE ARME, KEINE KEKSE –
Keine Frage von Materie und
­Antimaterie!
„Die rasante Entwicklung der digitalen und sozialen
Medien erfordert ein massives Umdenken in den Unternehmen, denn diese Kanäle ticken einfach anders – es
geht um Wahrnehmung, Beziehungspflege und langfristige Kundenentwicklung. Wir haben es hier mit einem
neuen System zu tun, das Jeremy Rifkin in seinem Buch
„Die Null Grenzkosten-Gesellschaft“, das Aufstreben der
kollaborativen Commons nennt. Damit driften wir auf ein
Wirtschaftsmodell zu, das bisher als ökonomisches
System unweigerlich an die Feudalgesellschaft gebunden war, besser bekannt unter den Begriffen „Sharing
Economy“ oder Teil- und Tauschwirtschaft. Dieses
Wirtschaftsmodell revolutioniert unser Menschenbild,
unsere Weltsicht und unsere Bedürfnisstruktur – als
Kunde, als Bürger, aber auch als Chef und Mitarbeiter.
Übersetzt auf die heutige Unternehmenslandschaft
heißt das, um erfolgreiche, sinnvolle und kreative Markenstrategien zu entwickeln, brauchen wir das nötige
Rüstzeug im „Back-Office“. Wir brauchen visionäre, neue
Unternehmenskonzepte, gut durchdachte und auf das
Unternehmen und den Unternehmenszweck ausgerichtete Strategien und den Mut, Neues auszuprobieren.
Wir brauchen keine Kanaldenke, keinen Tunnelblick,
sondern 360 Grad Strategien für 360 Grad Kampagnen.
Wir brauchen keine Manager, die nur operativ denken,
das Pferd von hinten aufzäumen und angesichts der
rasanten Entwicklungen im digitalen Bereich in blinden
Aktionismus verfallen unter der Prämisse „Wir müssen
da auch was machen“. Dadurch hangeln wir uns von
Maßnahme zu Maßnahme, trimmen offline auf online, un-
terschätzen Ressourceneinsatz und Abstimmungskreisläufe und schädigen unsere Unternehmen oder unsere
Marke oft mehr, als sie aufzuwerten.
Wir brauchen Manager, die zur Überwindung der Generationenkluft zwischen den Generationen X, Y und Z
beitragen, indem sie die unterschiedlichen Kompetenzen effizient bündeln. Wir brauchen Manager, die Wissen
und Verständnis für den Wertewandel unserer heutigen
und zukünftigen Welt aufbringen, dessen Konsequenzen
im Hinblick auf die Unternehmenskultur erkennen und in
gänzlich neue Konzepte überführen. Es geht also nicht
um den fragmentarischen Blick auf Budgets, Ressourcen oder Medien, es geht um ein grundsätzliches
Verständnis von gesellschaftlichen Veränderungen im
veränderten Wertekanon!
CHANGE. Wertewandel –
von egozentrisch zu systemisch!
Miteinander statt Wettbewerb, aktiv statt passiv, ein
Erstarken von Verantwortung und Gemeinsinn, visionär, sinnvoll, global vernetzt – unser wirtschaftliches
Ökosystem verändert sich. Die Egozentik eines Jordan
Belfort, besser bekannt als „Wolf of Wall Street“ ist tot,
die Leichen der Gier eines Gordon Gecco durchschaut.
Heldenverehrung und Götzenbild „blankpolierte Marke“
will keiner mehr sehen – zu langweilig, zu unecht, zu
146 | Im Fokus
statusbezogen und zu hochstilisiert. Die Zeiten zentralistischer Strukturen sind längst vorbei. Wir driften heute
von hierarchisch, zentral und undurchlässig zu offen,
flexibel und durchlässig. Die Generationen Y und Z sind
weit weniger materialistisch und vom Konsumismus als
„Way of life“ nicht überzeugt. Sie suchen gute Geschichten statt polierte Phrasen, Sinn und Nachhaltigkeit als
echtes Statement. Sie gehen wieder auf Spurensuche
nach dem Echten, Unverfälschten und schätzen Werte
wie Vertrauen und Authentizität.
Marketing in Echtzeit über die Verknüpfung von Big Data
zu individuell, auf den einzelnen User zugeschnittenen
Bedürfnispaketen ist heute nicht nur möglich, sondern
wird die Märkte von morgen maßgeblich bestimmen.
Und das löst geradezu kleine Revolutionen aus, die
uns in Unternehmen und Institutionen zum Umdenken
nötigen und gänzlich neue Unternehmensstrukturen und
Strategien erfordern. Unternehmen müssen lernen, dass
sich unser „Umgebungsbewusstsein“ stark erweitert hat,
vom first-screen zum second-screen zum multi-screen
– von analog zu digital zu multimedial. Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, sind heute „always on“.
Netzwerken gehört real wie digital zum Alltag, denn da
wo Familien wegbrechen sucht man neue Ties, Verbindungen, die uns tragen, Anerkennung und Mut zusprechen. Wenn Unternehmen heute also gute Beziehungen
zu ihren Kunden und potenziellen Interessenten aufbauen wollen, müssen sie lernen systemisch zu denken und
authentische Markenbotschafter aufzubauen, die sich
mit dem Unternehmen identifizieren und glaubwürdig
ihre Marke vertreten. Das setzt wiederum voraus, dass
die Unternehmenskultur von Offenheit und Vertrauen
geprägt ist, Werte gelebt werden und die Unternehmensvision von den Mitarbeitern mitgetragen wird.
Dieser Spirit muss intern aufgebaut werden, jenseits von
Regeln und Guidelines. Das ist Sache des Managements
– Ohne Arme eben keine Kekse!
Da verändert sich also Vieles, was unsere Unternehmenslandschaft strukturell, inhaltlich und personell
revolutionieren wird. Diese Revolution drückt sich
vornehmlich durch ein neues, verändertes gesellschaftliches Mindset, also Wertekonstrukt aus. Um
die notwendigen Konsequenzen für die Unternehmen
richtig einzuordnen, ist es zunächst wichtig, sich dieser
Werteveränderungen, dieser Neudefinition bekannter
Werte, bewusst zu werden. Schauen wir uns einmal die
sechs momentan wichtigsten Werte an, die durch die
Zukunftsforscher Rifkin, Wippermann und Horx belegt,
momentan unser Denken und Handeln bestimmen und
überprüfen wir die Veränderungen zunächst im gesellschaftlichen Kontext. Also was ändert sich und wie werden zukünftig Werte wie Erfolg, Freiheit, Gemeinschaft,
Gerechtigkeit, Gesundheit und Natur definiert?
Erfolg: Erfolg hieß in den 80gern, 90gern und noch bis
Mitte 2000: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“. Profit und Status waren die Götzen, denen man huldigte.
Geschafft hatte es, wer viel besaß, denn Besitz und die
Verwaltung dessen war das Lebensziel und die damit
Im Fokus | 147
einhergehende Macht, wichtige Maxime um mitzuspielen
und die eigenen Gesetze aufzustellen. Die Konsequenzen waren allerdings meist wenig Privatleben, kaum
Hobbies und die Vernachlässigung sozialer Kontakte
– also eigentlich weniger Lebensqualität. Glücksforscher sagen, das unsere Wahrnehmung vom Glück wie
eine Glockenkurve steigt, bis zu dem Zeitpunkt, wo ein
gewisses Einkommensniveau, dass uns Sicherheit und
fundamentale Annehmlichkeiten beschert, erreicht ist.
Danach nimmt unsere Wahrnehmung vom Glück aber
stetig ab, was bedeutet, dass jeder weitere Zuwachs von
Wohlstand uns nicht glücklicher macht. Nun, die Ära des
unbegrenzten Wachstums ist vorbei, „genug“ ersetzt
heute „mehr“. Lebensziele und Entwürfe verändern sich,
vom egozentrischen Erfolg zum systemischen Erfolg.
Gesellschaftlich anerkannt ist nicht mehr die Maximierung ökonomischen Gewinns, sondern die Umsetzung
von Lebenszielen im ökologischen, ethischen oder
sozialen Bereich. Erfolg wird also neu definiert nach dem
Motto „Was gut für die Welt ist, ist auch gut für mich“. Mit
dem Ziel, die Welt zu verändern, wollen wir gleichzeitig
auch uns selbst entfalten und kreativ, sinnstiftend und
bodenständig agieren. Für diese Ziele suchen und finden
wir Gleichgesinnte, die als Sparringspartner und Coach
fungieren und so erreichen wir gemeinsam die gesteckten Ziele. Erfolgreich ist heute, wer seine Netzwerke
klug aufbaut, kreativ steuert und kontinuierlich pflegt.
Freiheit: Freiheit bedeutete lange mobil und unabhängig zu sein. Das ging nur mit dem eigenen Auto, indem
man sich ganz individuell ausdrückte und einrichtete.
Vom Kofferraum mit Sportequipment über Getränke und
Picknickkorb im Fahrerbereich, Parkscheibe, Eiskratzer,
Bücher, CD`s und was man sonst so alles brauchte. Das
Auto als mobiles Eigenheim, jederzeit verfügbar! Als
Ausdruck von Lifestyle und Status definierte es unser
Selbst, egozentrisch! Freiheit heißt heute Sharing. Das
Auto dient als gute Metapher für eine gänzlich andere
Haltung zu Besitz. Heute definiert sich Freiheit, zumindest im urbanen Raum, als die Möglichkeit schnell, kostengünstig und effizient von A nach B zu kommen. Hohe
Benzinkosten und Parkplatznot führen aber dazu, dass
das eigene Auto eher eine Beschneidung dieser Freiheit
bedeutet. Warum also nicht Drive Now oder Car2Go
nutzen und nur dann zahlen, wenn man das Auto wirklich
braucht. Individuelle Freiheit speist sich heute aus systemischer Vernetzung und klugem Selbst-Management.
Gemeinschaft: Vorbei die Zeiten von Mutter, Vater,
Kind, lebenslangen Ehen (mal gut, mal weniger gut) und
oftmals nahen, regionalen, räumlichen Verbindungen.
Durch die Globalisierung hat eine Art Entfremdung stattgefunden – Entfremdung von der Familie, vom Stamm.
Die Konsequenz – Verlust von Nähe, Halt, Geborgenheit.
Durch die Konzentration auf Karriere und Weiterkommen blieben familiäre Werte und echte Beziehungen
manchmal auf der Strecke. Einmal entlarvt, ist dieses
Modell nicht mehr erstrebenswert. Egozentrisch hat also
ausgedient und was kommt jetzt? Gemeinschaft zeigt
sich heute virtuell aber nah, oft auf 5 Screens gleichzeitig, was für die Generation Z kein Problem darstellt.
148 | Im Fokus
Auch wenn wir allein vor dem Fernseher sitzen – wenn
wir online sind, sind wir niemals allein. Wir diskutieren
über TV-Formate auf facebook, parallel zum Geschehen,
sortieren systemisch Freunde und Bekannte – inhaltlich, nach Interessens-, Werte-, oder Stilübereinstimmungen. Innerhalb unserer virtuellen Zirkel können wir
gemeinsam lachen, weinen, witzeln, diskutieren oder uns
darstellen. Das Internet ersetzt so familiäre Strukturen
und gibt uns Halt, Orientierung und Unterstützung. Es
erweitert unsere Realität und schenkt uns mehr Spielraum, für unsere eigene Lebenswelt. Das Netz fungiert
heute als virtueller Hort von Wärme, Anerkennung und
Geborgenheit.
