PDF 250,6 kB - Evangelische Kirche in Deutschland

Susann Jenichen
"Sensibel für Armut - Kirchengemeinden in der Uckermark"
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, Juli 2015, ISBN 978-3-374-04139-8
Zentrale Fragen der SI-Uckermark-Studie:
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Welchen gesellschaftlichen Wandel erlebt die Uckermark?
Wie geht es den Kirchengemeinden und welche Möglichkeiten haben sie, in dieser
Region aktiv auf Armut zu reagieren?
Wer sind ihre Partner im Engagement?
Wie sehen und erleben Menschen in Lebenslagen der relativen Armut und des Armutsrisikos selber ihre Situation?
Welche Alltags- und Lebensstrategien haben sie?
Was spornt sie an, was wirft sie aus der Bahn? Sind auch sie bürgerschaftlich engagiert?
Welche Besonderheiten des Erlebens von Armut und des Umgangs mit Armut sind
für die Uckermark zu erkennen?
Welche Erfahrungen und Möglichkeiten zu handeln können auch für andere Regionen in
Deutschland gelten?
Ergebnisse im Überblick
In strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands reichen Lebenslagen der Armut und des
Armutsrisikos weit in die Gesellschaft hinein
Nordbrandenburg und Mecklenburg zählen zu den Regionen mit den höchsten (stetigen)
Armutsanteilen in Deutschland. Etliche Familien, in denen seit Generationen Engagement gelebt
wird, erfahren gegenwärtig Situationen der »neuen Armut«. Lebenslagen des Armutsrisikos
finden sich auch bei kirchlich Engagierten bis hin zu denen, die in Gemeindekirchenräten (GKR)
Verantwortung übernehmen.
Kirchliche Gremien können Orte neuen gesellschaftlichen Zusammenhalts sein
Wie vergleichbare Regionen erfuhr die Uckermark seit 1989 einen tiefgreifenden sozialen, soziokulturellen und demografischen Wandel, der auch das kirchliche Leben prägt. Unter anderem
bedingt durch geringe Geburtenraten und Abwanderung ist die Zahl der Kirchenmitglieder und in
der Folge die Zahl der Mitarbeitenden wie der Pfarrsprengel (dort sind mehrere Kirchengemeinden zu einem Pfarramt zusammengeschlossen) erheblich gesunken. Dennoch konnte
eine weitgehend flächendeckende Struktur kirchlichen Lebens erhalten werden. Aber Gemeinde
ist nicht Gemeinde, es variieren kulturelle Prägungen, finanzielle Situation und soziale Lage. Es
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treffen in Gemeindekirchenräten und Gremien des Kirchenkreises (Synode) Menschen unterschiedlichster sozialer Lage und kultureller Milieus aufeinander. Unter ihnen finden sich Verlierer
wie Gewinner des gesellschaftlichen Wandels.
Kirchengemeinden nehmen Armut sensibel wahr und sehen Handlungsbedarf
Engagierte in Kirchengemeinden nehmen Armut in vielfältigen Formen wahr. In peripheren Orten
sind sie – oder aber ihre Angehörigen – häufig selbst von Armutsrisiken betroffen. In den Städten
sind sie in ihrer beruflichen Funktion als Ärzte, Lehrer, Unternehmer Mitbetroffene. Patienten
benötigen dringend besseren Wohnraum, Schülern knurrt der Magen, Unternehmen können
ihren Mitarbeitenden nur mit Mühe (unbefristete) Anstellungsverhältnisse bieten. Als Träger von
Kindertagesstätten, als Vermieter, Verpächter oder Arbeitgeberin werden die Verantwortlichen
der Kirchengemeinden ebenso mit Lebenslagen der Armut konfrontiert. Engagierte der Kirchengemeinden zeigen eine Nähe und Mitbetroffenheit, wenn es um das Thema Armut geht. Sie
haben zudem einen hohen Sinn für gemeinschaftliches Engagement. Ihnen sind die christliche
Gemeinschaft, das nachbarschaftliche Leben im Dorf und im sozialen Nahraum und die Belange
der Region wichtig. Da sie wertgeschätzte Lebensformen als bedroht ansehen, engagieren sie
sich.
Stabiles armutsbezogenes Engagement gelingt in wenigen Orten
Fragt man in Kirchengemeinden, was diese bereits gegen Armut tun oder gerne tun würden, wird
deutlich: Armutsbezogenes Engagement (zum Beispiel Beratungs- oder Selbsthilfeangebote) ist
nicht in jedem Fall möglich und kann zum Teil nur mit Mühe stabilisiert werden. Die zur Verfügung stehenden Mittel sind gering und in nahezu allen Kirchengemeinden unsicher. Einige von
ihnen haben kaum eigene Einnahmen, und aktive Mitglieder sind selber von Armutsrisiken betroffen. Engagement kann sich nicht entfalten, weil nur ein Teil der Engagierten ausreichend
Möglichkeiten sieht, durch gemeinsames Handeln etwas an der Situation ändern zu können. Es
überwiegt der Einsatz Einzelner oder ein reagierendes gemeinschaftliches Engagement ─
letzteres zum Beispiel, wenn die Kirchengemeinde von der Kommune gebeten wird, in ihren
Räumen eine Weihnachtsfeier zu gestalten.
