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Als Doktor Mengele mit der Hand nach rechts wies oder nach links, bedeutete das den Tod. Als Adolf Eichmann entschied, dass man gerade auch die kleinen Kinder nicht schonen dürfe, weil aus ihnen erwachsene Juden werden, wo war da Gott? Die Frage ist mehr als berechtigt und niemand mache sich die Antwort darauf leicht. Dogmatische Formeln, fromme oder enthusiastische Predigten werden den Fragen und den Fragenden überhaupt nicht gerecht. Sie gehen an den mit Ernst fragenden Menschen vorbei. Hier sind wir immer noch und immer wieder in einer tiefen religiösen Krise. Aber wir sind seither und immer wieder auch in einer Krise der Humanität. Wo waren da die Menschen? Waren die SS-Schergen Menschen? Wo waren die Menschen, als die Juden, Sinti und Roma abgeholt, misshandelt und in die Wagen gepfercht wurden, die in die Vernichtungslager fuhren: Treblinka, Majdanek, Auschwitz, Belzec, Sobibor. Gewiss nicht alle Deutschen alle waren Mörder, und die christlichen, nichtjüdischen Frauen in der Rosenstraße in Berlin haben Krach geschlagen als man ihnen ihre Männer nicht wieder herausgab oder bis man sie ihnen wieder herausgab. Sie waren wirklich Heldinnen und haben den Nazis das Fürchten vor dem Frauenwiderstand beigebracht. Es hat sie gegeben, die Menschen, die bereit waren, ihr Leben zu riskieren, um Menschen zu retten und auch zu verstecken – die Gerechten unter den Völkern. Tita von Hardenberg: Ich schätze mich glücklich, dass ich die große Ehre habe, persönlich mit Herrn Gilead-Goldmann sprechen zu dürfen. Es passiert nicht oft im Leben, dass man einen Zeitzeugen von solcher Bedeutung treffen darf. Und ich glaube, wir sind alle sehr gespannt, den direkten Bericht aus dieser schrecklichen Zeit zu bekommen. Das besondere an Ihrer Perspektive ist ja, dass Sie eine Art Doppelperspektive auf Eichmann und Eichmanns Vernichtungswerk haben. Sie waren zunächst sein Opfer, haben die schrecklichsten Qualen durchgemacht, Auschwitz überlebt unter Umständen, die an Wunder grenzen und wurden dann später zu demjenigen, der Beweise gesammelt hat, der Zeitzeugen gefunden hat und die Zeitzeugen dazu gebracht hat, auszusagen. Sie haben ihn bewacht, Sie haben quasi Zelle an Zelle mit ihm gelebt, mussten dafür Sorge tragen, dass er sich nicht umbringt und durch Selbstmord seinem Prozess entzieht. Und Sie haben ihn befragt, immer wieder verhört. Das ist ein Leben – das reicht eigentlich für drei, soviel zu erleben. Und es ist ein Leben, das unglaublich viele Fragen auswirft, zum Beispiel: Wo waren da die Menschen? Aber ich würde gerne mit dem Konkreten anfangen. Können Sie sich an den Moment erinnern, als Sie Adolf Eichmann das erste Mal leibhaftig gegenüberstanden? Michael Gilead-Goldmann: Eichmann wurde im Mai 1960 nach Israel gebracht, und einige Tage nachher haben wir – das war eine spezielle Einheit der israelischen Polizei, wir waren 14 Polizeioffiziere – diese Ausforschung angefangen, vier oder fünf Tage später. Und als ich ihn das erste Mal sah – er saß mir gegenüber und hat den Mund geöffnet – da habe ich instinktiv in diesem Moment vor mir nicht den offenen Mund von Eichmann gesehen, sondern die Tore des Krematoriums. Das war meine erste instinktive Wahrnehmung, als Ex-Häftling in Auschwitz. Tita von Hardenberg: Was fühlt man in so einem Moment – Rachegelüste, Angst, Wut, Hass? Michael