Gerechtigkeit: Justizia als Symbol für Gerechtigkeit
vor dem Gesetz und und im wirtschaftlichem Miteinander hat bisher mehr oder weniger dafür gesorgt, das
gesellschaftliche Regeln nicht verletzt wurden. Vor dem
Hintergrund der Skandale an allen Fronten – Steuerbetrug, Markenpiraterie, Verletzung von Lebensmittelvorschriften, Menschenrechten etc. hat Justizia heute aber
für Viele ihre Macht verloren. Wenn Gesetze so durchlässig sind, dass sie die Schuldigen immer wieder davon
kommen lassen, muss es eine 5. Gewalt geben. Neben
Legislative, Exekutive und Judikative hat die 4. Gewalt,
die Publikative über die Presse bisher viele Skandale
aufgedeckt, aber nun kündigt sich die 5. Gewalt im Staat
an. Das ist nicht der Lobbyismus, wie die Zeit titelte, sondern der Verbraucher und sein eigenes System im Netz.
Der Film “Inside Wikileaks” hat eindrucksvoll dargestellt,
welche Macht Hacker und IT Aktivisten haben können.
Aber die jüngste Vergangenheit zeigte auch immer
wieder, wie schnell Intransparenz und Fehlverhalten im
Netz mit einem Shitstorm geahndet wurden. Wir wollen
nicht mehr darauf warten, dass Andere tätig werden,
sondern selber aktiv werden, also unsere Ohnmacht in
Macht verwandeln. Das Netz wird heute zum Mittel der
Wiederherstellung des Gleichgewichts, zum Ausgleich
des wirtschaftlichen Öko-Systems.
Gesundheit: Basierend auf der Lehre von Darwin,
führte uns die natürliche Evolution und der technologische Fortschritt der letzten Jahre, vom Homo Sapiens
zum Homo Superior. Es ging um die Optimierung unserer
persönlichen geistigen Leistung und unserer physischen
Erscheinung. Die Maxime – möglichst lange jung, vital,
flexibel sein, das Leben genießen, den Ruhestand auch!
Gesund war, wer sommerfrisch, aktiv und beweglich
war. „Frisch“ war der Schlüsselbegriff und das Bewusstsein für gute, gesunde Ernährung stark. Ob Bio oder
Supermarkt, die Ware musste „attraktiv“ aussehen und
zu unserem Wohlbefinden, zu unserer persönlichen, individuellen Optimierung, beitragen – also egozentrisch!
Um den Anforderungen heute gerecht zu werden, reicht
„frisch“ nicht mehr aus.
Aus der attraktiven „Frische“ entsteht heute ein vernetztes Gesundheitssystem mit Kur-Charakter. Wir setzen
alles auf RESET, therapieren uns selbst oder besser mit
Hilfe des Systems von Peers aller Art auf Plattformen,
die uns helfen uns besser zu fühlen oder ärztliche Diagnosen zu prüfen. Entgiftung, grüne Smoothies, Ge-
Im Fokus | 149
wichtsreduktion, sportliche Fitness nach Typ sortiert. Wir
bewegen uns hin zu einer asketischen Gesellschaft, die
sehr dizipliniert die eigene Gesundheit selbst managt.
Das Fuel Band von Nike macht vor, wohin die Reise geht.
Sensoren erheben unsere physischen Daten und steuern unser Verhalten in Bezug auf Bewegung, Ernährung,
aber auch Reisen, Kaufen, Lieben. Unternehmen helfen
uns also dabei, auf unsere Bedürfnisse und Wünsche
zugeschnittene Informationen zu filtern und damit der
überbordenden Informationsflut Herr zu werden. Wir
disziplinieren uns, um lange zu leben, allen Herausforderungen der 2. 3. oder 4. Karriere gerecht zu werden.
Gesundheit wird heute zum lebenslangen, vernetzten
Projekt.
Natur: Der Trend zur Natur war nicht zu übersehen.
Mit der Sehnsucht der Menschen nach Erdung und
Ursprünglichkeit begründeten die Herausgeber der
Zeitschrift Landlust 2005 ihren Überraschungserfolg.
Auf Hochglanzpapier brilliant in Szene gesetzte Fotos
von Bauerngärten, Rezepte aus der Landküche und
Anleitungen für die Restauration von Bauernmöbeln,
vermittelten ein Lebensgefühl, das in unserer industriell-urban geprägten Gesellschaft offensichtlich verloren gegangen war. Städter sehnten sich nach dem
ursprünglichen Leben, nach den guten alten Dingen wie
selbst gebackenem Kuchen und Gemüse aus eigenem
Anbau. Die Welt-Online sagte 2011: „Noch nie gab
es so viele Zeitschriften zum Thema Land und Garten“.
Der grüne Markt boomte, Bioläden sprossen aus dem
Boden, denn Produkte verkauften sich irgendwie besser
wenn ökologisch, biologisch, klimafreundlich oder
nachhaltig draufstand. Dabei ging es eigentlich um Entschleunigung, Hingabe, Zuwendung und Aufladung der
eigenen Batterien. Es ging also um primär egozentrische
Motive, die mehr der Selbstverwirklichung dienten, als
dem Allgemeinwohl.
Heute denken wir über die eigene Seele hinaus. Es geht
uns um Nutzungsbiografien und Wertstoffmanagement
und Ressourcenschonung, am besten „cradle to crawle“. Das ist keine Einzelleistung, sondern ein Gemeinschaftsprojekt. Prominentes Beispiel dafür ist „Original
Unverpackt“, der erste Supermarkt in Berlin Kreuzberg,
der auf Einwegverpackungen verzichtet. Der Kunde
füllt seine Produkte selbst ab, in wieder verwertbare
Behälter. Dabei gibt es Bio und andere Lebensmittel im
Sortiment. Ein neuer, systemischer Ansatz.
Abb.1: Original Unverpackt – startnext.de
150 | Im Fokus
WE ARE FAMILY. Vom
“­Business as usual” zum
“Business unusual”!
Was heißt das nun für Unternehmen? Wie müssen sich
Unternehmen verändern, um sich diesen neuen Rahmenbedingungen anzupassen? Unternehmen müssen
sich neu definieren, nicht als Paralleluniversum zu Familie und Freizeit, sondern als Ort an dem man gerne sein
möchte, sich entfalten kann und wohlfühlt. Die Zukunft
der Unternehmensführung und Markenführung liegt im
Verständnis für die „systemische“, gemeinschaftliche
Auffassung von Business. Dann verstehen wir unsere
Lieferanten, Mitarbeiter, Kunden nicht mehr als Stakeholder, sondern als Verbündete. Alles also eine Frage
der Unternehmenskultur!
Auf dem Weg von egozentrisch und Business as usual zu
systemisch und Business unusual haben wir in unseren
Studien und Forschungen folgende Prämissen gefunden, die ausschlaggebend zur Erreichung von Zufriedenheit, Loyalität und Bindung von Mitarbeitern sind.
Aufmerksamkeit und Wertschätzung schaffen Zufriedenheit, Sinn und eine gemeinsame Mission Loyalität
und geteilte Visionen und fairer Umgang miteinander,
Bindung.
Verknüpfen wir diese sechs Prämissen mit den zuvor
diskutierten Wertedefinitionen, ergeben sich für die
Unternehmenskultur folgende Ableitungen:
Abb.2: eigene Darstellung
1. Aufmerksamkeit/Gesundheit: Schenken Sie Ihren
Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten Aufmerksamkeit. Helfen sie dabei, arbeiten und leben in Einklang zu
bringen. Machen Sie es ihren Mitarbeitern einfach, sich
gesund zu ernähren und so Körper, Geist und Seele fit
zu halten. Unterstützen Sie Programme zur Bewegung
und nehmen Sie das Thema Gesundheitsmanagement
im Unternehmen ernst. Denken Sie daran, sie leben die
Unternehmenskultur vor, die sie erzeugen wollen. Aufmerksamkeit zeigt sich natürlich nicht nur in der Auswahl
des Kantinenessens und im ausgelassenen Feiern des
nächsten rauschenden Firmenfestes. Aufmerksamkeit
zeigt sich in der Zeit für Gespräche, dem Verständnis für
die Andersartigkeit ohne Bewertung, dem Kennenlernen
der Persönlichkeit hinter der Businessfassade. Nähe
aufbauen, persönlich sein, echtes Interesse zeigen, aktiv
zuhören, das schafft Zufriedenheit bei den Mitarbeitern
Im Fokus | 151
und baut Markenbotschafter auf, die in den sozialen Medien auch Ihre Werte mit Begeisterung vertreten können.
2. Wertschätzung/Freiheit: Der Drang nach Freiheit
im Sinne von Unabhängigkeit, flexibler Zeiteinteilung
und dem Vertrauen in die selbstverantwortliche Haltung
des Einzelnen ist Voraussetzung für das systemische
Denken der Zukunft. Mobil, out of office, kein Büroalltag
am Schreibtisch, sondern Verschmelzung von Freizeit
und Arbeit. Die Entkoppelung von Raum und Zeit in der
globalen Vernetzung führt zu neuen, offenen Arbeitsstrukturen. Virtuelle Teams sind nicht nur bei Konzernen,
sondern auch im Mittelstand standard geworden und
diese neuen Kollaborationsmodelle funktionieren nach
anderen Regeln. Da wo man sich nicht täglich sieht und
der „small talk an der Kaffemaschine“ ausbleibt, werden
Werte wie Vertrauen, Identifikation und Verlässlichkeit
zu Schlüsselattributen. Wertschätzung von Zeit als
Lebenszeit, Engagement, Motivation und Leistung in
Verbindung mit den o. a. Schlüsselattributen wird Personalentwicklung und Mitarbeiterführung in Unternehmen
verändern müssen.
3. Sinn/Erfolg: Erfolg heißt heute Verwirklichung
individueller Lebensziele, die unserem Dasein Sinn und
Zweck verleihen und möglichst im Einklang mit dem
Wohl der Gemeinschaft stehen. Cause Related Marketing ist tot, CSR als blasse Attitüde ist tot, Greenwashing
wird abgestraft – nur echte Überzeugung zählt. Beispielhaft möchte ich Ihnen einige Projekte vorstellen, die
Sinn vor dem Hintergrund der Re-Use Szene zum
Unternehmenszweck erkoren haben. Alle findet man im
TrenntMagazin der Berliner Stadtreinigungsbetriebe,
einem Unternehmen mit dem ich schon seit einigen
Jahren erfolgreich zusammenarbeite. In „Peter’s Werkstatt“ in Kreuzberg hat etwas überlebt, das selten
geworden ist, das Reparaturhandwerk. Der gelernte
Radio- und Fernsehtechniker Peter Dorscheid setzt
Technik aus vergangenen Tagen wieder in Stand.
berlin-re-cycling ist ein Projekt, das perfekt zu Berlin
passt. Die Idee, aus alten Fahrrädern trendige Design­
lampen zu kreieren, ist der Beginn einer Lichterkette,
mit dem Ziel, Berlin zum Leuchten zu bringen. Für das
Budapester Schuhlabel Pleasemachine dreht sich alles
um Lomtalanítás. Das ist ungarisch und bedeutet Sperrmüll. In ihm fahnden Anna Zaboeva und ihr Team nach
Stoff- und Lederresten, die sie in ihrer Werkstatt reinigen, aufarbeiten und zu wunderschönen neuen Schuhen
verarbeiten. Wer ein Zeitungs- oder Zeitschriftenabo
hat, weiß, wie sehr es in der Seele schmerzt, kaum
angerührte Exemplare direkt der Papiertonne zu übergeben. Dank einer fränkischen Schreinerei kann man die
Printausgaben aber auch auf einem geölten Birkenholzsockel stapeln, mit langen Lederriemen festziehen, ein
Kissen darauflegen, sich auf den Hockenheimer setzen
– und eine Zeitung lesen. Nun muss Ihr Unternehmenszweck nicht grundsätzlich „humanitär“ oder „ökologisch“
sein, egal was Sie tun, es kommt darauf an, gemeinsam
mit Ihren Stakeholdern nachhaltige Visionen zu leben.
