Wahlkampfgetöse? Oder ernsthafte Fachdiskussion?

Wahlkampfgetöse? Oder ernsthafte Fachdiskussion?
Acht Gründe dafür, warum Auslandsprojekte sinnvoll sind
Wilfried Knorr, Peiting
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Auslandsmaßnahmen sind kein Urlaub.
Auslandsmaßnahmen sind erfolgreich.
Auslandsmaßnahmen sind vielfältig.
Auslandsmaßnahmen sind nicht teurer.
Auslandsmaßnahmen sind integriert.
Auslandsmaßnahmen sind zeitgemäß.
Auslandsmaßnahmen sind oft ohne Alternative.
Auslandsmaßnahmen bieten Arbeitsplätze.
Vorbemerkung:
Erneut sind freie Träger der Wohlfahrtspflege aufgrund von (wahlkampfbedingten?) Äußerungen
verantwortlicher Politiker gezwungen, gegen eine Einschränkung der durch das KJHG gegebenen Möglichkeiten
für Intensiv-Pädagogische Einzelmaßnahmen Stellung zu beziehen. Ich verweise auf meinen in der Diktion
gleichen Artikel in der EJ 5/98, der ebenfalls auf bayerische Politikeräußerungen reagierte. Leider scheint es
diesmal ernst gemeint zu sein: das Argument der leeren kommunalen Kassen verschärft die Diskussion.
1. Auslandsmaßnahmen sind kein Urlaub.
Häufig wird dieses Bild suggeriert: Ein junger Mensch benimmt sich (richtig) heftig daneben, wird massiv
dissozial und auffällig und bekommt dann quasi zur Belohnung einen Abenteuerurlaub unter Palmen. Also der
Club Méditeranée als Pädagogik getarnt.
Nichts trifft die Wirklichkeit weniger: Auslandsmaßnahmen gibt es ganz überwiegend eben nicht in
Urlaubsgegenden, sondern in reizarmer Wildnis . In Auslandsmaßnahmen setzen sich junge Menschen mit dem
erlittenen sexuellen Missbrauch genauso auseinander wie mit der eigenen Biographie als Erpresser oder
Schulschwänzer niemand von uns tut das im Urlaub. In Auslandsmaßnahmen gibt es einen engen geregelten
Tagesablauf mit harten Arbeitsanforderungen häufig wesentlich rigider strukturiert als in nachfolgenden
Jugendhilfemaßnahmen. Diese Projekte haben wesentlich mehr mit Anspannung als mit Entspannung zu tun.
2. Auslandsmaßnahmen sind erfolgreich.
Exakte wissenschaftliche Untersuchungen über den Erfolg von Auslandsmaßnahmen fehlen, das stimmt. Es ist
nicht einmal definiert, was denn Erfolg sei. Dennoch halte ich die These aufrecht: Auslandsmaßnahmen sind
erfolgreich. Ich begründe dies wie folgt:
Etwa 75 Prozent der jungen Menschen, die eine Auslandsmaßnahme durchlaufen, werden anschließend in
weiterführende Hilfen aufgenommen. Das ist eine außerordentlich hohe Quote, wenn man berücksichtigt, dass
gerade das Scheitern mehrerer vorangegangener Jugendhilfemaßnahmen eines der häufigsten Aufnahmegründe
für solche Projekte ist.
Etwa 50 Prozent dieser Gruppe schließt nach dem Projekt eine Schul- oder Berufsausbildung erfolgreich ab.
Auch dies ist angesichts der Voraussetzungen keine geringe Quote. Lediglich rund 15 Prozent der jungen
Menschen werden nach der Projektmaßnahme wieder straffällig. Freilich: Wir können nicht empirisch beweisen,
dass die Auslandsmaßnahme der Grund dafür ist, dass junge Menschen nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung
treten und stattdessen einen Arbeitsplatz bekommen und ihren Weg finden. Ich sehe hier durchaus ein weites
Feld für sorgfältige Forschung. Wir können jedoch beweisen, dass junge Menschen und Mitarbeitende die Zeit
während der Maßnahme als außerordentlich sinnerfüllt erleben, dass es neu gelingt, eigene Ressourcen
aufzudecken und mit diesen arbeiten zu können. Viele junge Menschen beschreiben zwar ihr Projekt als höchst
anstrengend, aber als die beste Zeit ihres Lebens.