Gilead-Goldmann: Ich habe vor mir eine miserable Figur gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, der war der Obersturmanführer, SS-Obersturmanführer der jüdischen Abteilung in der Gestapo in Berlin, der Fünfte für uns Juden, der Fünfte nach Hitler. – An der Spitze war Hitler, danach kam der Himmler, nach ihm der Heidrich, der Kaltenbrunner, und dann war Heinrich Müller, der Chef der Gestapo und Adolf Eichmann der Hauptleiter der jüdischen Abteilung, der Abteilung für Judenmord im Hauptquartier im Sicherheitshauptamt in Berlin. – Und ich sah vor mir eine Figur; ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass das der große Eichmann war, der Millionen Opfer in Vernichtungslager transportiert hat. Tita von Hardenberg: Wie trat Ihnen denn der selbst ernannte Herrenmensch gegenüber? Wie benahm er sich Ihnen gegenüber, demütig oder herablassend? Hatte er noch diesen Nimbus? Michael Gilead-Goldmann: Wir haben einen strikten Befehl gehabt, mit ihm korrekt zu sprechen, ihm Fragen zu stellen, seine Antworten zu hören. Das wurde auf einen Tape-Rekorder aufgenommen und dann schriftlich vorgezeigt. Er konnte seine Erklärungen verbessern, er konnte Wörter tauschen; alles, was er wollte, mit diesem Protokoll machen und dann unterschreiben, dass es sein Protokoll war. Und so haben wir ihn verhört acht Monate, korrekt, keine persönliche Beziehung. Wir haben in ihm ein Objekt gesehen, um die Wahrheit zu erforschen, um die Wahrheit im Prozess an die Öffentlichkeit zu bringen. Tita von Hardenberg: Haben Sie gezögert, diese Aufgabe zu übernehmen? Mussten Sie erst mal darüber nachdenken? Michael Gilead-Goldmann: Nein, ich habe nicht gezögert. Im Moment, als diese Einheit entstand, habe ich mich freiwillig gemeldet. Ich wollte mithelfen, die Wahrheit herauszubringen, auch über Auschwitz, auch über den Tod meiner Eltern, die von ihm und seinen Leuten ins Vernichtungslager Belzec transportiert worden waren – meine Eltern, meine zehnjährige Schwester, Cousinen, Onkel, Tanten; das waren zusammen rund 40 Familienmitglieder. Alle sind umgekommen. Wie ich am Leben geblieben bin – ich weiß es wirklich nicht. Ich kann nicht sagen, ob das Schicksal oder Zufall war. Ich war fast vier Jahre befreundet mit dem Tod. Und ich kam raus – ich weiß nicht wieso. Beim Todesmarsch, es war am dritten Tag, hätte ich erfrieren können. Und das hätte mich meiner Meinung nach gerettet. Tita von Hardenberg: Es haben 16 Menschen von 4000 überlebt, einer davon waren Sie. Michael Gilead-Goldmann: Wir kamen nach Auschwitz am 5. November 1943. Wir waren 4000 Häftlinge aus einem anderen Konzentrationslager, und bei der Selektion – ich weiß nicht, ob das der Mengele war oder ein anderer SS-Arzt – standen wir in der Reihe, und dieser SS-Arzt fragte jeden, wie alt er ist, und dann hat er mit dem Finger nach rechts gezeigt oder nach links. Die nach rechts gingen kamen ins Lager rein, Birkenau – Quarantänelager, die nach links gingen, kamen sofort auf Lastwagen und zum Krematorium, zur Gaskammer. Von diesen 4000 – das wurde offiziell im Auschwitz-Museum festgestellt, sind 900 ins Lager reingekommen. Von diesen 900 wissen wir, sind 16 am Leben geblieben. Wie viele von diesen 16 noch heute am Leben sind, weiß ich nicht. Tita von Hardenberg: Sie selber glauben heute, dass Sie vielleicht auch durch einen Trick die ganze Sache überlebt haben. Den Sie