152 | Im Fokus
4. Mission/Gemeinschaft: Wenn Sie Ihre Mitarbeiter
zu guten Markenbotschaftern in der peer-to-peer Kommunikation mit Ihren Kunden machen wollen, entwickeln
Sie sinnvolle Projekte, Kampagnen und Aktionen. Das
schafft Loyalität. Machen sie also Ihre Mitarbeiter zu
Sinnstiftern und zum Teil Ihrer Familie. Geben Sie Gestaltungsspielräume und verbinden Sie Spass und Unterhaltung mit Arbeit und Leistung. Denken Sie nicht mehr in
Kategorien wie B2B und B2C, sondern werden Sie zum
Beziehungsstifter. Entwickeln Sie gemeinsam mit Ihren
Mitarbeitern eine Mission, eine Wertebasis. Definieren
Sie gemeinsam wofür sie nicht nur stehen, sondern
einstehen wollen und unterstützen Sie sich gegenseitig
auf dem Kreuzzug! Es geht um H2H , also „human to
human“, persönlich, echt, authentisch. Sie wollen loyale
Mitarbeiter, seinen Sie loyal und leben Sie ihre Werte vor.
5. Vision/Natur: Bei der Neudefinition des Werts
Natur geht es vor allem um Gemeinschaftsprojekte, an
denen Viele zum Wohle der Allgemeinheit, zur Aufrechterhaltung des natürlichen Ökosystems arbeiten. Haben
Sie keine Angst vor Kontrollverlust bei so viel Demokratie. Gewöhnen Sie sich besser daran, denn es gibt keine
Kontrolle. Jedenfalls nicht in dem Ausmaß, dass Sie sich
wünschen. Stellen Sie sich die Frage, wovor sie Angst
haben – vor dem nächsten Shitstorm, vor unzufriedenen Kunden und vielleicht im Netz zu geschwätzigen
Mitarbeitern? Mal ehrlich, da gibt es ein ganz einfaches
Mittel zur Lösung: Verhalten Sie sich gut, dann verhalten
sich Andere auch gut, das nennt man Resonanzprinzip.
Halten Sie es wie Götz Werner von DM mit der Prämis-
se: „Einer ist besser als der Andere“, und entwickeln sie
keine Vision im Elfenbeinturm, sondern beziehen Sie
ihre Crew ein. Lassen Sie Jeden seine oder ihre Rolle im
Spiel erkennen, damit demonstrieren Sie Wertschätzung
und schaffen Bindung an ihr Unternehmen, ihre Marke.
6. Fairness/Gerechtigkeit: Diese Bindung zeigt sich
auch in der Art, wie Sie grundsätzliche Vergütungssysteme gestalten. Unterbezahlt und ausgebeutet wird sich
zukünftig nicht mehr rechnen. Die neue Gesellschaftsordnung erwartet fairen Ausgleich für Leistung und
teambezogene, projektbezogene Bewertungsverfahren,
die sogenannten soft skills ebenso einbeziehen, wie die
wichtigen hard facts. Und diese soft skills werden sich
auch neu formieren und definieren. Gerechtigkeit wird
heute eingefordert. Im Zeitalter von Big Data heißt das,
sinnvolle Verwertung und Bewertung schier unendlicher Datenströme auf Basis einer ethisch moralischen
Grundhaltung. Und auch das ist eine Frage der Unternehmenskultur. Sie merken, hier wird eine Wertedebatte
angestoßen, die Sie maßgeblich positiv mitgestalten
können.
STRONG TIES. Der
­Manager als “Homo
­Empathicus”-H2H2H
Schaffen Sie starke Bande, werden Sie zum Beziehungsstifter zum Verbindungsoffizier, zum Relationship
Im Fokus | 153
Manager. Denken Sie langfristig in Beziehungslebenszyklen (Annäherung, Aufbau, Reife, Degeneration). Leben
Sie Ihre Unternehmenskultur vor, werden Sie zum Vorbild
und machen Sie ihre Mitarbeiter zu Markenbotschaftern.
Die (R)evolution unternehmerischen Denkens und Handelns drückt sich in drei wichtigen Schlüsselkompetenzen aus, die sowohl intern im Umgang mit Ihren Mitarbeitern als auch extern in der Markenkommunikation mit
Ihren Kunden eine große Rolle spielen.
Haltung, Handwerk und
Hingabe = H2H2H
Haltung: Netzwerke und Aktionen erzielen bei Online
Usern mehr Mitmach-Effekte, wenn sie glaubwürdig,
nachvollziehbar und nachhaltig für eine gelebte Wertehaltung, stehen. Alles, was online ist, ist überprüfbar auf
virtuellen Schein oder reale Existenz. Robert (Bobby) De
Keyser hat so eine spezielle Haltung in seinem Unternehmen Dedon geprägt und in seinem ersten Buch
„Unverkäuflich“ eindrucksvoll beschrieben. Entwickeln
auch Sie eine glaubwürdige Haltung und positionieren
Sie Ihr Unternehmen und Ihre Marke klar und unmissverständlich.
Handwerk: Digitale Plattformen stehen längst im
Verdrängungswettbewerb und Ideen-Pioniere werden
schnell abgelöst, daher müssen Interface, Design, Look,
Sprache, Usability und Inhalte eigenständiger, wertiger
und relevanter sein, sonst sind Sie digital austauschbar.
Machen Sie es wie Emmas Enkel, setzen Sie auf Handwerk und Persönlichkeit statt Austauschbarkeit und das
real wie digital. Nach dem Prinzip des guten alten Tante
Emma Ladens haben die Betreiber Benjamin Brüser und
Sebastian Diehl ein altes Geschäftsmodell wieder neu
aufgelegt. Liebevoll arrangierte Lebensmittel im Laden
vor Ort, die „Gute Stube“, ein integriertes Cafe´ zum klönen, diskutieren und relaxen sowie ein Online-Bestell-,
und Lieferdienst machen Emmas Enkel zum Systempionier zwischen real und digital.
Abb.4: Bobby Dekeyser auf moebelkultur.de
Hingabe: Hingabe zu ihrem Produkt, ihrer Dienstleistung, ihrer Marke, ihrem Unternehmen und ihren Mitarbeitern. Das sind die Multiplikatoren, die Sie brauchen,
analog und digital. Lieben Sie das, was Sie bewerben,
gestalten, betexten, denn gerade im digitalen Pixelraum
macht Liebe zum Detail, authentische Sprache und
eigene Überzeugung eine Umsetzung lebendig. Das ist
besonders wichtig für alles Digitale, was man nie wirklich
154 | Im Fokus
berühren kann aber auch für reale Produkte und Investitionsgüter, die Kultcharakter anstreben. Volkswagen
zeigt zum Beispiel seine Hingabe zum Kultobjekt
„Beetle“ mit der Glamourversion in Gold und Swarowskisteinen.
Zum Schluss noch ein paar Zahlen aus der Nielsen/Bitkom-Studie zur Social Media Nutzung 2012. 70% der
Konsumenten vertrauen Reviews und Empfehlungen,
das ist ein Plus von 15% seit 2008. Nur noch 47% der
Konsumenten vertrauen klassischer Werbung, das ist
ein Minus von 20% seit 2009. Drei von vier Menschen
entdecken neue Produkte durch Reviews und Empfehlungen Ihrer Peergroup oder der Markenbotschafter, die
sie für glaubwürdig halten. Das ist ein eindeutiges Signal
wohin die Reise geht, oder?
Also, bedenken Sie – ohne Arme keine Kekse!
Wenn Sie mehr zum Thema Wertewandel und Konsequenzen für die Unternehmens-/Markenführung erfahren wollen, kontaktieren Sie Prof. Carola A. Elias unter
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Quellen:
Rifkin, Jeremy; Die Null Grenzkosten Gesellschaft – Das
Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der
Rückzug des Kapitalismus; Campus 2014
Wippermann, Peter; Krüger, Jens; Werte-Index 2014;
Deutscher Fachverlag 2014
Horx, Matthias; Trendreport 2014; Zukunftsinstitut
GmbH 2013
Zahlne und Fakten: Nielsen, Bitcom, Forrester, ARD/
ZDF, Statista, Alexa, facebook.com, social-media-blog.
com, PwC Analyse 2012
Weiterführende Literatur:
El-Haggar, S.; Sustainable industrial design and waste
management. Cradle-to-cradle for sustainable development. Academic Press, Burlington, 2007
Koisser, H. u. a.; Cradle-to-cradle, die nächste industrielle Revolution – Idee, Kritik und Interviews. In: wirks, 1
(2010), S. 5–29.
Luther, B.; Cradle to Cradle Product Certification. A Revolution in Product Innovation. In: International Journal of
Innovation Science, Vol. 4/2012, Nr. 1, S. 1–9
Homma, N; Unternehmenskultur und Führung: den
Wandel gestalten; Gabler 2010
Schein, Edgar H.; Organisationskultur: The Ed Schein
Corporate Culture Survival Guide; Humanistische Psychologie 2010
Prof. Carola Anna Elias
Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Berlin
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Steuerliche
­Abzugsfähigkeit von
­Kosten für ein Studium –
ein Überblick
Prof. Dr. Thomas Siegel
Dozent Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement
Mediadesign Hochschule München
Im Fokus | 157
Steuerliche Abzugsfähigkeit
von Kosten für ein Studium –
ein Überblick
„Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Überblick über die steuerliche Abzugsfähigkeit von Kosten
für ein Studium. Dabei wird zum einen dargestellt,
welche steuerlichen Auswirkungen bei Eltern gegeben
sein können, wenn diese die Kosten des Studiums ihres
Kindes tragen. Zum anderen wird dargestellt, welche
steuerliche Abzugsfähigkeit bei den Studierenden selbst
gegeben ist, wenn diese die Studienkosten eigenständig
tragen.
tung im Rahmen zu halten, wollen viele Studierende und
deren Eltern den Staat an den Studienkosten beteiligen.
Regelmäßig wird deshalb die Frage aufgeworfen: Sind
Kosten für ein Studium steuerlich abzugsfähig?
Die Antwort auf die Frage kann nur lauten: Es kommt
darauf an!
Nachfolgend wird in groben Zügen dargestellt auf was
es ankommt. Zunächst ist zu prüfen, wer die Kosten
für ein Studium geltend machen will: Die Eltern, die die
Kosten für das Studium ihres Kindes aufwenden oder
das studierende Kind, welches die Studienkosten selbst
trägt. Das Geltend machen eines sogenannten „Dritt­
aufwandes“ (Zahlung durch Eltern, Abzug beim Kind –
oder umgekehrt) ist in der Regel nicht möglich. Es gibt
aber Ausnahmen, wenn nur der Zahlungsweg abgekürzt
werden soll.
Abzugsfähigkeit bei
den Eltern
Steuerliche Abzugsfähigkeit von Studienkosten
Ein Studium ist eine Investition in die berufliche Zukunft. Die Kosten für ein Studium umfassen neben den
Studiengebühren die Kosten für Bücher, Zeitschriften
und technischen Bedarf (PC, Laptop). Weiterhin können Ausgaben anfallen für Fahrt- und Reisekosten
zur Hochschule bzw. zu Exkursionen, die nicht von der
Hochschule getragen werden. Um die finanzielle Belas-
Tragen die Eltern die Kosten für das Studium des Kindes, ist zu unterscheiden, ob das Kind das 25. Lebensjahr vollendet hat oder nicht.
