Die Kirche im Dorf

Vorschau - Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung
HEINRICH
BOLL
Die Kirche im Dorf
i
Schon im Herbst neunundvierzig, wenige Monate nach meinem Eintritt
ins Amt, bekam ich den ersten Außendienst zugewiesen; das war erstaunlich, noch erstaunlicher, daß niemand mir diesen Auftrag zu neiden schien;
zweimal, zuerst, als zwei Kollegen auf dem Flur an mir vorübergingen,
dann, als sich in der Kantine drei Kollegen neben mich setzten, hörte ich
das übliche » J a , ja, Akademiker müßte man sein«; mein Ohr war schon
geübt genug, aus dem Tonfall statt des üblichen Neids Schadenfreude
herauszuhören.
In der Stimme von Fräulein Herk . . . »Herr Doktor, der Herr Direktor
bittet Sie zu sich« — klang Mitleid durch, und ich war darauf gefaßt,
nach Brecksen geschickt zu werden, um dort in den Soldatenkaschemmen
Steuerprüfungen vorzunehmen. Steuertheoretisch hätte mich die Frage des
staatlichen Anteils an Einkommen aus Prostitution schon interessiert, aber
für Fälle wie Brecksen hatte unser Amt einen Spezialisten, Stolzen, einen
ehemaligen Zuhälter, späteren Polizisten, jetzt Steuerprüfer auf der Basis
freier Mitarbeiterschaft; es hieß, Stolzen habe für sich und fürs Amt sagenhafte Summen herausgeholt, und kein Gerücht, sondern Tatsache war,
daß man, wenn Stolzen zur Berichterstattung beim Chef war, durch die Tür
hindurch das Geräusch des Sich-auf-die-Schenkel-Klopfens, auf den
Tisch gehämmerter Fäuste und heftiges Lachen hörte; es sollte schon vorgekommen sein, daß Fräulein Herk errötend das Vorzimmer räumte und
sich, bis Stolzen gegangen war, unter fadenscheinigen Vorwänden im Archiv zu schaffen machte. Jetzt hieß es, Stolzen habe sich »nachgewiesenermaßen verstrickt«. Ich fühlte mich nicht gewachsen, seine Nachfolge anzutreten; er galt als Spezialist in Taschenpfändungen; wenn man weiß, wo
Dirnen gewöhnlich ihr Geld aufbewahren, weiß man auch, welche Handgriffe in solchen Fällen bei »Taschenpfändungen« notwendig sind.
II
Unser Chef, Amtsvorsteher Groebel, empfing mich mit der Freundlichkeit, die ich an ihm gewohnt war. Wenn ich seine überraschend kurzen
Hände sah, mußte ich immer an Falschspielen oder Wechselfälschen denken; er ließ seine Hände rattenhaft rasch in Hosen-Westen-Rock- und
Gesäßtaschen hinein- und wieder herausgleiten, als suche er etwas oder