Konzentriert: Kommissarin Yvonne Judith checkt im Colombipark

Konzentriert: Kommissarin Yvonne Judith
checkt im Colombipark das Strafregister eines
Betrunkenen.
Titel Polizei
Der kontrollierte
Wahnsinn
Streife, Zelle, Drogenopfer – ein Tag im Revier Nord
D
as Polizeirevier Nord ist das größte in Freiburg, zuständig für die Innenstadt und das gesamte nördliche
Stadtgebiet. chilli-Redakteur Till Neumann hat die Beamten einen Tag lang begleitet. Was für die Einsatzgruppe ein
„sehr ruhiger Tag“ ist, erlebt er als rasante Verbrecherjagd mit
Pöblern, Vermissten und Zugedröhnten.
Mit ruhiger Hand lenkt Yvonne Judith den Streifenwagen
durch die Kaiser-Joseph-Straße. Die 27-jährige Kommissarin
vom Polizeirevier Nord lässt ihren Blick über die Passanten
gleiten. „Alles relativ ruhig“, sagt sie. Im Radio läuft Big FM.
Peter Wagner, 49, sitzt auf dem Beifahrersitz, nickt zustimmend. Der breitschultrige Hauptkommissar ist Chef der
Fotos: © Till Neumann
»I don't care,
i will
kill this man«
Dienstgruppe D, die an diesem sonnigen Dienstag im Einsatz ist. „Wir sind immer die Ersten vor Ort“, sagt Wagner. Egal
ob Ruhestörung, Großbrand, Mord oder Massenschlägerei. „In
Freiburg ist viel los. Man weiß nie, was in der nächsten Minute
passiert.“ Die Zahlen geben ihm recht: Freiburg ist statistisch
gesehen die kriminellste Stadt Baden-Württembergs.
Schon knattert das kleine Funkgerät an Wagners linker Schulter. „230 bitte kommen“, „230 hört“, antwortet Wagner. „Ein
Schwarzafrikaner macht im Stühlinger Radau“, gibt die Einsatzzentrale durch. Drei Minuten später sind Judith und Wagner am
Ort des Geschehens. „I don’t care about nothing, I will kill this
man“, brüllt ein kräftiger Mann in dem Supermarkt. Seine Augen sind rot angelaufen, Schweißperlen kullern über die dunkle
Stirn. Ein Streifenpolizist redet beschwichtigend auf ihn ein.
Seine Kollegin steht schräg neben dem Unruhestifter.
„Sie hat sich im breitbeinigen V-Schritt positioniert“, erklärt Judith. „Wenn es hart auf hart kommt, kann die Kollegin sofort eingreifen.“ Judith sichert in einigen Metern
Entfernung mit Wagner die Lage. Ihre Augen weichen nicht
von dem aufgebrachten Mann. Eine Menschentraube bildet sich. Der Supermarktchef steht beängstigt daneben. Er
glaubt, der Afrikaner wollte eine grüne Tasche stehlen. Das
Preisschild klebt noch drauf. Der Beschuldigte beruhigt sich
aber kurz darauf – und kann nachweisen, dass er die Tasche
woanders gekauft hat. Er zieht von dannen.
Nach einer weiteren Runde durch den Stühlinger fahren Judith und Wagner zurück ins Revier in der Bertoldstraße. Zum
Mittagessen gibt’s Yufka und Pizza vom Dönermann. Junge
Kollegen diskutieren ausgelassen. „Ich könnt’s nicht ertragen,
jemanden zu sehen, der sich aufhängt“, sagt eine.
Nebenan ist der Knastflur des Reviers. Kalter Kachelboden,
vier kleine Zellen mit Stahltür, eine große mit Stahlgitter.
