Artikel Als Deutsche auf der Flucht waren sachbuch

vom 23.03.2016
Als Deutsche auf der Flucht waren
SACHBUCH:
Heide Scherer hat sich die Geschichten von Menschen erzählen lassen, die sich 1945 aus den Ostgebieten retten mussten
Es sind Bilder, die sich einprägen, erschrecken, erschüttern. Bilder von Menschen, die sich in überfüllte Boote drängen, von Familien, die ungeschützt vor
Regen, Schnee und Schlamm zu Tausenden durch fremde Landschaften ziehen
und Schlange stehen für eine Kelle voll
Suppe. Es sind Bilder von jetzt – und von
vor 70 Jahren. „Ich kann die Berichte in
der Tagesschau fast nicht sehen. Alles
kommt wieder hoch“, sagt eine der alten
Damen, deren eigene Fluchterfahrungen
Heide Scherer in ihrem Buch „Wer Beine
hat, der laufe – Geschichten von deutscher Flucht und Vertreibung“ gesammelt hat.
Scherer, die früher als Lehrerin gearbeitet hat und in Schopfheim lebt, hat dieses Projekt 2007 begonnen. Bis 2012 hat
sie Zeitzeugen befragt, fünf Frauen und einen Mann, die im Winter 1944/45 als Erwachsene oder Kinder aus den östlichen
Gebieten des damaligen Deutschen Reiches vor der Roten Armee geflohen sind.
Ihre Zeugnisse sind von eindringlicher,
teils verwirrender Aktualität: Das ist
Flucht, das passiert Menschen, die auf der
Flüchtlingstreck 1945 auf dem zugefrorenen Frischen Haff
Flucht sind, immer wieder.
Gefunden hat die Interviewerin ihre
Informanten im Bekanntenkreis. Nur ei- Das bedeutete: Flucht wird mit dem Tod der Familie preis. Für alle war es ein spürne der Gefragten hat abgelehnt, weil sie bestraft. Am Abend des 19. Januar wurde barer emotionaler Kraftakt, das Erlebte
sich mit dem Erlebten nicht mehr kon- die Flucht freigegeben.“
noch einmal wachzurufen.
frontieren wollte, eine hat das fertige InHunderttausende Menschen machten
Zugleich ist in den Interviews mitunter
terview nicht freigegeben, so Heide Sche- sich bei klirrender Kälte auf den Weg – die auch eine Art Freude, Dankbarkeit oder
rer im Gespräch über ihr Buch. Aber sonst 20 Grad minus haben sich allen einge- Stolz zu spüren, es wird ein Stück Lebensgab es keine Tabus.
prägt – über das zugefrorene Frische Haff geschichte rehabilitiert. Und es wird auch
Erhellend und berührend sind die in der Ostsee, um einen Platz auf dem Kostbares erinnert: Zusammenhalt, Hilfssechs Fluchtgeschichten in doppelter letzten Boot ringend: „Wir hatten Schiffs- bereitschaft, unverhoffte Spielkameraden
Hinsicht: Sie vermitteln Einsichten zu ei- karten. Aber es war kein Durchkommen. aus einem ausgebombten Haus wie
nem Stück deutscher Geschichte, das in Ein höherer Offizier kam mit seiner Frau „Trudchen, Gerti und Handl“ und Szenen
Deutschland erst spät und teils unter er- und einem Zwillingswagen. Zwei Säuglin- eines fragilen, fast unwirklichen Innehalheblichen Vorbehalten thematisiert wer- ge lagen darin. Mit vorgehaltener Pistole tens. „Ich hatte etwas Schutz durch den
den konnte. Wer weiß heute schon noch, hat er versucht, durchzukommen. (...) Säugling. Der [Russe] hat mich nicht angedass 1945 in den östlichen Gebieten die Wir haben uns an den Kinderwagen fest- fasst. Aber er saß bei mir in der Stube.
Menschen auf eine offizielle „Fluchtfrei- geklammert. Und nicht mehr losgelassen. Und er hat meinen Sohn so ein bisschen
gabe“ warten mussten – in
So sind wir auf das Schiff gestreichelt. Der Helmut lag ja im Kinderdoppelter Angst: vor den
gekommen.“ Wieder an wagen, (...) nicht gerade hungergeschäanrückenden Russen und
Land, ging es weiter, vor- digt. Aber für mich gab es doch bloß Wasvor den eigenen Soldaten.
bei an Kranken, Erschöpf- sersuppe. Wassersuppe von geschlachteSchließlich galt es, an den
ten, Toten.
ten Pferden,“ erinnert sich Elsa Grauer.
„Endsieg“ zu glauben.
Die Gräuel, die sie geseSpäter, als sie von ihrer sieben Jahre
„Am 16. Januar 1945“,
hen und hinter sich gelas- dauernden Flucht von Reppen nach Zweiheißt es in einem der Besen haben, bedrängen brücken erzählt, seufzt sie unvermittelt:
richte, „überschritt die RoScherers Interviewpartne- „Ach, es war alles so schwer. Ich habe alte Armee die Grenzen des
rinnen bis heute, in Träu- les vergessen.“ Aber so ist es nicht. Im GeWarthegaus.
Gauleiter
men und beim Erzählen. genteil. Die Erinnerungsgenauigkeit der
Greiser gab am Morgen des
Manchmal halten sie inne, Befragten ist unglaublich, ihre Geschich19. Januar in der Presse beschweigen, weinen. Eini- ten sind so anschaulich, dass man, obkannt: ‚Der Warthegau
ge geben ihre Geschichte wohl sie auch schrecklich sind, mehr lebleibt auf ewig deutsch.’ Heide Scherer
zum ersten Mal außerhalb sen möchte.
FOTOS: DPA, SUSANNE FILZ
Die eigene Stimme der Interviewten
hat Heide Scherer durch eine behutsame
redaktionelle Arbeit bewahrt, die sich vor
allem auf die Chronologie des Erzählten
konzentrierte. Die Erzählenden werden
in diesem Buch als Menschen spürbar,
mit ihrer subjektiven Perspektive, ihren
Eigenarten, ihrer Angst, ihrer Trauer und
ihren Hoffnungen.
Zugleich weist das Buch über die individuellen Schicksale hinaus: als Ermutigung für all jene, die die Gräuel ihrer
Flucht in jenem eisigen Winter seit Jahrzehnten in sich verborgen haben – und als
Aufruf, die Schutzsuchenden, die jetzt zu
uns kommen, nicht nur zu versorgen,
sondern auch offen zu sein für ihre Geschichten. Geschichten über Alltägliches,
für immer Verlorenes und über die
schrecklichen Erlebnisse im Krieg und
auf der Flucht.
Gabriele Michel
–
Heide Scherer: Wer Beine hat, der laufe
– Geschichten von deutscher Flucht und
Vertreibung. Europa Verlag, München 2016.
182 Seiten. 18,99 Euro.
Lesungen von Heide Scherer: Schopfheim,
Regio Buchhandlung, 7. April, 19.30 Uhr.
Steinen, Mühlehof, 28. April, 17 Uhr. Weitere
Veranstaltungen in Denzlingen und anderen
Orten sind in Vorbereitung.