bei der Selektion anwandten, als Sie einen falschen Beruf angaben. Können Sie uns vielleicht die Geschichte mit dem Trick erzählen, der Ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet hat? Michael Gilead-Goldmann: Das war kein Trick. Das war der dritte Tag des Todesmarsches. Wir sind zu Fuß gegangen, und ich konnte nicht mehr gehen. Und ich habe im Moment festgestellt: Ich versuche zu erfrieren oder ich setze mich hin auf den Schnee, und dann wird ein SS-Mann kommen und wird mir einen Genickschuss geben, genau wie die es mit den anderen gemacht haben – es war kein Trick. Tita von Hardenberg: Ich spielte jetzt auf eine andere Sache an, nämlich als Sie nach Auschwitz kamen und nach Ihrem Beruf gefragt wurden. Michael Gilead-Goldmann: Ach so, ja. Ich war damals 18 Jahre alt, und es ging einer der Häftlinge vorbei, die dort auf der Rampe waren und sagte uns leise: „Sagt, dass ihr wenigstens ein Jahr älter seid, und dass ihr einen Beruf habt.“ Und ich habe beschlossen mit meinen 18 Jahren, ich wollte nicht älter sein. Und ich habe gesagt, ich bin Schlosser. Ich hatte keine Ahnung von der Schlosserei. Vielleicht war das die Ursache, dass dieser SS-Offizier, dieser Arzt mit dem Finger so gemacht hat: Dann kam ich ins Lager. Tita von Hardenberg: Wenn man das jetzt hört, was Sie da erlebt haben und sich dann vorstellt, Sie sehen den Mann, der das alles organisiert hat, sich ausgedacht hat. Sie stehen ihm gegenüber. Ich habe gelesen, dass man im Zusammenhang mit dem Prozess, in jener Zeit, eigentlich keine europäischen Juden als Wachkräfte zugelassen hat, weil man Angst hatte, jemand könnte Rache üben – verständlicherweise. Hatten Sie je diesen Impuls, in dem Moment? Michael Gilead-Goldmann: Nein, es war viel zu banal, das Gefühl zu haben, man kann an ihm Rache nehmen. Da gibt es keine Rache. Es gibt keine Menschenrache für das, was mit uns passiert war. Und wir wollten nur von ihm die Wahrheit wissen, was sein Anteil an dieser Vernichtungsaktion war und auch, welchen Anteil die hatten, die mit ihm zusammengearbeitet haben – Endziel der Judenfrage, so hieß das. Ich hatte kein Rachegefühl. Das war viel zu banal für uns. Wir wussten, dass er am Ende, wenn wir im Prozess feststellen können, dass er schuldig ist, dass er das Todesurteil bekommt. Das war unsere Aufgabe. Tita von Hardenberg: Es verblüfft bis heute die Überzeugung, mit der Adolf Eichmann immer weiter gesagt hat, er sei unschuldig, er sei nur ein Befehlsempfänger gewesen. Hatten Sie in dem Gespräch, den Eindruck, dass er wirklich so empfand? Michael Gilead-Goldmann: Er war sehr schlau und seine Verteidigungslinie war, dass er nur Befehle ausgeführt hat. Er hat dem Führer Treue geschworen, „Eid ist Eid“, wie er gesagt hat „und wer den Eid bricht, ist ein Lump.“ Das war sein Ausdruck bei uns. Und er wollte kein Lump sein. Es ist viel leichter, ein Mörder zu sein als ein Lump. Tita von Hardenberg: Haben Sie je sowas wie Reue bei ihm durchgespürt, ein Schuldgefühl? Michael Gilead-Goldmann: Er war ein treuer Nationalsozialist. Er war ein überzeugter Judenhasser, auch wenn er es nicht zugegeben hat. Er alleine sagte: „Er war nie Antisemit.