L-Mag (01.11.2015): Ich bin wir

KUNST
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Heather Cassils'Arbeit ist die Performance
mit dem e¡genen Körper und der ldentität.
Das geht an Grenzen, st¡ftet Verwirrung und
kritisiert radikal Politik und Gesellschaft
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Wer in Berlin lebt, hat das Bild in den
letzten Wochen überall im öffentlichen
Straßenraum gesehen: Weiß wie Schnee
der Hintergrund, rot wie Blut die Lippen,
hart wie Ebenholz der durchtrainierte
Körper. Das Motiv ist ein Teil aus dem
Werk ,,Cuts: A Traditional Sculpture" von
Heather Cassils. Das Plakat wirbt für die
Ausstellung,,Homosexualität-en", die
noch bis zum 1. Dezember 2015 im
Schwulen Museum*- und dem Deutschen
Historischen Museum zu sehen ist. Das
Bild von und mit Heather Cassils hat eine
Sogwirkung, der man sich nicht entziehen
kann. Doch wer ist die Person mit den
hellen, fast durchsichtigen Augen und
dem weichen, fransigen Haar wirklich?
Gibt es da jemanden, der oder die sich
hinter dem Bild versteckt? Oder ist Cassils
die Person, die wir sehen?
L-MAG traf Heather Cassils in Berlin vor
einem Aufrritt im Schvwrlen Museumo.
Heather Cassils bezeichnet sich selbst als ein
Wesen mit fließenden Geschlechtergrenzen,
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nicht Mann oder Frau, sondern
beides
zugleich, und bittet daher, von sich als einem
Duo zu sprechen, einem Doppelwesen in
einer Person, einem zweibeinigen Wir.
Die kanadischen Künstlerlnnenl leben in Los
Angeles und haben noch mit einem Jet-Lag
zu kämpfen, trotzdem blinzeln sie hocherfreut in die noch immer wärmende Oktobersonne, die fast senkrecht auf die Fassade des
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Informationsmaterial ausgesetzt ist, und zeitgleich stießen sie in diesem und später auch
in anderen fuchiven ständig an die ,,Gläserne
Decke" (die scheinbar unüberwindbare,
unsichtbare Grenze auf der Karriereleiter).
Das vermaledeite Auswahlverfahren, das
auch im LGBT-Kontext exislierte: Überall
wurden vorzugsweise Informationen über
Männer gesammelt, Frauen und Trans-
Gegen die UnterrePräsentation
identische aber kamen zu kurz oder gar nicht
erst vor. Heather: ,,Da hat sich eigentlich
nicht viel geändert, das war in den 1970ern
so, und auch heute noch werden total viele
Menschen, Dinge und Fakten einfach unterrepräsentiert."
Dann bekamen Heather den Auftrag, sich aus
Archivmaterial Personen auszuwählen, um
die Gegenwart mit Gedankengut aus fernen
Tagen zu befruchten. Cassils wählten eine
Arbeit von Lynda Benglis aus dem Jahr 1974
Mit Anfang zwanzig jobten
Cassils als
und eine weitere von Eleanor Antin von
Praktikantlnnen für Martha Williams in New
1972, und aus der Beschäftigung mit diesem
Material entstand schließlich eine Hommage.
Hebbel-Theaters fällt. ,,lch kann jetzt
wirklich
einen Kaffee gebrauchen", sagen Heather,
nippen an der dickwandigen Tasse und
schauen dann mit einem umwerfenden
Grinsen hoch. ,,Wi¡klich gut der Kaffee hier!"
Damit ist das Eis gebrochen. Heather Cassils
sind medienversiert und zuvorkommend,
doch was sie sagen, ist sehr persönlich'
York und digitalisierten Videomaterial, um es
online zu stellen. Diese Tätigkeit machte
ihnen bewusst, welcher Vergänglichkeit
Für Heather ist klar: ,,Das was wir wahrnehmen, wiederfinden, das sind Schlaglichter,
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,,Cuts: A Traditional Sculpture"
Die Arbeit basiert auf einer sechs
Monate dauernden Performance,
in der durch Bodybuilding und
Ernährung ein faszinierender
körperlicher und identitätsstiftender Wandel stattfand. Das
Werk besteht unter anderem aus
dem Magazin,,Lady Face Man
Body" (201 1) und dem Hochglanzplakat,,Homage to Benglis"
aufblitzende Informationen, Momente."
Heather interessieren sich für Dinge, die
nicht ausreichend repräsentiert werden, die
in der Geschichtsschreibung hintenüberfallen, und sie müssen viel trainieren, um ein
Werkwie,,Becoming an Image" zu performen.
Bei dieser Arbeit bearbeiteten sie einen 900
Brisanz aber in keiner Weise eingebüßt
haben. Fragen, die es wert sind, erneut
gestellt zu werden und wieder in den Fokus
zu rücken.
,,Heutzutage ist man nicht mehr oft mit
echten Dingen konfrontiert," beschreiben
Kilo Tonblock mit ganzen Körpereinsatz.
Genau das ist es, was sie letztendlich lieben:
Das
Work-out, die Herausforderung und das
An-die-Grenzen- gehen.
,,Ich möchte einen Dialog
provozieren und
verstanden werden"
Wo sind die echten Dinge heutzutage?
Cassils Arbeiten stoßen an, sie provozieren,
setzen Denkprozesse in Gang. ,,Um gute
Arbeit abzuliefern muss man hart arbeiten,
nicht bequem sein, sondern kritisch", wissen
Heather, ,,Ich möchte einen Dialog provozieren
und verstanden werden." Heather Cassils
versuchen Bilder zu produzieren, zu denen
Menschen auf ganz unterschiedliche Weise
Z,tgang finden: Intellektuell, geisrig oder
emotional und ganz sponran. Sie greifen
Fragen auf, die bereits gestellt wurden, ihre
L.MAG
Heather ihre Wahrnehmung, ,,Alles ist
Simulation, Film, Animation. Man verliert
komplett den Bezug zum Echten, aber
Konflikte wie derVietnarn-IGieg sind voll von
tatsächlichen Grausamkeiten. "
Heather beziehen sich mit ihrer neusten fubeit
auf ein Werk des bekannten Dokumentarfilmers Harun Farocki. Farocki drückt in seiner
Videoarbeit langsam eine Zigarette auf seiner
Haut aus, um seinem Publikum damit nahe
zu bringen, was eine Verbrennung bedeutet.
Er begeht eine Grausamkeit, um eine noch
schlimmere anzuprangern, um darauf hinzuweisen, wie grauenhaft es sein muss, von
Napalmflammen gefressen zu werden. Im
November stehen Cassils in London auf der
Bühne und simulieren das Brennen einer
Person. Sie schreiben Farockis Werk in einem
anderen Medium weiter. Zum Greifen nah
und dazu in Slow Motion wird das Publikum
mit dem Grauen konfrontiert. Und während
das Publikum Schritt für Schritt eintaucht,
vergisst es, dass es eine Simulation sieht, es
gerät in den Strudel des tatsächlich Furchtbaren, des Wahnsinns von Krieg und Gewalt.
In Heathers Worten: ,,Man kann das Grauen
eigentlich nicht verstehen. Aber meine Kunst
versucht dazuzl bewegen, diese Gedanken
zuzulassen."
// LenaBraun
www.heathercassils.com
I
Aufgrund der doppelten Geschlechtsidentität von
Heather Cassils werden an dieser Stelle das große I
und der Plural verwendet, um die duale Identität von
weiblich und männlich zu verdeutlichen.
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