3. Auslandsmaßnahmen sind vielfältig.
Pädagogik lebt von der Vielfalt der Methoden. Für eine individuelle Notlage muss eine individuelle Methode
bereitstehen. Ein Kind mit einer Liebe zu Pferden kann durch heilpädagogisches Reiten gefördert werden ein
Kind mit handwerklichen Fertigkeiten und Interesse daran kann durch Arbeiten auf einer Werft an einem alten
Segelschiff und einer anschließenden Reise damit gefördert werden. Das gesamte Spektrum
erlebnispädagogischer Methodik muss weiterhin zur Anwendung kommen dürfen; es kann nicht sein, dass
Felsklettern eine sinnvolle Maßnahme in Berchtesgaden, aber keine sinnvolle Maßnahme im Ötztal ist. Es kann
nicht sein, dass der Wiederaufbau einer verfallenen Mühle in Mecklenburg-Vorpommern moderne Pädagogik, in
Polen aber Urlaub unter Palmen ist.
Für die Bewertung der Sinnhaftigkeit einer Auslandsmaßnahme muss geprüft werden:
Bietet die Umgebung das Maß an Reizarmut, das für Pädagogik förderlich ist?
Bietet das Setting wenig Anreiz für Ausweichverhalten?
Kann die eingesetzte Methode sinnvoll in die Umgebung integriert werden?
Können Sprachbarrieren und Kulturerfahrungen hilfreich in die Projektkonzeption eingebunden werden und die
daraus resultierenden Wissens- und Machtvorsprünge der Mitarbeitenden genutzt werden?
Können die Erfahrungen aus dem Projekt in Anschlussmaßnahmen transferiert werden?
4. Auslandsmaßnahmen sind nicht teurer.
Für nahezu alle Jugendhilfemaßnahmen wird eine eigene Projektkalkulation erstellt und dem öffentlichen
Träger der Jugendhilfe zur Prüfung vorgelegt. (Wir arbeiten sogar mit einem gemeinsamen Leistungsentgelt für
alle Intensiv-Pädagogischen Einzelmaßnahmen, so dass eine Maßnahme in Oberbayern exakt das Gleiche kostet
wie eine in Schweden oder Frankreich.) Etwa 85 Prozent der Projektkosten sind Personalkosten, für die
Mitarbeitenden vor Ort und die sie begleitenden Fachdienste. Diese Kosten fallen in immer gleicher Höhe an,
unabhängig vom Zielland der Maßnahme. Die Sachkosten werden bei Auslandsmaßnahmen durch Reisekosten
belastet, die vielfach durch geringere Lebenshaltungskosten im Ausland mehr als wettgemacht werden. Ein
Projekt auf einer österreichischen Alm ist exakt gleich teuer wie auf einer oberbayerischen. Das Werftprojekt in
Spanien kostet gleich viel wie ein mögliches Werftprojekt an der Ostseeküste mit dem Unterschied, dass wir
über das in Spanien verfügen, an der Ostsee aber keinen geeigneten Ort und keinen Mitarbeiter kennen, der es
dort realisieren könnte. Andere Träger sind sicher an der Ostsee präsent und werden dort mit der gleichen
Kostenstruktur arbeiten.
5. Auslandsmaßnahmen sind integriert.
Auslandsmaßnahmen sind nicht isolierte Projekte, die aus dem Nichts entstehen und die nach ihrem Ende die
jungen Menschen sich selbst überlassen. Sie sind vielmehr in einen längerfristig angelegten Hilfeprozess
integriert: Nach dem Scheitern mehrerer Jugendhilfemaßnahmen im Vorfeld oder nach Inhaftierung kann ein
Projekt die Grundlage dafür schaffen, dass der junge Mensch in eine Flexible Hilfe, in ein Betreutes Wohnen
oder in eine heilpädagogische Wohngruppe integriert werden kann und wieder Schul- und Berufsausbildung
aufnimmt. Die Beobachtungen und Erfahrungen aus der Auslandsmaßnahme fließen in die Hilfeplanung der
Anschlussmaßnahme ein, die übernehmenden Pädagoginnen und Pädagogen bauen auf diesen Erfahrungen auf.