In der sitzt ein bärtiger Araber mittleren Alters. Arme und
Beine verschränkt, mucksmäuschenstill, der Blick geht ins
Leere. Warum er hier ist, verraten die Beamten aus ermittlungstaktischen Gründen nicht. Viele andere Fälle sind weniger brisant: „Oft nüchtern Betrunkene in den Zellen aus“,
berichtet Wagner. „Am Wochenende ist das der kontrollierte
Wahnsinn. Die Leute poltern, schreien, toben.“ Manche
hämmern stundenlang gegen die Wand. Im Nebenraum ist
die Wand seit Kurzem sogar gepolstert. Manche Delinquenten schlagen sonst mit dem Schädel eine Delle rein. Wer in
die Zelle muss, bereut es meist. „Die Nacht kostet 120 Euro,
ohne Frühstück und Klimaanlage“, sagt Wagner. Stündlich
wird geschaut, wie es den Inhaftierten geht.
Judith ist inzwischen nebenan. An einem Rechner schaut
sie sich die Aufnahmen einer Überwachungskamera an.
Zwei junge Männer sollen ein T-Shirt aus einem Kaufhaus
mitgehen lassen haben. Einer hat gestanden, der andere
nicht. „Auf dem Video ist fast nichts zu sehen“, sagt Judith.
Dann geht sie in den Nachbarraum und schreibt Polizeiberichte. Eine Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt. Jeder
noch so kleine Fall wird fein säuberlich dokumentiert.
Krimi-hochburg
Freiburg ist Spitzenreiter im Land
Freiburg ist statistisch gesehen seit Jahren die kriminellste Stadt Baden-Württembergs. Im Schnitt wird
alle 20 Minuten eine Straftat verübt. 2014 hat das Polizeipräsidium in Freiburg pro 100.000 Einwohner 12.392
Delikte registriert. 16 Prozent mehr als in Mannheim,
das an zweiter Stelle liegt. Etwas mehr als die Hälfte der
Freiburger Delikte (54,5 Prozent) wurden aufgeklärt. 43
Prozent der Straftaten sind Diebstahl, Gewaltkriminalität macht 3,3 Prozent der Fälle aus. Das Rathaus fordert
mehr Personal für die Freiburger Polizei.
tln
MAi 2015 CHILLI 9
Titiel Polizei
Aufgelesen: Drei Polizisten helfen einem
betrunkenen Obdachlosen am Hauptbahnhof.
Abgeführt: Ein Beamter bringt den zuge-
Fotos: © Till Neumann
dröhnten Mann in die Ausnüchterungszelle.
Passioniert: Hauptkommissar Peter Wagner
leitet eine Einsatzgruppe im Revier Nord.
„Fünf Taschendiebe, flüchtig am Schwabentorring“, schallt es plötzlich durch die
Lautsprecher des Reviers. Hektik bricht aus.
Mehrere Polizisten eilen in die Tiefgarage
– auch Judith undWagner. Mit quietschenden Reifen schießt der Streifenwagen
Richtung Bertoldsbrunnen. „Wir nehmen
die Kajo“, funkt Wagner den Kollegen zu.
Dann wird die Täterbeschreibung durchgegeben: „Einer im schwarzen Kapuzenpulli, einer im karierten Hemd. Mehr haben wir nicht.“ Judith und Wagner lassen
ihre Blicke rasch über jede Ecke gleiten. Inzwischen ist es dunkel. An jeder Kreuzung
wird gebremst, in die Gassen geschaut.
Von den fünf Flüchtenden keine Spur.
Judith erinnert sich an eine Gruppe
stadtbekannter Jugendlicher, die sie am
Mittag gesehen hatte. „Hatte nicht einer einen schwarzen Pulli an?“, fragt sie.
„Gut möglich“, antwortet Wagner. Nur
Sekunden später entdecken sie drei der
Jungs hinter dem Schwabentor. Aber in
T-Shirt und gelbem Fußballtrikot statt
Pulli und Hemd. Dennoch: Personenkontrolle. Die drei sagen, von nichts zu wissen,
wirken entspannt. Judith gibt über Funk
die Personalien durch. „16 Sexualdelikte“,
antwortet die Zentrale.Wagner bittet um
eine nähere Täterbeschreibung. Ohne Erfolg. Die drei dürfen weiterziehen.
