Die Flötistin Christine Hildebrand aus Aachen unterrichtet Kinder

nR. 7 · SamStag, 9. JanuaR 2016
machtVoll
Anna Loos spielt eine
Anwältin, die in die
Politik geht. ▶ mensch
maSSVoll
Christoph Meixner baut
Modelle von zerstörten
Gebäuden. ▶ mittendrin
StilVoll
Ein Besuch im Museum
für angewandte Kunst
in Köln. ▶ Freizeit
Mit Musik ins
Leben finden
Die Flötistin Christine Hildebrand aus
Aachen unterrichtet Kinder nach
der japanischen Suzuki-Methode
G efra g t
Warum gerade das?
Von Sabine RotheR
R
eiskornspucken an der offenen
Balkontür macht Spaß! Die beiden
kleinen Mädchen Lisa (5) und Iris
(6) tun es mit Hingabe, Christine
Hildebrand spuckt mit. Da ist immer wieder ein luftiges „p“ zu hören, wie eine
kleine Lippen-Explosion. „Wir sind mitten im Unterricht“, lacht die fröhliche
Lehrerin, „und die Vögel haben auch
noch etwas davon.“ Warum das? Die fliegenden „Reiskörner“ sind in Wirklichkeit
Sonnenblumenkerne, eine Variante zum
japanischen Original.
„Die Kinder werden
selbstsicherer.“
chRiStine hilDebRanD,
QueRFlötenlehReRin
Sinne und Seele des Menschen. Das Kind
wird in seiner Persönlichkeit gefördert“,
hat er gesagt. Für Christine Hildebrand
öffnete sich ein neuer Blick auf die Musikerziehung. Seit kurzem ist die Flötistin
eine von nur fünf examinierten Lehrerinnen für Querflöte nach der Suzuki-Methode in Deutschland. „Das Theater
Aachen hat mir sogar einen Teil der Ausbildung finanziert“, erzählt die Flötistin,
die nach 50 Unterrichtsstunden und einigen Workshops in England und den Niederlanden bei Karen Lavie ihre Prüfung
abgelegt hat. Seit April 2014 bildet Karen
Lavie, die zuvor 20 Jahre lang Lehrer für
das New Zealand Suzuki Institute geschult hat, Musikpädagogen für die European Suzuki Association aus.
Der gegenseitige Respekt ist ein Kernelement der facettenreichen Früherziehung. Wenn die fünfjährige Lisa zunächst
allein nur mit ihrer Mama zum Unterricht
in Christine Hildebrands weitläufiges, gemütliches Wohnzimmer hüpft, gibt es ein
lustiges Hallo. Die versilberte Querflöte
wird ausgepackt – eine „richtige“ Flöte,
die Kinderformat hat. Dann holt Lisa eine
Christine Hildebrand ist seit 1988 Flötistin im Sinfonieorchester Aachen und
verfügt über langjährige Unterrichtserfahrung. „Mein Beruf ist wunderbar,
aber ich habe mehr zu geben“, betont die Musikerin, die irgendwann mit Erstaunen
feststellte: Es gibt einen Querflötenunterricht für Kinder,
die noch nicht in die Schule gehen – ganz
im Sinne von Altmeister Shinichi Suzuki,
kurz, die Suzuki-Methode. Suzuki? Wer
diesen Namen hört, denkt an kleine, fein
angezogene japanische Kinder, die wie
eine musikalische Hundertschaft auf
winzigen Geigen taktgenau Melodien
produzieren. Seit den 50er Jahren wurde
diese Methode auch auf andere Instrumente – zum Beispiel auf die Querflöte –
übertragen. Die Botschaft des modernen
Pädagogen, Violinisten und Kinderfreundes Suzuki ist nicht an ein spezielles Instrument gebunden: „Musik wirkt auf
Lisa (5) beim Querflöten-Unterricht nach der Suzuki-Methode. Vor ihr steht die Lehrerin, auf den Fingern leuchten bunte
Lämpchen – jedes für einen Finger und eine Klappe an der Querflöte.
Fotos: Harald Krömer
Matte hervor, auf der die Umrisse ihrer
Füße zu erkennen sind. Lehrerin und
Schülerin nehmen voreinander Aufstellung. Lisa ist jetzt still und konzentriert.