“ Das hat er gesagt. Aber drei Jahre bevor er nach Israel gebracht worden ist, hat er ein Interview mit einem holländischen Journalisten, einem ExNazi, Wilhelm Sassen, in Argentinien gehabt. Und ihm hat er erklärt, dass es sein Ziel war, die Feinde Deutschlands zu vernichten – und wir waren Feinde Deutschlands. Er hat an das, was er getan hat, geglaubt. Das war sein Motto. Bei uns war er ganz anders. Bei uns hat er immer nur davon gesprochen, dass er nur Befehle ausgeführt hat. Aber er war nicht der einzige, auch andere SS-Mörder, im Nürnberger Prozess oder anderen Prozessen haben genau dasselbe gesagt. Wir haben Befehle ausgeführt, und Befehl ist Befehl. Tita von Hardenberg: Also, er hat schon auch geschauspielert? Michael Gilead-Goldmann: Nach unserer Meinung war er ein Schauspieler. Und er glaubte, das wird vielleicht die einzige Möglichkeit sein, nicht gehängt zu werden. Aber die Dokumente, die wir gehabt haben, die Briefe, die er selbst unterschrieben hat – die Beweise waren so stark, dass er ruhig sagen konnte, was er wollte. Es konnte ihm nicht nutzen. Es waren viel zu viele Beweise, schwarz auf weiß: Er hat das aus Überzeugung gemacht. Er suchte überall, wo er nur war. Ein Beispiel: Es gab eine italienische, eine nichtjüdische Frau, die mit einem italienischen Juden verheiratet war. Die Frau hieß Kozy, sie wurde nach Riga deportiert. Die Italiener haben dann eine Information bekommen, dass diese Frau Kozy im Ghetto von Riga ist, und die italienische Regierung hat sich an das deutsche Außenministerium gewendet mit der Bitte, diese Frau Kozy zurückzuführen. Daraufhin hat Eichmann einen Befehl nach Riga gegeben, dass diese Frau sofort umgebracht werden soll, weil er fürchtete, dass die Frau erzählen könnte, was in Riga geschehen ist. Das war seine Initiative. Und solche Befehle gab es viele. Tita von Hardenberg: Sind Sie in der Beobachtung, im Gespräch mit ihm, der Frage näher gekommen, die glaube ich bis heute alle umtreibt, wie jemand so werden kann? Ist es Sadismus, ist es Hass oder ist das Böse ganz banal, wie Hannah Ahrendt sagt? Michael Gilead-Goldmann: Das war eine Indoktrinierung. Er war überzeugt, dass wir kein Recht haben zu leben. Das war seine Überzeugung. Und in dieser Linie hat er alles gemacht, um Erfolg zu haben. Bei uns hat er versucht, genau das Umgekehrte zu sagen. Und wie jemand so ein Massenmörder werden kann – ich kann es nicht erklären. Es ist unmenschlich. Ich kann mir das nicht vorstellen. Mit einem solchen Mörder war ich zusammen, einige Jahre. Wir waren für ihn überhaupt keine Menschen. In Auschwitz waren wir nur Figuren. Wir hatten keinen Namen, nur die Nummer. Wir waren in deren Augen Ungeziefer. Ungeziefer muss man vernichten. Dabei hat Goebbels in einer Rede 1923 gesagt – diese Rede existiert: „Gewiss sind Juden Menschen“. Nachher waren wir aber keine Menschen mehr. Aber er sagte auch: „Ein Floh ist auch ein Tier, aber ein unangenehmes, kein angenehmes Tier. Und niemand wird etwas dagegen sagen, wenn wir diese Tiere vernichten. Genauso mit den Juden: Heraus mit diesem Gesindel.“ Das war Josef Goebbels 1923 bei einer öffentlichen Rede, lange vor 1933. Und so wurden diese Mörder erzogen. Wir waren keine Menschen mehr. Tita von Hardenberg: Was war das für ein Gefühl, sich alles nun monatelang in allen Details wieder anhören zu müssen, sich den Erinnerungen wieder stellen zu müssen? Gab es Momente in dem Prozess, wo Sie die Fassung verloren haben, wo es eigentlich nicht mehr auszuhalten war? War das schwer zu ertragen oder wie hat man das ertragen?
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