Hat das Kind das 25. Lebensjahr nicht vollendet, können die Eltern die ihnen entstandenen Kosten für das
Studium nicht in tatsächlicher Höhe steuerlich geltend
machen, vielmehr werden die Aufwendungen mit der
Gewährung der Freibeträge für Kinder (§ 32 EStG)
158 | Im Fokus
Prof. Dr. Thomas Siegel, Mediadesign Hochschule München
abgegolten. Der Kinderfreibetrag beträgt derzeit EUR
2.184, der Betreuungsfreibetrag EUR 1.320 jeweils
pro Elternteil pro Kind. Während des Jahres erhalten die
Eltern von der Familienkasse für die Kinder zunächst
das Kindergeld ausbezahlt. Im Rahmen einer eventuell
durchzuführenden Einkommensteuererklärung wird von
Amts wegen geprüft, ob es beim Kindergeld bleibt oder
die Kinderfreibeträge steuerlich berücksichtigt werden.
Ist das studierende volljährige Kind auswärtig untergebracht, erhalten die Eltern noch einen Ausbildungsfreibetrag in Höhe von derzeit EUR 924 (§ 33 a Abs. 2
EStG).
Das Einkommen des Kindes sowie die tatsächlich
entstandenen Kosten für das Studium spielen bei der
Gewährung dieser Vergünstigungen keine Rolle.
Für behinderte Kinder erhalten die Eltern die o. a.
steuerlichen Freibeträge auch über das 25. Lebensjahr
hinaus.
Hat dagegen das Kind das 25. Lebensjahr vollendet,
entfallen die o. a. steuerlichen Vergünstigungen, nunmehr können die Eltern nur die tatsächlich entstandenen
und nachgewiesenen Aufwendungen als außergewöhnliche Belastungen (§ 33a Abs. 1 EStG) geltend machen.
Der zu berücksichtigende Höchstbetrag beläuft sich auf
EUR 8.354 pro Jahr. Dieser Betrag wird um die Einkünfte und Bezüge (auch BAföG-Leistungen) des Kindes
gekürzt, soweit diese EUR 624 übersteigen. Zudem darf
das Kind kein wesentliches eigenes Vermögen besitzen.
Abzugsfähigkeit beim Kind
Trägt das Kind die Kosten für sein Studium selbst, muss
bei diesem geprüft werden, ob es eine steuerliche Auswirkung gibt. Grundsätzlich muss zunächst unterschieden werden, ob es sich um ein Erststudium oder um ein
Zweitstudium handelt.
Die Kosten für ein Erststudium sind grundsätzlich nicht
als (vorweggenommene) Betriebsausgaben (§ 4 Abs. IX
EStG) oder Werbungskosten (§ 9 Abs. 6 EStG) abzugsfähig. Der Gesetzgeber gewährt einen Sonderausgabenabzug (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) der nachgewiesenen
Kosten bis maximal EUR 6.000 pro Jahr. Das klingt
großzügig, geht aber in den meisten Fällen ins Leere,
weil dieser Sonderausgabenabzug nur mit Einkünften
des studierenden Kindes im selben Jahr verrechnet
werden darf. Eine Akkumulation bis zum Ausbildungsende und der Verrechnung mit den nach der Ausbildung
entstehenden Einnahmen sieht das Gesetz nicht vor.
Anders sieht es bei den Kosten für ein Zweitstudium aus.
Klassisch erfasst davon ist das Master-Studium im
Anschluss an ein Bachelor-Studium. Die Kosten hierfür
sind in vollem Umfang als vorweggenommene Werbungskosten oder vorweggenommene Betriebsausgaben abzugsfähig. Ebenso sind Kosten für ein erstes
Studium voll abzugsfähig, wenn eine „Erstausbildung“
zuvor absolviert wurde. Was eine Erstausbildung in
diesem Sinne ist, war lange umstritten, ab 2015 wurde
der Begriff gesetzlich definiert (§ 9 Abs. VI EStG).
Danach muss diese mindestens 12 Monate bei vollzeiti-
Im Fokus | 159
Steuerliche Abzugsfähigkeit von Studienkosten
ger Ausbildung dauern und mit einer Abschlussprüfung
beendet werden. In diesem Fall ist es wichtig, dass die
Kosten für das Studium im Rahmen der abzugebenden
Einkommensteuererklärung erklärt werden. Oft ergeben
sich dabei keine Einkommensteuererstattungen, weil
meist keine oder geringe Einnahmen vorliegen. Die bis
zum Ende des Studiums aufgelaufenen Verluste können
aber dann gegen die (hoffentlich hohen) Einnahmen
nach dem Studium verrechnet werden.
Die Behandlung der Kosten für ein Erststudium als Sonderausgaben ist möglicherweise verfassungswidrig und
liegt dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.
Sollte das Gericht die Verfassungswidrigkeit bejahen,
können unter Umständen auch zurückliegende Jahre
geändert werden und die damals entstandenen Ausgaben als Werbungskosten berücksichtigt werden.
Dazu ist es erforderlich, dass der Steuerpflichtige die
Kosten des Erststudiums (aus heutiger Sicht) fälschlicherweise als Werbungskosten erklärt. Wenn das
Finanzamt statt der Werbungskosten lediglich Sonderausgaben ansetzt, ist seitens des Steuerpflichtigen
ein Einspruch mit Verweis auf das anhängige Verfahren
einzulegen. Sobald das Urteil des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht wird, wird das Finanzamt über
den Einspruch von Amts wegen im Sinne des Urteils
entscheiden.
Diese Ausführungen können nur einen Überblick ­geben.
In Einzelfällen kann die steuerliche Handhabung komplizierter sein – z. B. bei Auslandssachverhalten. In jedem
Fall rät der Autor steuerliche Beratung einzuholen.
Prof. Dr. Thomas Siegel
Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H München
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Im Fokus:
Medien- und
Kommunikationsmanagement
Memetik: Vom
­Erklärungsmodell zum
Viralen Marketing zum
­Internet-Mem
Prof. Dr. J. Martin
Dozent Fachbereich Medien- und ­Kommunikationsmanagement
Mediadesign Hochschule Düsseldorf
Im Fokus | 162
Memetik: Vom ­Erklärungsmodell
zum Viralen Marketing zum
­Internet-Mem
Mit der Konstruktion und Distribution von »Memen«
wurde in der Werbung eigentlich immer schon gearbeitet, auch wenn Meme noch nicht Meme hießen und die
benutzten Mechanismen nicht unbedingt die gleichen
waren. Meme sind keine »Erfindung«, sondern ein
Beschreibungsmodell. Wissenschaftliche Modelle
dienen dazu, ein Phänomen zu beschreiben, um das, was
es tut, wie es das tut und warum es das tut ­schlüssiger
zu erklären als existierende Modelle. Dazu muss das
Modell unter anderem auch in der Lage sein, verlässlich
und wiederholbar Voraussagen zu treffen, wie das
Phänomen sich unter welchen Bedingungen ­verhalten
wird.
Memetik begann vielversprechend, teilweise spektakulär; Susan Blackmores The Meme Machine gibt gleichzeitig eine Einführung und einen Überblick über den
Forschungsstand. Und der ist leider weitgehend aktuell,
obwohl das Buch 1999/2000 erschienen ist. In den
fünf Folgejahren hat sich nur wenig bewegt, und seit
zehn Jahren hat sich auf dem Forschungsgebiet der
Memetik tatsächlich so gut wie gar nichts mehr verändert. Unklar ist, woran es liegt — ob nicht genügend
Forschungsgelder fließen oder ob der Mangel an
Publikationen darauf hindeutet, dass Memetik das
Schicksal von String Theory teilen wird als ewig vielversprechende Theorie, die sich asymptotisch auf den
entscheidenden Durchbruch zubewegt, der nie passiert.
Memetik, in sehr groben Zügen kurz skizziert — was das
Eigenstudium aber weder ersetzen kann noch soll — ist
ein Modell zur Erklärung der Evolution und »Fitness«
von Sinneinheiten. Ein Mem kann zum Beispiel eine Idee
sein, ein Gedanke, ein Witz und vieles andere, das durch
Kommunikation weitergegeben wird und sich dadurch
vervielfältigt. Meme können sich auch zusammenschließen zu immer komplexeren Gebilden, sogenannten
»Memplexen«, über die sich ganze Lebensanschauungen und Weltbilder in Gesellschaften »vermehren«.
Den Anstoß zur Entwicklung dieses Modell gab Richard
Dawkins 1976 in seinem Buch The Selfish Gene in Analogiebildung zur Vervielfältigung von Genen. Gene tragen
durch Replikation zur biologischen Evolution von Organismen bei, Meme zur soziokulturellen Evolution von
Ideen, und beiden Konzepten liegen Mechanismen von
163 | Im Fokus
Veränderung und Anpassung an die biologische bzw.
soziokulturelle »Umwelt« zugrunde. Auch die Sinneinheit
der dem memetischen Modell zugrundeliegenden »Idee
des Mems« selbst konnte sich so stark vervielfältigen,
dass Sinneinheiten, insbesondere visuelle Sinneinheiten in Form von Bildern, die in kürzester Zeit millionenfach im Internet geteilt und vervielfältigt werden, sich
im Sprachgebrauch als »Internet-Meme« etablieren
konnten, ohne dass notwendigerweise das memetische
Modell hinter dieser Idee überhaupt bekannt ist.
Aber selbst wenn bislang, wie erwähnt, die Forschungsergebnisse der Memetik zugegebenermaßen vergleichsweise dürftig sind, reichen sie völlig aus, um auf
der Basis dieses Beschreibungsmodells Strategien
entwickeln zu können. »Nicht nur in der Werbung«, ließe
sich hinzufügen, aber in einem stark erweiterten Sinne
wäre diese Einschränkung nicht korrekt. Denn alles ist
letztendlich »Werbung« aus der Perspektive der Propagation von Information bzw. von Informationseinheiten,
um bestimmte Handlungen auszulösen. Von denen wird
gleich noch die Rede sein.
Zunächst setzen Werbeagenturen mit ihrer Werbung oft
auf bereits populären Memen auf, die einer hinreichenden Menge potenzieller Kundinnen und Kunden hinreichend bekannt sind, um über dieses Mem direkt an ihre
Aufmerksamkeitshorizonte und Lebenswirklichkeiten
anzuknüpfen.
Auf der anderen Seite versuchen Werbemenschen natürlich auch und in vielen Bereichen sogar vornehmlich,
eigene, »konstruierte« Meme zu diesem Zweck in Umlauf
zu bringen und auf diesem Weg erst populär zu machen.
All dies wurde ursprünglich, entlang der Geschichte der
Werbung, nicht entlang des Beschreibungsmodells der
Memetik geplant und durchgeführt, und sicherlich wird
dies in vielen Agenturen auch weiterhin nicht getan.
Kommunikationsagenturen jedoch mit Schwerpunkten
wie Virales Marketing oder Word-of-Mouth-/Empfehlungsmarketing arbeiten oft mit Memetik und wissen,
was sie tun und warum sich dieses Beschreibungsmodell für das Planen viraler Strategien besonders eignet.
Als Unternehmens- und Markenkommunikation bis spät
ins zwanzigste Jahrhundert noch von Massenmedien
geprägt war, nahmen Virales Marketing und Empfehlungsmarketing noch vergleichsweise untergeordnete
Rollen ein. Aber durch zwei einschneidende mediale
Entwicklungen im Übergang vom zwanzigsten zum
einundzwanzigsten Jahrhundert, nämlich Fragmentierung der Kanäle und Interaktivität vom Internet bis zum
Web 2.0 und Social Media, gewannen diese Formen
des Marketings zunehmend an Bedeutung — und damit
auch das Modell der Memetik.