Kaum 50 Meter weiter klopft eine junge
Frau an die Scheibe. „Beim Schlappen hat
mich einer angegrabscht.“ Judith weiß
sofort, um wen es sich handeln könnte.
„Wir kümmern uns drum“, antwortet sie.
Als sie ihn finden, redet sie dem Mann
beschwichtigend zu – als er ihr durchs
offene Fenster an die Schulter langt, wird
sie deutlich: „Nicht anfassen.“ Der mutmaßliche Grabscher ist der Streife gut
bekannt. Mehr passiert ihm nicht.
Dann geht’s zum Bahnhof. Völlig benebelt liegt ein Obdachloser vor einem
Schaufenster in der Eisenbahnstraße.
Eine Streife und ein Rettungswagen sind
schon da. Der Mann hat 2,1 Promille und
ist vollgepumpt mit Medikamenten. Die
Polizistin tastet den Heroinsüchtigen mit
lilanen Schutzhandschuhen nach spitzen
Gegenständen ab. Ob ihn Freunde abholen können? Keine Antwort. Mit einem
Zellenbus wird der Mann zunächst in die
Klinik gebracht. Dort stellt ein Arzt seine
Haftfähigkeit fest. Dann geht’s aufs Revier. Dort werden Personalien aufgenommen, seine Wertgegenstände notiert, es
geht in die Zelle – ausnüchtern.
Es ist gegen Mitternacht. Viele Freiburger
schlummern schon. Inzwischen waren
Wagner und Judith unter anderem in
Betzenhausen. Ein Achtjähriger war als
vermisst gemeldet worden – tauchte aber
kurz darauf bei seiner Uroma auf. „Eine
sehr ruhige Nacht“, sagt Wagner. Zu Ende
ist sie noch lange nicht. Die Schicht geht
bis 6 Uhr morgens. Ein Nickerchen ist nicht
drin – jede Sekunde kann der nächste Einsatz anstehen. Der kontrollierte Wahnsinn
– Alltag in Freiburg.
Till Neumann
Die 110-zentrale
Mehr als 450 Notrufe landen täglich im Freiburger Lagezentrum
Im Führungs- und Lagezentrum
des Freiburger Polizeipräsidiums (FLZ)
glühen die Drähte:„Hier gehen täglich
450 bis 650 Notrufe ein“, berichtet der
stellvertretende Leiter, Polizeihauptkommissar Peter Häring. Das FLZ bearbeitet alle Notrufe für die Stadt Freiburg und die Kreise Lörrach, Waldshut,
Emmendingen und Breisgau-Hochschwarzwald. Vor der Polizeireform gab
es kleinere Führungs- und Lagezentren
in Freiburg und Lörrach. Die Notrufe für
die Landkreise Emmendingen und Waldshut gingen bei den Polizeirevieren ein.
10 CHILLI Mai 2015
Sieben bis zehn Mitarbeiter sind
rund um die Uhr im Einsatz, um die
Notrufe zu bewältigen. Einer davon
ist Gerald Göppert. Auf dem Kopf
ein Headset, vor sich vier Monitore.
„Dauernd bimmelt es, die psychische
Belastung ist hoch“, sagt der 51-Jährige. Schon klingelt’s. Auf dem Monitor blinkt eine der 20 Leitungen. Auf
einem weiteren sieht Göppert eine
Karte mit allen Streifenwagen, die im
Einsatz sind. Nimmt er einen Notruf
entgegen und gibt den Standort ein,
bekommt er einen Kartenausschnitt
des Gebiets gezeigt. Die dortigen
Streifenwagen werden per SMS benachrichtigt.
Das Schwierigste ist, schnell herauszufinden, was der Anrufer möchte. „Die
Leute sind teils in Not oder auch mal
alkoholisiert. Wir müssen da sehr strukturiert vorgehen“, sagt Häring. In brenzligen Fällen hört der Kollege am Nachbartisch mit oder klinkt sich in die Leitung
ein. Plötzlich pfeift es im Raum. „Keine
Sorge, das ist nur der Test einer Bank“,
beschwichtigt Göppert. Dann blinkt wieder eine Leitung, der nächste Notruf. tln