Die Stärke der Kirchengemeinden: Armutssensibles Handeln
Niedrigschwellige Angebote für Kinder, Familien, Jugend, Senioren sind ein großes Anliegen der
Kirchengemeinden und des Kirchenkreises. Wenn die Mittel fehlen, findet eine Kinderfreizeit in
Zelten im eigenen Pfarrgarten statt, oder die »Junge Gemeinde« gestaltet die Konfirmationsfeier
anstelle der Familie. Für viele Veranstaltungen wird ein Rhythmus gewählt, der Teilhabe trotz
eingeschränkter Mobilität erleichtert, oder aber die Mobilität der Teilnehmenden wird gezielt
unterstützt. Kollekten und freiwillige Spenden ersetzen Eintritte für Veranstaltungen.
Selbst- und Mitbetroffenheit der Engagierten sind Chance und Belastung zugleich
Die Selbst- und Mitbetroffenheit der Engagierten bedingt eine hohe Achtsamkeit für die Armutsproblematik. Dies zeigt sich in einer differenzierten Wahrnehmung, in armutssensibler Praxis, in
armutsbezogenem Engagement und vielen Vorstellungen, wo Handeln dringend notwendig ist.
Die geringen Mittel und die hohen Belastungen der Kirchengemeinden als auch eines Teils der
Ehrenamtlichen erschweren jedoch mögliches Engagement und bedrohen bestehendes.
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Zusammenarbeit von Kirchengemeinden, Landeskirche und Diakonie optimieren
Das soziale Engagement in Kirchengemeinden wird im diakonischen Diskurs durch sein Verhältnis zu diakonischen Einrichtungen, Verbänden und Unternehmen definiert. Entscheidende Aufgaben werden in der Einzelfallhilfe und im Sozialraumengagement gesehen.
Kirchengemeinden engagieren sich jedoch auf ihre eigene Art und Weise. Sie tun dies sozial, in
eigenständigen Formen armutssensibler Praxis und armutsbezogenen Engagements. Dabei geht
es unter anderem um die Ermöglichung von Teilhabe durch niedrigschwellige Angebote, um
Lebensermutigung und um die Stärkung von Gemeinschaften. Teilweise grenzen die Kirchengemeinden dieses Engagement als »Gemeindediakonie« gegen das Handeln der unternehmerisch geprägten Diakonie ab. Die spezifischen Gestalten des sozialen Engagements der
Kirchengemeinden als eigene und wesentliche Form kirchlich-diakonischen Handelns werden, so
die Beobachtungen, nicht ausreichend wahrgenommen und anerkannt..
Es liegen bisher kaum Expertisen der Aus- und Weiterbildung sowie der Gemeinde- und
Kirchenkreisberatung vor, die diese Engagementformen gezielt stärken und den je spezifischen
wie eigenständigen Beitrag der Kirchengemeinden als auch der Diakonie bewusst aufeinander
beziehen. Auch die institutionellen Anreize und Formen motivierender Anerkennung sind begrenzt. Für die Stärkung des armutsbezogenen Engagements in Regionen wie der Uckermark
─als auch des partnerschaftlichen Handelns von Kirchengemeinden und Diakonie ─ kann dies
gewinnbringend sein.
Menschen in Lebenslagen der Armut sind bürgerschaftlich engagiert
Ein Teil der Befragten in Lebenslagen der Armut und des Armutsrisikos sind traditionell stark
engagiert, schauen auf Phasen des Engagements zurück oder haben Möglichkeiten des
Engagements neu kennengelernt. Einige von ihnen erfuhren in der Vergangenheit vielfältige
Hilfen durch kirchlich-diakonische Angebote. Insbesondere dort, wo eine enge Beziehung
zwischen Engagement der Kirchengemeinden und hochwertigen professionellen Angeboten der
Diakonie besteht (bzw. bestand), können die Befragten positive Erfahrungen sammeln und
Engagement entfalten. Der kirchlich-diakonische Raum bietet ihnen zumindest anteilig die
Möglichkeit, Vorstellungen eines guten Lebens und Zusammenlebens zu verfolgen und ihre Gemeinwohlideale und -verpflichtungen einzubringen. Zu diesen Idealen gehören: Leistungsbereitschaft und Bewährung, Recht auf Entfaltung und Wohlergehen, Achtsamkeit und Mitmenschlichkeit, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit.