Ausbildungsreife oder die Fähigkeit, acht Schulstunden am Stück ohne Ausweichen zu überstehen, sind oftmals
erst während der Intensiv-Pädagogischen Einzelmaßnahmen grundgelegt worden.
6. Auslandsmaßnahmen sind zeitgemäß.
In der Debatte um den richtigen Umgang mit den Schwierigsten und um die geschlossene Unterbringung wird
auch deutlich: Es geht um eine Auseinandersetzung um zeitgemäße Pädagogik. Dabei vertrete ich die Ansicht:
Pädagogik muss auch normverdeutlichend wirken, aber in einer Umgebung, die möglichst wenig in die
Freiheits- und Persönlichkeitsrechte junger Menschen eingreift. Wenn es möglich ist, Ausweichverhalten und
Entweichen in einer Intensiv-Pädagogischen Einzelmaßnahme in den Griff zu bekommen, ist die geschlossene
Unterbringung nicht erforderlich.
Der Begriff des zeitgemäß berührt noch eine andere Dimension: in einer Zeit, in der es selbstverständlich ist,
dass Industrieproduktion im Ausland abläuft, mutet es seltsam anachronistisch an, dass ausgerechnet für
Pädagogik die Staatsgrenze auch die Grenze bildet, an der sich Sinnhaftigkeit einer Jugendhilfemaßnahme
entscheidet.
7. Auslandsmaßnahmen sind oft ohne Alternative.
Auslandsmaßnahmen werden vom öffentlichen Träger nicht deshalb in Anspruch genommen, weil der
Sachbearbeiter auch mal eine Reise zur Projektaufsicht machen will sondern weil zum jeweiligen Zeitpunkt
keine andere gleichermaßen intensive und erfolgversprechende Jugendhilfemaßnahme zur Verfügung stand. Das
zeigt auch ein Dilemma auf: Nicht jede Maßnahme müsste zwingend im Ausland stattfinden, wenn es ein
ausdifferenziertes Netz von Inlandsmaßnahmen gäbe. Manche Maßnahme kann aber eben nicht im Inland
stattfinden: Die Reise mit einem in dreimonatiger Arbeit auf einem Bauernhof restaurierten alten FeuerwehrLKW, der zum Expeditionsmobil umgebaut wurde, kann sinnvollerweise nicht zum Nördlinger Ries oder zum
Steinhuder Meer gehen eine Reise, die drei oder vier Monate umfasst, bedarf eines entfernteren Zieles, zum
Beispiel das Nordkap oder die Sahara.
8. Auslandsmaßnahmen bieten Arbeitsplätze.
In Auslandsmaßnahmen arbeiten viele pädagogische Fachkräfte, die ihren privaten Lebensmittelpunkt im
Ausland begründet haben: Ein Sozialarbeiter betreibt einen Reiterhof in Umbrien, ein Seemann und
Diplompädagoge besitzt das Segelschiff, das auf der Werft restauriert wird, ein KFZ-Mechaniker und Erzieher
bietet die Reise mit dem Feuerwehr-LKW an, eine Heilpädagogin besitzt eine alte Mühle im französischen
Zentralmassiv, ein Psychologe die Olivenplantage in Griechenland. Der Grund, warum diese Fachkräfte
unbedingt arbeitslos gemacht werden müssen, erschließt sich mir nicht. Wenn es nur darum geht, sicherzustellen,
dass ihre Einkünfte aus Steuergeldern auch in Deutschland versteuert werden, könnte man das regeln. Die
Mitarbeitenden verdienen eher den Respekt der Politiker, dafür dass sie bereit sind, ihren privaten
Lebensmittelpunkt für junge Menschen zu öffnen, die mit der Entwicklung in Deutschland nicht Schritt halten
konnten. Sie verdienen Respekt dafür, dass sie nicht mehr Arbeit und Freizeit trennen und sich stattdessen ganz
und ganzheitlich auf schwierige junge Menschen einstellen. Respekt und Unterstützung statt die
Lebensgrundlagen und perspektiven abzugraben!
Wilfried Knorr
Fachbereichsleiter
Herzogsägmühle
Von-Kahl-Str.4
86971 Peiting
[email protected]