Interaktivität bedeutet, dass klassische Stimulus-Response-Modelle in den Neuen Medien und speziell im
Social Web nur noch begrenzte Wirkungs- und Erklärungskraft im Kontext von Produkt- und Markenkommunikation besitzen. Fragmentierung bedeutet, dass
Im Fokus | 164
Replicators | Photo by J. Martin CC-BY-NC-SA
Mass Consumers | Photo by J. Martin CC-BY-NC-SA
klassische Werbestrategien rapide an Reichweite und
Wirkung verlieren durch das Zerfallen ursprünglich
monolithischer Massenmedien in zahllose Kanäle, über
die bei steigenden Aufwänden nur noch Bruchteile der
Zielgruppe erreicht werden können.
reist nur »Huckepack«, und wenn das Mem sich erfolgreicher replizieren kann, indem es die Handlungsanweisung der Werbebotschaft »abwirft«, dann wird genau
das passieren. Das Geschichte des Viralen Marketings
ist voller Beispiele von Memen mit fantastischem
Bekanntheitsgrad, ohne dass sich irgendjemand an die
ursprünglich damit verknüpfte Produkt- oder Markenbotschaft erinnern würde. Und wenn ein Mem sich
besser replizieren kann, indem es andere Botschaften
»an Bord nimmt«, die der intendierten Werbebotschaft
und Handlungsanweisung sogar aktiv zuwiderlaufen,
wird auch das unweigerlich passieren – und passiert
tatsächlich auch mit ausreichend hoher Frequenz, um
Krisen-PR-Abteilungen beschäftigt zu halten.
Im Zuge dieser Entwicklungen und ihrer Konsequenzen
wurde Memetik als Modell und als Strategie zunehmend
attraktiver.
Bei alldem darf jedoch nicht vergessen werden, und hier
spielen die anfangs erwähnten »Handlungen« eine Rolle,
dass Meme gewissermaßen »eigene Interessen« haben.
Dies ist tatsächlich eine fundamentale Grundannahme
im Modell der Memetik, die oft vergessen wird. Meme
sind nicht daran »interessiert«, einen Kaufimpuls auszulösen, Meme sind daran »interessiert«, sich zu verbreiten
und zu replizieren, und dazu ist ihnen jedes Mittel recht.
Natürlich haben Meme keinen »Handlungswillen« und
keine »Interessen« oder »Intentionen«, aber innerhalb
des Modells lassen sie sich so beschreiben — genau wie
»Gene« im Rahmen der Mechanismen der Evolutionstheorie weder Intelligenz noch einen Willen noch Intention besitzen, sich aber innerhalb des Evolutionsmodells
in ihrem Verhalten ganz ähnlich produktiv beschreiben
lassen. Aber es darf nicht in die Irre führen: Weder Meme
noch Gene »handeln« oder haben einen »Willen«.
Wichtig ist, dass ein Mem ein Replikator ist, der in erster
Linie sich selbst repliziert, völlig unbeeindruckt davon,
auf welche Weise versucht wird, es als Werkzeug zu
benutzen. Die Werbebotschaft mit Handlungsanweisung
Werbung kann existierende Meme für ihre Zwecke einspannen und selbst neue Meme konstruieren. Werbung
kann Meme aber nicht in dem Maße steuern und kontrollieren, wie Agenturen und ihre Kreativkräfte es sich
selbst und ihren Kunden gelegentlich einreden möchten.
Prof. Dr. J. Martin
Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf
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#ECGBL 2014:
­Bericht von der 8. Europäischen Konferenz für
Game-Based Learning
Prof. Dr. J. Martin
Dozent Fachbereich Medien- und ­Kommunikationsmanagement
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Im Fokus | 167
#ECGBL 2014: Bericht von der
8. Europäischen Konferenz für
­Game-Based Learning
Im vergangenen Oktober nahm ich mit großzügiger
Unterstützung der Mediadesign Hochschule an der 8.
Europäischen Konferenz für Game-Based Learning
ECGBL 2014 in Berlin teil, mit der 5. Internationalen
Konferenz zur Entwicklung und Anwendung von Serious
Games SGDA 2014 als Satellitenkonferenz. Die ECGBL
ist für mich besonders wichtig, da ihre inhaltliche Ausrichtung sich wie kaum eine andere Konferenz mit
meiner Forschungsarbeit zu spielbasierten virtuellen
Lehr- und Lernsystemen der Zukunft deckt.
Vorauszuschicken wäre, warum dieser Blogpost etwas
auf sich warten ließ: Der Grund war ein selbstauferlegtes
Blogging-Moratorium im Zuge der Vorgänge um #GamerGate — solange Menschen, mit denen ich professionell und persönlich verbunden bin, mit Mord- und Terrordrohungen an öffentlichen Auftritten gehindert und in
mehreren Fällen sogar zum Verlassen ihrer Wohnungen
genötigt wurden, erschien es mir nicht angemessen, den
positiven Beitrag von Games und speziell Video Games
auf Bildung, Erziehung und Gesellschaft anzupreisen
und zu propagieren, wie Games uns klüger machen und
gesellschaftliche und technische Innovation vorantreiben. Einführendes dazu hier und vorläufig Abschließendes hier.
Ort der Konferenz war der Campus Wilhelminenhof der
Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin,
von der die Veranstaltung auch ausgerichtet wurde. Der
Campus selbst, gelegen inmitten eines stillgelegten Industriegeländes, ist geradezu spektakulär — einschließlich der direkt am Spreeufer gelegenen »Strand-Mensa«.
Eröffnet wurde die Konferenz von Dr.-Ing. Carsten
Busch, Program Chair und Professor für Medienökonomie/Medieninformatik, gefolgt von einer Einführung zur
HTW Berlin von Dr.-Ing. Helen Leemhuis, Fachbereichsdekanin and Professorin für Wirtschaftsingenieurwesen, sowie der Keynote von Dr. jur. Maximilian Schenk,
Geschäftsführer Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware BIU.
Von dort aus fächerte die Konferenz sich auf in bis zu
sieben parallele Tracks, was für breitbandig Interessierte
gerne zu Entscheidungskonflikten führte. Hilfreich war
jedoch, dass sämtliche Fachartikel, die auf der Konferenz präsentiert wurden, im Vorfeld gesammelt als PDF
verfügbar waren, so dass im Dilemmafall ein Blick in die
Abstracts oder das Überfliegen der Artikel selbst Entscheidungshilfe bieten konnten.
Apropos verfügbare Abstracts und Artikel — was macht
den Reiz einer Konferenz überhaupt aus, wenn sämtliche
vorgestellten Forschungsergebnisse entweder öffentlich im Web oder zumindest aus akademischen Einrichtungen heraus frei verfügbar sind?
Fünf Gründe, an einer Konferenz teilzunehmen
Zunächst einmal ist Wissenschaft nicht nur Forschung
und Lehre; Wissenschaft wird auch getrieben durch
Disput. Kaum etwas hilft mehr auf die intellektuellen
Sprünge, als die eigene Arbeit in einem vollbesetzten Hörsaal, Konferenzsaal oder Seminarraum gegen
168 | Im Fokus
ebenso qualifizierte Kolleginnen zu verteidigen oder als
Zuhörer Einwände gegen Präsentierende zu formulieren
und zu begründen — wobei solche Dispute die gesamte
Palette von höflichen Verständnisfragen bis zu harscher
Inhalts- und Methodenkritik umfassen können.
Zum Zweiten, und das ist mit dem ersten Punkt verwandt, ist es auch psychologisch wichtig, nicht über lange Strecken so ausgedehnt für sich allein zu forschen,
dass ein »gefühltes Vakuum« eintritt. Dies äußert sich
als schleichend stärker und unheimlicher werdendes
Gefühl, trotz intensiver Verfolgung von Forschungsfeld
und Fachlektüre etwas Wichtiges übersehen zu haben
und an einem Problem zu arbeiten, das irgendwo in
einem »toten Winkel« des beobachteten Forschungspanoramas längst gelöst wurde. Eine Konferenz und
die Interaktion mit einer Vielzahl von Kolleginnen und
Kollegen aus eigenen und angrenzenden Fachbereichen
schafft in dieser Hinsicht in kürzester Zeit Klarheit und
Erleichterung. (Oder bestätigt die Vermutung, was natürlich auch vorkommen kann und nützlich ist.)
Der dritte Punkt, wiederum an den zweiten anschließend, ist Interdisziplinarität. Diese kann, je nach Konferenz, schmaler oder breiter gefächert ausfallen, bietet
aber in jedem Fall Gelegenheit, den Kopf an die Luft zu
strecken, der sonst Semester für Semester im Saft der
eigenen Fachbereiche köchelt.
Als Viertes zu nennen wären die spontanen Synergien,
wenn informell ausgetauschte Erfahrungen zwischen
Teilnehmenden plötzlich klicken und die Beteiligten auf
neue Ideen oder neue Perspektiven bringen oder möglichen Lösungswegen mehr Gewicht verschaffen, die
sonst verworfen worden wären. Das Schlüsselwort dabei
ist »informell«: denn keineswegs alles, was in diesem
Kontext interessant ist, findet seinen Weg in die genannten Abstracts und Artikel und in die dazugehörigen
Präsentationen. Publiziert wird in der Regel erst, wenn
eine Frage beantwortet oder ein Problem gelöst oder für
unlösbar erklärt werden kann, wenn etwas getestet wurde oder ein neues Modell konstruiert wird. Was in den
Veröffentlichungen fehlt, sind noch nicht ausreichend
präsentabel durchformulierte Fragen, unsubstantiierte
Vermutungen und brandneue, aber noch ungetestete Ideen — all dies artikuliert sich erst in informellen,
persönlichen Gesprächen, in denen bestimmte Ansätze
dann via Synergien unvermutet Form gewinnen können.
Als fünfter und abschließender (aber keinesfalls letztvorstellbarer) Punkt wäre schließlich die Vernetzung mit
neuen Kolleginnen und Kollegen zu nennen, die sich in
akademischen Zusammenhängen gleich nach dem Kennenlernen typischerweise auf Twitter manifestiert, was
dort wiederum zu einer “ambient awareness” in Bezug
auf die Aktivitäten und Forschungen der neugewonnenen Kontakte führt.
Im Fokus | 169
Mensa HTW Berlin Campus Wilhelminenhof |
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Takeaways von der ­ECGBL 2014
Für meine Forschungsarbeit hat sich auf dieser Konfe­
renz jeder einzelne dieser fünf Punkte schon fast übererfüllt. Was die ECGBL als solche besonders attraktiv
und intensiv macht, ist die maximale Bandbreite der Teilnehmenden sowohl in geographischer Hinsicht — aus
zahllosen Ländern von allen Kontinenten mit Ausnahme
Antarktikas — als auch in interdisziplinärer Hinsicht,
mit Präsentierenden und Teilnehmenden aus Geistesund Sprachwissenschaften, Sozial-, Erziehungs- und
Wirtschaftswissenschaften, Naturwissenschaften,
Mathematik, Informatik, Programmierung und Ingenieurswissenschaften sowie Design, Industriedesign und
Game Design.
Ausführliche Besprechungen einzelner Fachartikel und
Präsentationen von der ECGBL 2014 werden nach und
nach auf just drafts erscheinen (die ersten beiden Posts,
Welcome and Keynote und The Pitfalls of Gamified
Learning Design sind bereits online), aber zwei herausragende und für meine eigene Forschung wichtige und
inspirierende Präsentationen sollen hier zumindest
erwähnt werden.
Dies war zum einen David Farrell’s “Applying the Self
Determination Theory of Motivation in Games Based
Learning” (David Farrell and David Moffat, Glasgow
Caledonian University, Glasgow, UK; Abstract). Fokus
seiner Forschung zu Motivation und spielbasiertem Lernen war die Anwendung der Self-Determination Theory
(Selbstbestimmungstheorie der Motivation) mit ihren drei
Komponenten Autonomy, Relatedness und Competence
auf Game-Based-Learning-Design. Das Interessanteste war in diesem Fall das negative Ergebnis der Studie,
welches Farrell zu der Vermutung veranlasste, dass in
diesem Kontext vielleicht Purpose als wichtige konzeptionelle Komponente fehlt. Dieses negative Ergebnis
seiner praktischen Studie nebst vermutender Schlussfolgerung war dabei nicht nur deckungsgleich mit den
vorläufigen Ergebnissen meiner eigenen theoretischen
Arbeit, sondern warf in unserer anschließenden Diskussion auch Licht auf ein mögliches Defizit im gängigen
Motivationsmodell der Arbeit, das die Komponente
Purpose zwar an Bord hat, aber dafür Relatedness aus
dem SDT-Modell vermissen lässt — wobei “Relatedness”
im Kern auch die Sicherheit bereitstellt, die Menschen
brauchen, um Neues auszuprobieren und persönliches
Versagen zu riskieren. All diese Aspekte zu Motivation
und Arbeitsmotivation erwähnte ich auch in Tim Bruystens und meinem Vortrag am 11. Dezember 2014 zum
Thema »Game Design, Digitalisierung, Gamifizierung« im
Rahmen des Digitalks »Games & Business« der Digitalen
Stadt Düsseldorf in der MD.H.