Sechs Typen des Engagements:
Typ 1: Kontinuität von Engagement.
»Das ist aber auch noch eine Erfahrung, die habe ich in der DDR gehabt als junger Student, wo
wir eine Umweltinitiative aufgebaut und eine Initiative gegen Diskriminierung gegründet haben.«
(Helmar, Mitte 60)
Typ 2: Engagement als Re-Normalisierung des Alltags.
»Das hilft mir ja auch. Das ist ja eine gewisse Tagesstruktur und Gemeinschaft.Die ist mir sehr
wichtig. Deswegen komme ich auch gerne hierher.«
(Ingo, Mitte 20)
Typ 3: Selbstverständliches, häufig verborgenes Engagement im sozialen Nahraum.
Ernst: Ich mache eigentlich, was selbstverständlich ist, mehr nicht.
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Helmar: Nachbarschaftshilfe.
Mitarbeiter Diakonie: Das ist doch eine Menge.
Ernst: Was Normales.
Typ 4: Verhandelndes Engagement
»Von dem Ehrenamtlichen kann ich nicht existieren, und ich bringe wirklich schon eine Menge
Zeug ein. (…) Und eine Aufwandsentschädigung, ich bin der Letzte, der da Nein sagen würde.
Ein gewisses gesundes Verhältnis sollte dabei rauskommen.«
(Andreas, Mitte 50)
Typ 5: Engagement der Überlebensgemeinschaft
Einige, die sich von der Gesellschaft abgehängt und betrogen fühlen, sehen im Engagement für
andere Selbstausbeutung und Selbstgefährdung. Finden diese Menschen jedoch kleine Gemeinschaften des Überlebenskampfes (z. B. Selbsthilfegruppen) und können sie sich mit diesen Gemeinschaften am Engagement anderer beteiligen (Waffelbacken für einen guten Zweck), erfahren sie ihr Engagement weder als Versagen noch als Gefährdung. Sie erleben dann eine
Aufwertung; und ihr moralisches Selbstbild wird gestärkt.
Typ 6: Engagement aus Rückverpflichtung und Dank
»Ich krieg doch einen Bezug, dann kann ich mich doch ein bisschen einbringen«
(Anita, Anfang 50)
»Denn unterm Strich habe ich von dieser evangelischen Gemeinde mehr gehabt wie von allen
Behörden oder Ämtern. (…) Ich sage: ›Nee, ich gehöre keiner Konfession an und so weiter, aber
ich will einfach auf meinem Weg hin wiedergeben, was ich bekommen habe.‹«
(Andreas, Mitte 50)
Ist man im Osten anders arm?
Lebenslagen des Armutsrisikos reichen in der Uckermark weit in die Gesellschaft hinein und betreffen auch traditionell engagierte Familien. Viele benennen die Belastungen ihres Lebens und
wissen um die Formen der Lebensentfaltung, die ihnen verwehrt sind. Sie erleben sich durch ihre
Aktivitäten in Kirchengemeinde und Nachbarschaft jedoch nicht als isoliert, abgewertet oder
moralisch ausgegrenzt. Dass durch den demografischen Wandel und die geringen persönlichen
wie öffentlichen Mittel jedoch ihre Möglichkeiten gemeinschaftlichen Engagements beschränkt
sind, macht sie wütend und ohnmächtig. Sie empfinden, dass ihre Region vernachlässigt und
von positiven Entwicklungen ausgeschlossen wird, und erleben dies als Ausgrenzung, die sie
persönlich trifft.
FAZIT
Gemeinsam handeln – teilhaben – Armut bekämpfen – Resignation überwinden
Armut bekämpfen – Resignation überwinden: Gemeinschaftliches Engagement entfalten, sich
verbünden und einander an Freuden und Sorgen teilhaben lassen – das sind Möglichkeiten,
Armut zu begegnen und Menschen in Notsituationen zu ermutigen bzw. zu entlasten. Und
dennoch können damit ursächliche Bedingungen für Armut nicht überwunden werden. Somit
bleibt das sozialpolitische Handeln auch für kirchliche Einrichtungen weiterhin eine Aufgabe.
Kirchengemeinden der Uckermark wünschen Partnerschaften zwischen lokalen, regionalen und
überregionalen Verantwortungsträgern. Damit verbunden ist die Hoffnung auf eine starke sozialpolitische Positionierung, die es ermöglicht, politische Entscheidungen zu beeinflussen.
Ausgehend von den Analysen der SI-Uckermark-Studie sind Bedingungen anzumahnen, die
Armut ursächlich vermeiden helfen als auch solche, die Experten sozialer Arbeit und armutsbezogenes bürgerschaftliches Engagement stärken. In den Kirchengemeinden – so ein wesentliches Ergebnis – gibt es zahlreiche solcher Expertinnen und Experten.
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