Gespräch mit Michael Gilead-Gildmann lesen

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Wo waren die Menschen?
Gespräch am 21. Mai in der Glocke - Kleiner Saal
Mitwirkender:
Michael Gilead-Goldmann, Offizier a.D., Vernehmer im Adolf-Eichmann-Prozess
Moderation:
Tita von Hardenberg, Berlin
Rudi-Karl Pahnke, Berlin
Rudi-Karl Pahnke:
Wo waren da die Menschen und wo sind sie jetzt? – Viele Menschen haben in jenen Situationen damals
jeden Glauben an Gott hinter sich gelassen, an den sie bis dahin glaubten. Denn wo war Gott, als die SS
-Leute alte Menschen, kleine Kinder ins Gas schickten, als Menschen geschlagen, ihrer
Menschenwürde restlos beraubt wurden, als sie mit Maschinengewehren abgemäht wurden, als sie
gezwungen wurden, sich zu entkleiden, in die vorbereitete Grube zu steigen, geschlagen und erschossen
wurden?
Als Doktor Mengele mit der Hand nach rechts wies oder nach links, bedeutete das den Tod. Als Adolf
Eichmann entschied, dass man gerade auch die kleinen Kinder nicht schonen dürfe, weil aus ihnen
erwachsene Juden werden, wo war da Gott?
Die Frage ist mehr als berechtigt und niemand mache sich die Antwort darauf leicht. Dogmatische
Formeln, fromme oder enthusiastische Predigten werden den Fragen und den Fragenden überhaupt
nicht gerecht. Sie gehen an den mit Ernst fragenden Menschen vorbei. Hier sind wir immer noch und
immer wieder in einer tiefen religiösen Krise. Aber wir sind seither und immer wieder auch in einer
Krise der Humanität.
Wo waren da die Menschen? Waren die SS-Schergen Menschen? Wo waren die Menschen, als die
Juden, Sinti und Roma abgeholt, misshandelt und in die Wagen gepfercht wurden, die in die
Vernichtungslager fuhren: Treblinka, Majdanek, Auschwitz, Belzec, Sobibor.
Gewiss nicht alle Deutschen alle waren Mörder, und die christlichen, nichtjüdischen Frauen in der
Rosenstraße in Berlin haben Krach geschlagen als man ihnen ihre Männer nicht wieder herausgab oder
bis man sie ihnen wieder herausgab. Sie waren wirklich Heldinnen und haben den Nazis das Fürchten
vor dem Frauenwiderstand beigebracht. Es hat sie gegeben, die Menschen, die bereit waren, ihr Leben
zu riskieren, um Menschen zu retten und auch zu verstecken – die Gerechten unter den Völkern.
Tita von Hardenberg:
Ich schätze mich glücklich, dass ich die große Ehre habe, persönlich mit Herrn Gilead-Goldmann
sprechen zu dürfen. Es passiert nicht oft im Leben, dass man einen Zeitzeugen von solcher Bedeutung
treffen darf. Und ich glaube, wir sind alle sehr gespannt, den direkten Bericht aus dieser schrecklichen
Zeit zu bekommen. Das besondere an Ihrer Perspektive ist ja, dass Sie eine Art Doppelperspektive auf
Eichmann und Eichmanns Vernichtungswerk haben. Sie waren zunächst sein Opfer, haben die
schrecklichsten Qualen durchgemacht, Auschwitz überlebt unter Umständen, die an Wunder grenzen
und wurden dann später zu demjenigen, der Beweise gesammelt hat, der Zeitzeugen gefunden hat und
die Zeitzeugen dazu gebracht hat, auszusagen.
Sie haben ihn bewacht, Sie haben quasi Zelle an Zelle mit ihm gelebt, mussten dafür Sorge tragen, dass
er sich nicht umbringt und durch Selbstmord seinem Prozess entzieht. Und Sie haben ihn befragt,
immer wieder verhört. Das ist ein Leben – das reicht eigentlich für drei, soviel zu erleben. Und es ist
ein Leben, das unglaublich viele Fragen auswirft, zum Beispiel: Wo waren da die Menschen? Aber ich
würde gerne mit dem Konkreten anfangen. Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie Adolf
Eichmann das erste Mal leibhaftig gegenüberstanden?