Der zweite Vortrag, den ich erwähnen möchte, war
“Replacing PISA with Global Game Based Assessment”
(vollständiges Paper als PDF) von Harri Ketamo und
Keith Devlin (Satakunta University of Applied Sciences,
Finland & Stanford University, USA). Mit ihrer phantastischen Leistung in Game-Based-Learning-Design, Programmierung, Datenerhebung und Datenanalyse haben
die beiden Forscher und ihre Teams ein funktionsfähiges
170 | Im Fokus
game-basiertes globales Echtzeit-Assessment von
Lern­erfolgen geschaffen, das PISA zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ersetzen kann (“For example, sample
collection has to be radically improved in order to minimize noise and bring out only the valid cases”), aber bereits
in seinem aktuellen Zustand in Teilbereichen solidere,
erheblich aktuellere, mehr Länder und Regionen umfassende und in der Tat oft auch sinnvollere Ergebnisse
zu Lernerfolgen liefern kann als PISA. Von allen guten
bis hervorragenden Präsentationen auf der ECGBL war
dies die eine Präsentation, die ich mit offenem Mund
­verfolgte.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Gesamterfahrung war phantastisch und der Nutzen, den ich für meine
Arbeit aus dieser Konferenz ziehen konnte, war immens
— daher möchte ich der Mediadesign Hochschule auch
hier am Schluss noch einmal für ihre Unterstützung
danken.
Prof. Dr. J. Martin
Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf
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Medien- und
Kommunikationsmanagement
Menschenkenntnis für
Führungskräfte
Prof. Dr. Thomas Meyer
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Im Fokus | 173
Menschenkenntnis für
­Führungskräfte
Führungskräfte lernen viel Fachliches, aber haben oft
wenig Zeit und Muße sich abseits vom operativen
Geschäft mit ihrer eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen, obwohl dies für das Weiterkommen im Berufsleben nicht nur für Führungskräfte von großer Bedeutung ist. Geht es beispielsweise um die Einstellung eines
neuen Mitarbeiters, so begnügt man sich oft mit einem
vierstündigen Vorstellungsgespräch, um etwas über
seine Persönlichkeit und Eignung zu erfahren. Eine der
wichtigsten Fragen lautet: Hat der Kandidat Persönlichkeit? Hierzu zählen selbstständiges Denken und Handeln, Verantwortungsbewusstsein, Teamfähigkeit ,
Fairness im Umgang mit anderen. Damit nicht genug: Es
schließen sich soziale Kompetenz, Durchsetzungsfähigkeit, Charisma oder auch Glaubwürdigkeit an. In diesen
Kategorien eingeschrieben ist auch Ausdrucksfähigkeit
und Ausstrahlungskraft. Fähigkeiten, die sich bei jedem
Kandidaten der Beobachtung entziehen. Ein Ansatz, wie
diese Informationsasymmetrie zwischen Kandidat und
Arbeitgeber verringert werden kann, ist die eingehende
Beobachtung des Kandidaten unter der “Laborsituation”
Einstellungsgespräch. Mimik, Gestik und kleinste
körperliche Regungen, besonders im Gesicht sollen
Aufschluss über die Authentizität der Person liefern.
Die Personalverantwortlichen suchen nach Spuren im
Micro-Ausdruck des Gesichts. Wie glaubwürdig sind die
Angaben in der Bewerbung? Je nachdem welcher Eindruck entsteht, schließt der Interviewer von der Visitenkarte des Gesichts auf das Innere des Kandidaten. Und
dabei spielen auch subjektive Präferenzen eine Rolle.
Trotz hervorragender Referenzen kann es daher passieren, dass nicht die Person eingestellt wird, die rational
betrachtet die geeignetste ist, vielmehr der- oder diejenige, welche(r) besonders mit Sympathiewerten punktet.
Die fachlichen Fertigkeiten, die eine Person für eine
Stelle eignen, das qualifizierte Fachwissen ist nur eine
Seite der Medaille. Die Förderung des Mitarbeiters zur
optimalen Leistung die andere, und ein Kennzeichen
erfolgreicher Führung. Es gibt einige Tätigkeiten, die
ein gesunder Mensch in der Regel gerne tut: Er arbeitet
gerne. Eine weitere Tätigkeit, die vielen Menschen großes, bisweilen detektivisches Vergnügen bereitet: Was
sagt das Gesicht über den Charakter?
Die exorbitante Zunahme der Gesichtsportraits auf
Internetportalen (wie Xing oder Facebook) laden den
Menschen tagtäglich geradezu dazu ein, ähnlich wie
im Hollywoodkino oder Fernsehen, permanent Personen zu interpretieren, die uns durch Medien scheinbar
nahe gebracht werden. Grundlage ist stets der erste
Wahrnehmungseindruck, den wir von einem Menschen
haben. Wir schauen auf sein Gesicht. Noch bevor ein
Mensch spricht, wird in Bruchteilen von Sekunden ein
Urteil gefällt. Ist das von Vor- oder Nachteil? Sie merken:
Hier beginnt Kommunikation.
174 | Im Fokus
Das Gesicht als
­Botschaft
Das Gesicht ist eine Botschaft, das wir stets entschlüsseln dürfen (wie in der Populärkultur), und gar müssen,
wie beim Pokern oder im Geschäftsleben, um erfolgreich zu sein. Von der erfolgreichen Kommunikation
der Selbstpräsentation und Körpersprache bis hin zur
Rhetorik und Ausstrahlung, – die zentrale Wirkung des
Gesichts ist evident. Im Zeitalter von Facebook und
Smart-Phone steht das menschliche Individuum mit
seiner Technik im Zentrum. Technik verknüpft den Menschen mit der weltweiten Gesellschaft des Internets und
macht uns zum Bestandteil vieler Netzwerke, in denen
wir uns tagtäglich virtuell bewegen. Aber die Medientechnologien trennen auch die Gliedmaßen vom Kopf:
Viele fremde Betrachter kennen von unserem Dasein
nur unser Gesicht. Die Einheit von Denken, Fühlen und
Seele wird im Zeichen der medialisierten Alltags- und
Berufswelt aufgelöst, zurück bleiben Fragmente. Eines
der prominentesten und privilegiertesten Fragmente
ist die Großaufnahme des Gesichts, denn es bleibt als
zentrale Botschaft stets unversehrt. Freilich muss man
im gleichen Atemzug betonen, dass uns spätestens im
Geschäftsalltag einer Face-to-Face Verhandlung die
Ausstrahlung des ganzen Menschen wieder einholt.
Das also Körperhaltung, Kleidung, Bewegung, Stimme,
Hände und auch Geruch eine große Rolle spielen, abgesehen vom sozialen Status. Der strategische Einsatz des
Gesichts stellt das Individuum vor vielfältige Probleme;
Gesichter zu lesen ist komplex und bereitet dennoch viel
Vergnügen. Vor allem, wenn man bereit ist, aus seinen
Beobachtungen und Erfahrungen zu lernen und die
richtigen Schlüsse zu ziehen.
Menschenkenntnis: Die
Kunst mit Menschen umzugehen
Missverständnisse und Konflikte sind oftmals das
Ergebnis falsch interpretierter und unbedarft eingesetzter Botschaften. Guter Wille allein reicht nicht mehr
aus, wenn die Herausforderungen im internationalen
Geschäft auf die Geschäftsführung zu kommen. Den
anderen zu verstehen, bedeutet auch sich selbst zu hinterfragen. Wie kann ich mich auf einen Geschäftspartner
optimal einstellen? Trifft man auf einen Geschäftspartner, der aus einem anderen Kulturkreis stammt, ist es
ratsam sich kulturell vorzubereiten.
Wie kann das Gesicht strategisch eingesetzt werden, um
effektiv Kommunikation zu führen, ist die zentrale Frage.
Führung ist im Zeichen des kooperativen Führungsstils
an den Aspekt der sozialen Kompetenz gekoppelt. Soziale Kompetenz beinhaltet unter anderem:
1. Sich auf wechselnde Partner einzustellen und
2. Die Absichten anderer zu entschlüsseln. Viele Menschen sagen nicht, was sie denken.
3. Sich angemessen darzustellen und
Im Fokus | 175
4. Marginalexistenzen anzuerkennen – die berühmte
graue Maus, die abseits steht. (Vgl. Crisand/Rahn
2010, S. 18-19)
Was kann man daraus ableiten? Zunächst: Der Umgang
mit Menschen ist komplex, und Kommunikation bleibt
wirkungsunsicher. Im Zeichen der internationalen Arbeitsteilung und der Expansion in neue Märkte wachsen
auch die Herausforderungen. Durch die Globalisierung
treffen unterschiedliche Denkweisen, Wertvorstellungen und Kommunikationsstile aufeinander. Es gibt
neue Herausforderungen, die im Berufsleben eine neue
Vorbereitung, eine neue Professionalität erfordern. Es
gilt, neue Kunden und Kollegen zu überzeugen oder
gar neue Freundschaften zu schließen. Die Signale des
Gegenübers wahrzunehmen, sein Verhalten richtig zu
deuten und darauf entsprechend zu reagieren, ist eine
der Schlüsselkompetenzen für den beruflichen und den
privaten Erfolg.
Die Frage, die sich im Geschäftsleben Führungskräften
stellt: Können wir mit einem Menschen, der uns auf dem
ersten Blick unvertraut, fremd und oder gar feindlich
gestimmt erscheint, effektiv zusammenarbeiten? Und
gerade im Zeichen globaler Märkte, die uns neue interkulturelle Kompetenzen abverlangen: Wo sind Gemeinsamkeiten und Potenziale, wo existieren augenscheinlich Unterschiede?
Unternehmen wollen Mitarbeiter, die auf der rationaler
Ebene funktionieren, sie haben wenig Verständnis,
weshalb sie sich um die emotionale Gefühlslage ihrer
Mitarbeiter kümmern sollen. Dennoch existieren neben
den Sachkonflikten auch Beziehungskonflikte. Weit- aus
mehr als man gemeinhin annimmt. In westlichen
Wirtschaftssystemen wird ungern eingestanden, dass
Beziehungskonflikte existieren. Der Beziehungskonflikt
ist ein betriebliches Tabu: Beziehungskonflikte werden
im Handumdrehen zu Sachkonflikten umettiketiert. (Vgl.
Crisand/Rahn 2010, S. 45) Ein Mitarbeiter, der sonst
hilfsbereit war, hat plötzlich keine Zeit mehr – aber Sie
merken an seiner abweisenden Haltung und seinem
Ausdruck im Gesicht, dass etwas anders ist als sonst.
Vielleicht weicht er Ihnen aus, meldet sich nicht mehr auf
Ihre Emails und will ihr Gesicht nicht sehen.