Mit einer beiderseitigen Verbeugung beginnt die Stunde, bei der der Arbeitsanteil
zunächst maximal 30 Minuten ausmacht,
sich jedoch steigert – je nach Kind. Jetzt
glänzen beide Flöten auf gleicher
Höhe. „Hast du Lust?“ Lisa, die vor
einem Jahr mit dem Flötenunterricht
begonnen hat, nickt. Mama Silke
strahlt, denn in letzter Zeit war
das Üben daheim nicht so sehr
Lisas Sache. „Die Begleitung
der Eltern, die Motivation und
Unterstützung sind extrem
wichtig”, sagt die Flötistin.
„Deshalb ist es gut, dass ein
Elternteil beim Unterricht
dabei ist.“
Die freundliche Hinwendung zum Kind prägt den
Unterricht. Sobald die Fünfjährige unruhig wird, hat
ihre Lehrerin eine neue
Idee. Auf dem Wohnzimmertisch stehen offene
Schachteln, die aussehen,
als ob eine Überraschungseier-Sammlung
geplündert wurde. Tatsächlich sind es Geschicklichkeitsspielzeuge, ein Krokodil,
in das man pustet und bei dem man dafür
sorgen muss, dass die beiden Kügelchen
wieder in den Vertiefungen für die Augen
landen, oder
eine winzige
Flöte, bei der
sich ein
Faden in
die Höhe bewegt, wenn man für einen anhaltenden Luftstrom sorgt. „Das Kind
spielt und lernt”, sagt die Lehrerin.
Jetzt kommt eine Melodie an die Reihe.
„Mary has a little lamb“, die Melodie sitzt,
dabei kennt die Fünfjährige noch gar
keine Noten, sie lernt „muttersprachlich“
nach Gehör. Dann klingelt es an der Tür.
Die sechsjährige Iris stürmt herein und
gesellt sich zu Lisa „Sie konnte es kaum
erwarten“, lächelt Claudia, ihre Mutter,
die natürlich mitkommt. Iris ist bereits
ein Schulkind. Geschickt sorgt Christine
Hildebrand beim nun gemeinsamen
Unterricht für das notwendige Gleichgewicht, bändigt, regt an, lässt die Kinder in
einem gewissen Rahmen mitbestimmen,
was geübt und ausprobiert wird. Ansporn
ja, Konkurrenz nein.
ausgleichend
Wo Lisa bedächtig agiert, kann es
schon mal sein, dass Iris stürmisch loslegt
– da gilt es für die Lehrerin auszugleichen.
So kommen beide Kinder zu ihrem Part
und dürfen auch schon mal einen Moment lang toben und kichern. Jetzt wünschen sich die Mädchen eine japanische
Melodie von Christine Hildebrand, hören
andächtig zu und wiederholen Passagen
– auswendig. „Denkt an eure Füße“, ruft
die Lehrerin, „Musizieren beschäftigt den
ganzen Körper.“
Bis zu zehn Kinder können mit der
Suzuki-Methode unterrichtet werden. Die Kombination aus Einzelstunde und kleiner Gruppe ist
wichtig. „Die Kinder werden
selbstsicherer”, beobachtet
Christine Hildebrand. Toleranz, Disziplin, Konzentration, Hinhören: „Kinder, die
Musik machen, lernen soziales Verhalten, deshalb ist
die Begegnung mit anderen
so gut“, betont die Flötistin.
Für sie ist dieser Unterricht
mehr als ein neuer beruflicher
Weg. Gern zitiert sie den deutschen Naturphilosophen Lorenz Oken (1779-1851), der
lange vor Suzuki erkannte:
„Das Auge führt den Menschen in die Welt. Das Ohr
führt die Welt in den Menschen.“
Dachzeile
Mit einer Verbeugung beginnt die Unterrichtsstunde (li.), Kerne spucken trainiert
den Lippenansatz bei Lisa (li.) und Iris (re.), Christine Hildebrand macht mit. Schon
bald halten die Kinder ihre Querflöte wie die Großen – das macht sie stolz.
christine hildebrand (Foto) ist Flötistin im
Sinfonieorchester Aachen. Sie unterrichtet
Querflöte – seit kurzem auch nach der Suzuki-Methode. Sie ist dabei eine von bisher nur
fünf Lehrerinnen in Deutschland, die diese
Zusatzbefähigung erworben haben.