Michael Gilead-Goldmann:
Eichmann wurde im Mai 1960 nach Israel gebracht, und einige Tage nachher haben wir – das war eine
spezielle Einheit der israelischen Polizei, wir waren 14 Polizeioffiziere – diese Ausforschung
angefangen, vier oder fünf Tage später. Und als ich ihn das erste Mal sah – er saß mir gegenüber und
hat den Mund geöffnet – da habe ich instinktiv in diesem Moment vor mir nicht den offenen Mund von
Eichmann gesehen, sondern die Tore des Krematoriums. Das war meine erste instinktive
Wahrnehmung, als Ex-Häftling in Auschwitz.
Tita von Hardenberg:
Was fühlt man in so einem Moment – Rachegelüste, Angst, Wut, Hass?
Michael Gilead-Goldmann:
Ich habe vor mir eine miserable Figur gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, der war der
Obersturmanführer, SS-Obersturmanführer der jüdischen Abteilung in der Gestapo in Berlin, der Fünfte
für uns Juden, der Fünfte nach Hitler. – An der Spitze war Hitler, danach kam der Himmler, nach ihm
der Heidrich, der Kaltenbrunner, und dann war Heinrich Müller, der Chef der Gestapo und Adolf
Eichmann der Hauptleiter der jüdischen Abteilung, der Abteilung für Judenmord im Hauptquartier im
Sicherheitshauptamt in Berlin. – Und ich sah vor mir eine Figur; ich konnte mir überhaupt nicht
vorstellen, dass das der große Eichmann war, der Millionen Opfer in Vernichtungslager transportiert
hat.
Tita von Hardenberg:
Wie trat Ihnen denn der selbst ernannte Herrenmensch gegenüber? Wie benahm er sich Ihnen
gegenüber, demütig oder herablassend? Hatte er noch diesen Nimbus?
Michael Gilead-Goldmann:
Wir haben einen strikten Befehl gehabt, mit ihm korrekt zu sprechen, ihm Fragen zu stellen, seine
Antworten zu hören. Das wurde auf einen Tape-Rekorder aufgenommen und dann schriftlich
vorgezeigt. Er konnte seine Erklärungen verbessern, er konnte Wörter tauschen; alles, was er wollte,
mit diesem Protokoll machen und dann unterschreiben, dass es sein Protokoll war.
Und so haben wir ihn verhört acht Monate, korrekt, keine persönliche Beziehung. Wir haben in ihm ein
Objekt gesehen, um die Wahrheit zu erforschen, um die Wahrheit im Prozess an die Öffentlichkeit zu
bringen.
Tita von Hardenberg:
Haben Sie gezögert, diese Aufgabe zu übernehmen? Mussten Sie erst mal darüber nachdenken?
Michael Gilead-Goldmann:
Nein, ich habe nicht gezögert. Im Moment, als diese Einheit entstand, habe ich mich freiwillig
gemeldet. Ich wollte mithelfen, die Wahrheit herauszubringen, auch über Auschwitz, auch über den
Tod meiner Eltern, die von ihm und seinen Leuten ins Vernichtungslager Belzec transportiert worden
waren – meine Eltern, meine zehnjährige Schwester, Cousinen, Onkel, Tanten; das waren zusammen
rund 40 Familienmitglieder. Alle sind umgekommen. Wie ich am Leben geblieben bin – ich weiß es
wirklich nicht. Ich kann nicht sagen, ob das Schicksal oder Zufall war. Ich war fast vier Jahre
befreundet mit dem Tod. Und ich kam raus – ich weiß nicht wieso.
Beim Todesmarsch, es war am dritten Tag, hätte ich erfrieren können. Und das hätte mich meiner
Meinung nach gerettet.
Tita von Hardenberg:
Es haben 16 Menschen von 4000 überlebt, einer davon waren Sie.
Michael Gilead-Goldmann:
Wir kamen nach Auschwitz am 5. November 1943. Wir waren 4000 Häftlinge aus einem anderen
Konzentrationslager, und bei der Selektion – ich weiß nicht, ob das der Mengele war oder ein anderer
SS-Arzt – standen wir in der Reihe, und dieser SS-Arzt fragte jeden, wie alt er ist, und dann hat er mit
dem Finger nach rechts gezeigt oder nach links. Die nach rechts gingen kamen ins Lager rein, Birkenau
– Quarantänelager, die nach links gingen, kamen sofort auf Lastwagen und zum Krematorium, zur
Gaskammer. Von diesen 4000 – das wurde offiziell im Auschwitz-Museum festgestellt, sind 900 ins
Lager reingekommen. Von diesen 900 wissen wir, sind 16 am Leben geblieben. Wie viele von diesen
16 noch heute am Leben sind, weiß ich nicht.