Mit anderen Worten: Wenn die emotionale Schiene blockiert ist, können wir nur schwer auf der rationalen Ebene erfolgreich miteinander kommunizieren. Wir gehen
von der Annahme aus: Kommunikation zwischen zwei
Menschen kommt nur dann in Gang, wenn grundlegend
der Wille zur Verständigung vorhanden ist. Selbst bei
großen kulturellen Unterschieden, können Sie sich auch
mit Händen und Füßen verständlich machen. Doch bevor
Sie sich jemanden widmen oder der Person gar Vertrauen schenken, blicken Sie in sein Gesicht. Und erst dann
sind Sie bereit, mehr über die Person zu erfahren.
176 | Im Fokus
Das Gesicht – Anlage
oder Umwelt?
Widmet man sich der Frage, welche Spuren im Gesicht
zu finden sind, dann lassen sich zwei Einflussgrößen
benennen: Vererbung oder Umwelteinfluss. Halten Sie
einen Moment inne und überlegen Sie, welche von beiden ausschlaggebend für die Gestalt des Gesichts ist.
Die Antwort lautet: beides. Klima, Kultur, Zivilisation,
Schönheitsideale, wirtschaftliche Situation, Krankheit
und Verletzungen, aber auch Drogen sind mögliche äußere Einflussfaktoren. Die Häufigkeit und Dauer der
Ein-wirkung dieser Parameter auf das Gesicht ist von
großer Bedeutung für seine Semantik. Die genetischen
Infor-mationen bilden dabei den Konstruktionsplan bzw.
die physiognomische Gestalt des Gesichts aus. Die
Gene sind dafür verantwortlich, dass wir von unseren
Eltern bestimmte Eigenschaften erben, z. B. Augenfarbe
oder abstehende Ohren, aber auch Krankheiten und
Verhal-tensweisen können in den Genen festgelegt
sein. Daher ist das Gesicht eine Funktion von Anlage
und Umwelt.
Aus diesem Zusammenhang lässt sich schlussfolgern:
Wenn das Gesicht nicht nur von seiner Anlage, sondern
auch von seiner Umwelt abhängig ist, dann lässt sich auf
die Umweltfaktoren Einfluss ausüben – und ich meine
damit ausdrücklich nicht, dass Sie bei schlechten Anlagen sofort zum Chirurgen gehen sollten. Bis zu einem
gewissen Grad kann jedes Individuum üben und prüfen,
wie man auf andere wirkt.
Um vorbildlich mit den Mitarbeitern umzugehen und sie
richtig “führen” zu können, muss sich der Vorgesetzte
auch über die eigene Wirkung auf seine Umwelt Gedanken machen. Zentral sind dabei die Fragen:
1. Kenne ich mein eigenes Persönlichkeitsprofil und
das meiner Mitarbeiter?
2. Wie kann ich mit der physiognomischen Veranlagung des Menschen besser umgehen? Oder genauer: Wie kann ich meinen eigenen Vorurteilen entgegen treten? (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 103)
Um Mitarbeiter richtig führen zu können, muss sich der
Vorgesetzte also auch über die eigene Wirkung/Persönlichkeitsstruktur Gedanken machen.
Selbstreflexion als Ausgangspunkt von Führung
Voraussetzung der Persönlichkeitsentwicklung ist die
Persönlichkeitsdiagnostik. Die Sprachkompetenz wird
über das Alphabet antrainiert. Trotz des täglichen Konsums von Fernsehen, Kino und Internet wird die visuelle
Kompetenz erstaunlich wenig gefördert. Wie Menschen
Bilder und Gesichter deuten, geht daher oft nicht über
das allgemeine Alltagswissen und die Intuition hinaus.
Der Rezipient findet jemanden aufgrund seines Gesichts
unsympathisch, aber warum das so ist, bleibt ungeklärt.
Häufig überträgt man die in einem schlummernden
Dispositionen auf andere – und (miss-) braucht den anderen als Projektionsfläche. Kommt Ihnen das bekannt
vor? Das Gesicht ist das Vorurteil am Leibe: Schon in den
Im Fokus | 177
ersten Sekunden fällen wir Urteile über Menschen, ohne
sie zu kennen. Wie läuft dieser Prozess im Einzelnen ab?
Unsere Intuition bei der Beurteilung von Gesichtern
unterliegt einem allgemeingültigen Prozess:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Beobachtung und Selektion
Bewerten
Verarbeiten
Speichern
Mitteilen und
erneutes Wahrnehmen. (Vgl. Conen 2003, S. 28 ff.)
Solange wir wie ein Tourist aus der Fensterscheibe
heraus unsere Umwelt wahrnehmen und beurteilen,
werden wir unsere Bilder von Menschen verfestigen
statt zu hinterfragen. Innere Bilder, die wir in der Vergangenheit mit Bedeutung aufgeladen haben und die sich
mit aktuelleren Erinnerungen anreichern. Bilder erinnern
uns an besondere Momente und sind in der Lage, starke
emotionale Erinnerungen wachzurufen. So lagern sich
die Gesichter bestimmter Personen aus der Vergangenheit in unserem Gedächtnis ab. Je nach zu Grunde
liegender Erfahrung (die durchaus über audiovisuelle
Medien vermittelt wird) steht man einem Gesicht zustimmend oder ablehnend gegenüber. Diese Erfahrungen
aus der Vergangenheit haben ihre Wirkung auf die Gegenwart und die Zukunft. Personen meinen eine andere,
ihnen fremde Personen zu (er-)kennen, weil das Gesicht
Ähnlichkeiten zu Ihrem unbewussten Erinnerungsbild
aufruft. Der erste Eindruck, den wir von einem Menschen
haben, ist keineswegs wertfrei. Dabei handelt es sich
um ein menschlich nachvollziehbares Vorurteil, dass uns
hilft, uns durch die Kontingenz des Alltags zu leiten. Diese Orientierungsfunktion verschafft Sicherheit. Bei der
Auswahl von Personal spielt das richtige Bewerbungsfoto eine wichtige Funktion. Es beinhaltet die Orientierung
über den möglichen Charakter des Bewerbers.
Erschwert wird die Interpretation des Gesichts und
seiner Mimik und Gesten durch seine Kulturabhängigkeit
. Was heute Gültigkeit hat und allgemein verständlich ist,
kann in einem anderen Kulturraum anders und möglicherweise falsch interpretiert werden. Beispielsweise
unterscheidet das interkulturelle Management in einer
ganz groben pauschalen Annäherung an die Komplexität
der Sprache zwei Kommunikationsstile, den Kommunikationsstil Nord und Süd. Anders herum muss man die
kulturelle Herkunft einer Person berücksichtigen, den
Ort, die Zeit und die Situation mit einbeziehen, um gesicherte Aussagen über die Bedeutung des Gesichtes zu
treffen. Man kann also das tägliche Leben mit all seinen
Facetten nicht einfach reduzieren.
Aber wie kommen wir aus der Vorurteilsschleife heraus,
die bestehende Bilder und Erfahrungen bloß bestätigt
und die uns davon abhält, erfolgreich auf neue Mitarbeiter, Freunde und neue Geschäftspartner vorurteilsfrei
zuzugehen? Strahlen wir Überzeugung und Charisma
aus und können andere begeistern und führen? Wie
betreiben wir im Sinne der Markenführung “Living the
Brand” für die interne und externe Kommunikation? All
178 | Im Fokus
das führt zu der Frage nach den Einflüssen, die auf die
Anlagen des Gesichts einwirken. Sie führt zu der Frage:
Zeigt unser Gesicht
­unsere Persönlichkeit?
Eine der wesentlichen Aspekte, die Näher an die Vorstellung von Persönlichkeit, Charakter und Ich führen, ist
der Begriff der Authentizität: Wer bin ich? Und: Wann bin
ich selbst bei mir? Eine kurze Antwort auf dies sehr komplexe Frage lautet: Ich bin vor allem dann bei mir, wenn
ich von einer Sache zutiefst überzeugt bin, wenn ich
darin aufgehe, was ich mache, dann so die These, bin ich
zufrieden und ausgeglichen, was sich folglich auf Haltung und Ausdrucksweise auswirkt. Dennoch lässt das
Menschliche auf diese Frage viele Antworten zu, d. h. es
entzieht sich einer Objektivierung: Jeder hat eine andere,
subjektive Antwort darauf. Was beobachtbar bleibt, ist
das stete und unstillbare Verlangen nach authentischen
Personen, nach authentischen Gesichtern. Es scheint,
als könne der Bedarf niemals wirklich gedeckt werden.
Doch im Zeitalter der Mediengesellschaft, der Beschleunigung von Raum und Zeit, der vielfältigen Ansprüche,
die das Privatleben und das Berufsleben an den Arbeitnehmer stellen, verliert das Individuum sehr schnell
den Blick für die Ziele. Selbstverwirklichung gilt in der
westlichen Kultur als das höchstes Ziel in der Bedürfnispyramide. Selbstverwirklichung ist nicht nur das
Ziel einer durch Sozialisation geprägten bürgerlichen
Mittelschicht, es beinhaltet in anderen Kulturen oftmals
nur die Sicherung des täglichen Überlebens. Deswegen
ist Selbstverwirklichung in westlichen Gesellschaften
noch lange kein Luxus, aber das konkrete Ziel vieler im
Arbeitsleben. Authentizität, das Gefühl bei sich zu sein
und nicht fremdgesteuert zu werden sind wesentliche
Merkmale von Selbstverwirklichung.
Aber Selbstverwirklichung – wie macht man das? Eine
Frage, und oft eine schwierige Antwort, die daran anschließt: „Was sind die Dinge, die mich glücklich machen”?
Aus Platzgründen möchte ich eine Methode vorstellen,
die verblüffend einfach erscheint. Schauen Sie auf sich
selbst: Führen Sie ein Tagebuch. Schreiben Sie morgens
auf, wie ihr Tag aussehen soll, was sie als positiv und
negativ erfahren haben, welche Hindernisse sich Ihnen
in den Weg stellen, was sie sich vornehmen und erreichen wollen. Ohne dieses hochspannende Thema weiter
auszuführen (auch dafür wäre ein gesonderter Blog-Beitrag nötig) bleibt festzuhalten: Das Führen eines Tagebuches wird Ihnen helfen, ihr Bewusstsein zu schärfen. Sie
werden sich über Ihre Ziele im Klaren sein. Sie brauchen
dazu zehn Minuten täglich, in denen Sie über Ihr Leben
nachdenken. Versuchen Sie alles, was Ihnen in den Sinn
kommt, aufzuschreiben, auch vermeintlich Unwichtiges.
Schreiben Sie es heraus! Erst wenn Sie wissen, was
sie wollen, können Sie auch Strategien entwickeln, die
darauf aufbauen. Wenn Sie innerlich aufräumen und zur
Balance finden, werden Sie auch Äußerlich wirken. Die
Im Fokus | 179
Psyche wird mit dem Erscheinungsbild in Einklang sein,
Ihr Gesicht strahlt von innen.
Und noch etwas: Überzeugend sind Sie, wenn Sie ein
Theater spielen, das ihnen Erfüllung und Freude bereitet. Indem Sie gerne in eine Rolle schlüpfen, weil Sie
anderen etwas vermitteln wollen. Setzen Sie das Gesicht
auf, das von Ihnen erwartet wird. Rasieren Sie sich, wenn
es nötig ist, ziehen Sie eine Brille auf oder schminken Sie
sich. Und machen Sie es gerne!
Wie die Dekoration einer Bühne dem Schauspiel zum
Ausdruck verhilft, so verhält es sich mit der Fläche des
Gesichts. Gesichtstheater funktioniert ebenfalls nur,
wenn es perfekt gespielt wird. Gesichtstheater steht keineswegs im Widerspruch zu Authentizität. Ein Mensch,
der sein ganzes Leben den Naturkräften ausgesetzt ist,
arrangiert sich mit diesen Gegebenheiten und Herausforderung seiner Existenz. Das wiederum hat mit dem
Dasein eines Büromenschen in der Stadt wenig zu tun.