Tita von Hardenberg:
Sie selber glauben heute, dass Sie vielleicht auch durch einen Trick die ganze Sache überlebt haben.
Den Sie bei der Selektion anwandten, als Sie einen falschen Beruf angaben. Können Sie uns vielleicht
die Geschichte mit dem Trick erzählen, der Ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet hat?
Michael Gilead-Goldmann:
Das war kein Trick. Das war der dritte Tag des Todesmarsches. Wir sind zu Fuß gegangen, und ich
konnte nicht mehr gehen. Und ich habe im Moment festgestellt: Ich versuche zu erfrieren oder ich setze
mich hin auf den Schnee, und dann wird ein SS-Mann kommen und wird mir einen Genickschuss
geben, genau wie die es mit den anderen gemacht haben – es war kein Trick.
Tita von Hardenberg:
Ich spielte jetzt auf eine andere Sache an, nämlich als Sie nach Auschwitz kamen und nach Ihrem Beruf
gefragt wurden.
Michael Gilead-Goldmann:
Ach so, ja. Ich war damals 18 Jahre alt, und es ging einer der Häftlinge vorbei, die dort auf der Rampe
waren und sagte uns leise: „Sagt, dass ihr wenigstens ein Jahr älter seid, und dass ihr einen Beruf habt.“
Und ich habe beschlossen mit meinen 18 Jahren, ich wollte nicht älter sein. Und ich habe gesagt, ich
bin Schlosser. Ich hatte keine Ahnung von der Schlosserei. Vielleicht war das die Ursache, dass dieser
SS-Offizier, dieser Arzt mit dem Finger so gemacht hat: Dann kam ich ins Lager.
Tita von Hardenberg:
Wenn man das jetzt hört, was Sie da erlebt haben und sich dann vorstellt, Sie sehen den Mann, der das
alles organisiert hat, sich ausgedacht hat. Sie stehen ihm gegenüber.
Ich habe gelesen, dass man im Zusammenhang mit dem Prozess, in jener Zeit, eigentlich keine
europäischen Juden als Wachkräfte zugelassen hat, weil man Angst hatte, jemand könnte Rache üben –
verständlicherweise. Hatten Sie je diesen Impuls, in dem Moment?
Michael Gilead-Goldmann:
Nein, es war viel zu banal, das Gefühl zu haben, man kann an ihm Rache nehmen. Da gibt es keine
Rache. Es gibt keine Menschenrache für das, was mit uns passiert war. Und wir wollten nur von ihm
die Wahrheit wissen, was sein Anteil an dieser Vernichtungsaktion war und auch, welchen Anteil die
hatten, die mit ihm zusammengearbeitet haben – Endziel der Judenfrage, so hieß das. Ich hatte kein
Rachegefühl. Das war viel zu banal für uns. Wir wussten, dass er am Ende, wenn wir im Prozess
feststellen können, dass er schuldig ist, dass er das Todesurteil bekommt. Das war unsere Aufgabe.
Tita von Hardenberg:
Es verblüfft bis heute die Überzeugung, mit der Adolf Eichmann immer weiter gesagt hat, er sei
unschuldig, er sei nur ein Befehlsempfänger gewesen. Hatten Sie in dem Gespräch, den Eindruck, dass
er wirklich so empfand?
Michael Gilead-Goldmann:
Er war sehr schlau und seine Verteidigungslinie war, dass er nur Befehle ausgeführt hat. Er hat dem
Führer Treue geschworen, „Eid ist Eid“, wie er gesagt hat „und wer den Eid bricht, ist ein Lump.“ Das
war sein Ausdruck bei uns. Und er wollte kein Lump sein. Es ist viel leichter, ein Mörder zu sein als ein
Lump.
Tita von Hardenberg:
Haben Sie je sowas wie Reue bei ihm durchgespürt, ein Schuldgefühl?
Michael Gilead-Goldmann:
Er war ein treuer Nationalsozialist. Er war ein überzeugter Judenhasser, auch wenn er es nicht
zugegeben hat. Er alleine sagte: „Er war nie Antisemit.“ Das hat er gesagt. Aber drei Jahre bevor er
nach Israel gebracht worden ist, hat er ein Interview mit einem holländischen Journalisten, einem ExNazi, Wilhelm Sassen, in Argentinien gehabt. Und ihm hat er erklärt, dass es sein Ziel war, die Feinde
Deutschlands zu vernichten – und wir waren Feinde Deutschlands. Er hat an das, was er getan hat,
geglaubt. Das war sein Motto.
Bei uns war er ganz anders. Bei uns hat er immer nur davon gesprochen, dass er nur Befehle ausgeführt
hat. Aber er war nicht der einzige, auch andere SS-Mörder, im Nürnberger Prozess oder anderen
Prozessen haben genau dasselbe gesagt. Wir haben Befehle ausgeführt, und Befehl ist Befehl.
Tita von Hardenberg:
Also, er hat schon auch geschauspielert?
Michael Gilead-Goldmann:
Nach unserer Meinung war er ein Schauspieler. Und er glaubte, das wird vielleicht die einzige
Möglichkeit sein, nicht gehängt zu werden. Aber die Dokumente, die wir gehabt haben, die Briefe, die
er selbst unterschrieben hat – die Beweise waren so stark, dass er ruhig sagen konnte, was er wollte. Es
konnte ihm nicht nutzen. Es waren viel zu viele Beweise, schwarz auf weiß: Er hat das aus
Überzeugung gemacht.
Er suchte überall, wo er nur war. Ein Beispiel: Es gab eine italienische, eine nichtjüdische Frau, die mit
einem italienischen Juden verheiratet war. Die Frau hieß Kozy, sie wurde nach Riga deportiert. Die
Italiener haben dann eine Information bekommen, dass diese Frau Kozy im Ghetto von Riga ist, und
die italienische Regierung hat sich an das deutsche Außenministerium gewendet mit der Bitte, diese
Frau Kozy zurückzuführen.
Daraufhin hat Eichmann einen Befehl nach Riga gegeben, dass diese Frau sofort umgebracht werden
soll, weil er fürchtete, dass die Frau erzählen könnte, was in Riga geschehen ist. Das war seine
Initiative. Und solche Befehle gab es viele.
Tita von Hardenberg:
Sind Sie in der Beobachtung, im Gespräch mit ihm, der Frage näher gekommen, die glaube ich bis
heute alle umtreibt, wie jemand so werden kann? Ist es Sadismus, ist es Hass oder ist das Böse ganz
banal, wie Hannah Ahrendt sagt?
Michael Gilead-Goldmann:
Das war eine Indoktrinierung. Er war überzeugt, dass wir kein Recht haben zu leben. Das war seine
Überzeugung. Und in dieser Linie hat er alles gemacht, um Erfolg zu haben.
Bei uns hat er versucht, genau das Umgekehrte zu sagen. Und wie jemand so ein Massenmörder
werden kann – ich kann es nicht erklären. Es ist unmenschlich. Ich kann mir das nicht vorstellen. Mit
einem solchen Mörder war ich zusammen, einige Jahre. Wir waren für ihn überhaupt keine Menschen.
In Auschwitz waren wir nur Figuren. Wir hatten keinen Namen, nur die Nummer. Wir waren in deren
Augen Ungeziefer. Ungeziefer muss man vernichten. Dabei hat Goebbels in einer Rede 1923 gesagt –
diese Rede existiert: „Gewiss sind Juden Menschen“. Nachher waren wir aber keine Menschen mehr.
Aber er sagte auch: „Ein Floh ist auch ein Tier, aber ein unangenehmes, kein angenehmes Tier. Und
niemand wird etwas dagegen sagen, wenn wir diese Tiere vernichten. Genauso mit den Juden: Heraus
mit diesem Gesindel.“ Das war Josef Goebbels 1923 bei einer öffentlichen Rede, lange vor 1933. Und
so wurden diese Mörder erzogen. Wir waren keine Menschen mehr.
Tita von Hardenberg:
Was war das für ein Gefühl, sich alles nun monatelang in allen Details wieder anhören zu müssen, sich
den Erinnerungen wieder stellen zu müssen? Gab es Momente in dem Prozess, wo Sie die Fassung
verloren haben, wo es eigentlich nicht mehr auszuhalten war? War das schwer zu ertragen oder wie hat
man das ertragen?