Die permanente Veränderung von Raum und Zeit unter
dem Primat der Mobilität fordert ein, sich rasch zu verändern. Der angepasste Stadtmensch hat nicht ein Gesicht, sondern viele. Er kann sich ökonomisch gar nicht
mehr erlauben, nur noch mit einem Gesicht durch die
Welt zu gehen. Zurück bleibt allein die Frage, wie gut das
Individuum sich anpasst und in seinen Rollen aufgeht. Ist
der Ausdruck der jeweiligen sozialen Situation angemessen, oder kostet die Maskerade viel Aufwand, bis sie
überzeugend sitzt?
Bevor Sie jemanden Fremdes um einen Gefallen bitten,
schauen Sie in sein Gesicht. Noch bevor Sie zum Vorstellungsgespräch geladen werden, weckt Ihr Bewerbungsfoto Erwartungen. Schon die bloße Erscheinung
des Gesichts ist Kommunikation.
Paul Watzlawick nennt das “Man kann nicht nicht kommunizieren”. Man fragt sich aber auch, was spiegelt sich
in den Gesichtern der Anwesenden wider? Wenn der
Körper spricht, selbst wenn wir stumm sind, zeigt er dann
unser Inneres, unser Unbewusstes, unsere Persönlichkeit? Ist also unser Gesicht, wenn wir nicht sprechen, der
Fingerzeig auf unser wahres Ich? Damit will ich nicht sagen, dass man jedem Menschen vor den Kopf schauen
kann. In Ihrer Firma erfahren Sie auch erst nach einigen
Wochen, ob Ihre Einschätzung richtig war, die Person
ihrer Wahl einzustellen. Sozial angemessen zu reagieren,
d. h. auch ein Gesicht aufzusetzen, lernen Menschen im
Alter von fünf Jahren. Unter diesen komplexen Voraussetzungen erscheint die Deutung des menschlichen Gesichts schwieriger denn je. Der folgende Strategieplan,
der vom Unternehmenscoach Horst Conen entwickelt
wurden, ist ein erster Ansatz, um die Menschenkenntnis
zu verbessern:
180 | Im Fokus
Strategieplan
Seien Sie vorsichtig mit jeder vorschnellen Einordnung
eines Menschen.
1. Sehen Sie die Einschätzung einer Person, die Sie
zum ersten Mal sehen, als Spielmöglichkeit. Als vorläufiges Urteil, ohne dass Sie einen Menschen gar
nicht als Menschen annehmen können. Verzichten
Sie aber auf Pauschalisierungen und Typisierungen.
2. Ungewohnte Situationen mit unterschiedlichen
Menschen sind die ideale Voraussetzung, um mehr
über Menschen zu erfahren.
3. Übernehmen Sie nicht kritiklos Bewertungskriterien
von anderen, auch nicht von Medien. prüfen, testen,
berichtigen Sie diese.
4. Unterscheiden Sie äußeres Erscheinungsbild und
Charakter.
5. Versuchen Sie biographische Informationen über Ihr
Gegenüber zu erhalten.
6. Haben Sie keine Angst, immer wieder neu hinzuzulernen! Die Beurteilung von Menschen ist keine
leichte Aufgabe. (Vgl. Conen 2003, S. 53)
Der Versuch, die nonverbale Ausdrucksweise des
Menschen zu erfassen und zu deuten, hat eine historisch weit zurück reichende Tradition. Oft wiederholen sich diese Deutungen in unzähligen Ratgeberbüchern, die uns erklären, wie Physiognomik des
Menschen zu lesen sei. Auch ohne diese Anleitungen treffen viele Menschen instinktiv die richtige
Entscheidung bei der Einschätzung eines Men-
schen: Sie haben Menschenkenntnis. Natürlich gibt
es Richtlinien und Konventionen, die Sie in jedem
Rhetorik Seminar lernen können. Wenn Sie mal einige besucht haben, dann werden Sie feststellen, dass
es dabei hauptsächlich auf die regelmäßige Übung
ankommt. Für das Gesicht ist die Einübung einer
Dramaturgie schwieriger. Jeder Einübung sperrt
sich die Physiognomik entgegen. Individualität, das
bedeutet eine einmalige Physiognomik können Sie
nicht ohne weiteres abstreifen, ihr Gesicht ist ein
ständiger Begleiter, einen Schatten ihres Ausdrucks,
den Sie nicht ohne weiteres abstreifen können.
Doch können Sie einiges tun, damit sie als vorteilhaft
wahrgenommen werden. Und dies gilt insbesondere
für Führungskräfte. Sie sollten sich folgende Fragen
stellen:
A:- Wie bin ich?
B: – Wie verhalte ich mich?
C:- Wie wirke ich? (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 103)
Ich konzentriere mich auf den letzten Aspekt, gleichwohl lässt sich die Frage nach der Wirkung nicht isoliert
betrachten, insofern sind die ersten beiden Punkte
bedeutsam.
Im Fokus | 181
A) Zur Frage: Wie bin ich?
hat sich in der Praxis folgendes bewährt:
1. Die Selbstanalyse
Die Selbstanalyse ist ein erster Schritt, bei dem eine
Person dazu angeregt wird, sich anhand vorgegebener
Eigenschaftsdimensionen zunächst selbst einzuschätzen. Wie sehe ich mich selbst, wenn ich in den Spiegel
schaue? Viele Teilnehmer erkennen im Laufe dieser
Frage, dass sie die eigene Beschreibung vor Probleme
stellt. Wie kann man über sich selbst objektiv sprechen?
Hier kann man deutlich machen, dass eine Fremdanalyse erfolgen kann.
2. Die Fremdanalyse
Die Fremdanalyse sollte von einer dem Teilnehmer
nahestehenden privaten oder betrieblichen Person
durchgeführt werden. Meist bevorzugen die Teilnehmer
einen privaten Partner, weil sie sich scheuen von einem
Mitarbeiter oder Kollegen beurteilt zu werden. Anders
ist das in Seminaren, hier ist der Seminarleiter gefordert.
Meistens entsteht dann bei der Absprache über die drei
Ergebnisse (Selbst-, Fremd- und Testanalyse) in der
Gruppe eine rege Diskussion.
3. Die Testanalyse
Die Testanalyse als dritter Schritt: Dabei bearbeitet jeder
Teilnehmer die für ihn vorgesehenen Testergebnisse.
Jede Testperson sollte sich folgende Fragen stellen:
3.1 Kann ich das Ergebnis selbst akzeptieren, finde ich
mich in dieser Testaussage wieder? Wenn ja, folgt die
nächste Frage.
3.2 Stand das zugewiesene Merkmal meines Gesichts
mir in der Vergangenheit im Wege oder hat es zu meinem
Erfolg beigetragen?
3.3. Wenn das Merkmal mir im Wege stand, oder gar
geschadet hat, sollte ich versuchen es anzugehen oder
gar abzubauen.
3. 4 Trug es zu meinem Erfolg bei, sollte ich versuchen,
dieses positive Merkmale auszubauen?
Beim Analyseverfahren geht es darum: 1. Persönlichkeit
erfassen und 2. Viele unterschiedlichen Eigenschaften
eines engeren Persönlichkeitsbereichs zu messen. Als
methodisches Instrument dient dabei das Freiburger
Persönlichkeitsinventar (FPI), das wiederum mehrere
Persönlichkeitsskalen bereit hält. (Vgl. Crisand/Rahn
2010, S. 106 ff.)
182 | Im Fokus
B) Wie verhalte ich mich? C) Wie wirke ich?
Die Teilnehmer müssen vor der Anmeldung ein Bewerbungs- oder Passfoto aushändigen, das dann ohne
Zusatzinformationen unter den Teilnehmern getauscht
wird. Bis jeder Teilnehmer ein Foto eines unbekannten
Teilnehmers hat und es analysiert. Daraufhin sollte jeder
Teilnehmer auf etwa einer halben Seite notieren, wie er
die Person auf dem Foto einschätzt: Hinsichtlich seiner
Leistungsorientierung, sozialen Orientierung, Glaubwürdigkeit, Ästhetik usw.
Zu Beginn des Seminars werden die zufällig entstandenen Pärchen in der Realität zusammengeführt und unterhalten sich rund zehn Minuten miteinander über einen
Aspekt in ihrem Leben, der nichts mit dem Berufsleben
zu tun hat. Es geht dabei um den unmittelbaren Eindruck, den man von einer lebendigen Person erhält, und
der das fotografierte Bild, die Persönlichkeit in einem
anderen Licht erscheinen lässt.
In Rahmen der Gesichtsanalyse und Beschreibung können Videoaufzeichnungen sehr bedeutende Beiträge
leisten.
Im Rahmen eines Kurzreferates, das mit Video aufgezeichnet wird, lassen sich nun folgende Details analysieren:
•
•
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•
•
•
•
Blick und Gesicht: aufmerksam, einnehmend, fokussierend, natürlich.
Der Gang eines Menschen: schnell, energisch, stolpernd, schwer.
Die Körperbewegungen: natürlich, beweglich, ausgreifend, angemessen, plump
Die Mimik: klar, offen, streng, herrisch
Die Sprechweise: klar, bestimmend, versöhnlich,
weich, monoton, schreiend, verletzend.
Die Art des Redens: vernünftig, zurückhaltend,
ängstlich, wortkarg, redselig.
Die Umgangsformen: herzlich, gewandt, diplomatisch, rau , unbeholfen, ungeschliffen. (Vgl. Crisand/
Rahn 2010, S. 114)
Bei der Verhaltensanalyse können behindernde Verhaltensweisen abgebaut werden, wie z. B. ein verschlossenes Gesicht, dass nicht den Blick und damit den Kontakt
mit dem Publikum sucht. Auch die Frage wie die Artikulation der Kommunikation über die Hände geschieht,
kann für den Ausdruck des Gesichtes entscheidend
sein; nicht zuletzt im Hinblick auf die Gestik eines Menschen. Wenn ein Seminarteilnehmer sich selbst beobachtet, bemerkt er oft die Notwendigkeit von Verhaltensveränderungen. (Vgl. Crisand/Rahn 2010, S. 115)
Im Fokus | 183
Zum Abschluss noch etwas zum Zusammenhang von
Mensch und Marke:
Wenn Sie eine professionelle Marke aufbauen und
führen wollen, d. h. wie ein Politiker oder Filmstar, dann
sollten Sie es anders machen als Carl Böhm. Dieser
wurde berühmt durch seine Erfolge als Kaiser Franzl in
der Sissi-Trilogie. Ein Image, das als gutbürgerliche Projektionsfläche für den bis heute unersättlichen Bedarf
des Publikums nach charismatischen Autoritäten taugt.
Demgegenüber musste die Rolle, die Carl Böhm als
psychopathen Frauenkiller in Peeping Tom (1960) zeigt,
Verstörung und Ablehnung beim Betrachter hinterlassen. Die Konsequenz: Carl Böhm bekam nach seinem
Auftritt als Serienkiller für Jahre keine Rolle mehr.
Seine Fans wendeten sich von ihm ab. Daran sieht man:
Gesicht des etablierten Schauspielers fungiert auch als
Versprechen und Erwartung. Mit den unerfüllten Erwartungen seiner Fans zerstörte Böhm seine Marke und
seine Karriere. Peeping Tom gilt übrigens mittlerweile
längst als Kultfilm.
Literaturverzeichnis:
Crisand, Ekkehard; Rahn, Horst Joachim 2010: Psychologie der Persönlichkeit. Arbeitshefte Führungspsychologie, Band I, 9. Auflage. Hamburg: Windmühle Verlag
GmbH.
Conen, Horst 2003: Die Kunst mit Menschen umzugehen. München: Knaur.
Prof. Dr. Thomas Meyer
Fachbereich Medien- und Kommunikationsmanagement, MD.H Düsseldorf
Mediadesign Hochschule
für Design und Informatik GmbH
Private Hochschule
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