Historische Grundlagen der Entwicklung der chinesischen Akupunktur

DOI: 10.1016/j.dza.2013.03.002
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Akupunktur
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D t. Z t s c h r . f. A k u p u n k t u r 5 6 , 1 / 2 0 1 3
Deutsche Zeitschrift für
German Journal of Acupuncture & Related Techniques
H. Tessenow
Historische Grundlagen der Entwicklung
der chinesischen Akupunktur
– erörtert anhand von Grabbeigaben und überlieferten frühen Texten (Teil 1)
Historical background in the development
of Chinese acupuncture
– explored on the basis of tomb objects and early written sources (Part 1)
Zusammenfassung
Abstract
Anhand von frühen schriftlichen medizinischen Quellen (Ma
wang dui, Huang Di Neijing), die ca. 2.300 bzw. 2.000 Jahre alt
sind, werden die vielfältigen frühen Akupunkturtraditionen und
deren Vorläufer untersucht. Der erste Teil dieser historischen
Untersuchung beschäftigt sich vor allem mit den Systemen der
sogenannten „Hauptadern“/„Leitbahnen“, die dem Wissen um
einzelne wirksame Loci wahrscheinlich größtenteils vorausgingen. Es gibt keine sicheren, aber verschiedene mögliche
historische Erklärungen für die Entstehung dieser Systeme.
In Teil 2 werden ideologische Grundlagen für die Existenz von
zwölf Leitbahnen und deren Namensgebung untersucht, dann
die Bedeutung und Funktion bestimmter Typen von Werkzeugen beschrieben, die nur z. T. mit heutigen Nadeln verglichen
werden können. Sie demonstrieren die Entwicklung der
Akupunktur zum Bewegen des Qi aus einer breiteren Methodik
heraus, die chirurgische Elemente beinhaltete.
Early written medical sources like the unearthed documents of
the tombs of Ma wang dui as well as the classical textbook
Huang Di Neijing, appr. 2300 resp. 2000 years old, are investigated to put light on the diverse early acupuncture traditions
and their predecessors. The first part of this historical investigation looks particularly at the systems of the main channels/
meridians, which were probably preceding the knowledge of
singular effective loci. There are no certain but various possible
historical explanations for the development of these systems.
In the second part we are looking at the ideological base for
the existence of 12 meridians and their names. The meaning
and function of certain types of tools is described which can
only partly be compared to modern day needles. They demonstrate the development of acupuncture, in a quest to move the
Qi, from a broader methodology which contained elements of
surgery.
Schlüsselwörter
Keywords
Chinesische Medizin, Akupunktur, Leitbahnen, Meridiane,
Grabfunde, Grundlagentexte chinesische Medizin
Chinese medicine, acupuncture, meridians, tomb finds, basic
studies on Chinese Medicine
Einleitung
Konzeption aber wohl spätestens auf das dritte Jahrhundert v. Chr.
zurückgehen. Die für medizinische Dokumente wichtigste frühe
Grabstätte ist die von Ma wang dui 泻䘚⪕ nahe der Stadt Changsha in Hunan (im Folgenden mit MWD bezeichnet). Weiterhin
werde ich diese Fragen anhand von Texten zu beantworten
versuchen, die im Huang Di Neijing 煓ガ␔兞 (dem „Inneren
Kanon des Gelben Kaisers“; im Folgenden HDNJ genannt) überliefert sind. Das HDNJ, eine für die chinesische Medizin grundlegende Textsammlung, umfasst u. a. die beiden Textsammlungen
Suwen 侯桽 und Lingshu 䌄㨱/槗㲭 und enthält größtenteils
Texte, die aus der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) stammen.
Bestandteile der Nadeltherapie sind u. a.
• bestimmte Stellen der Behandlung
• bestimmte Werkzeuge und Techniken der Behandlung.
Der Terminus „Akupunktur“ wurde von dem niederländischen
Arzt Willem ten Rhijne (1647–1700) eingeführt; die Zusammensetzung aus lateinisch acus („Spitze/Nadel“) und punctura
(„Stechen“) bedeutet: „Stechen mit einer Spitze oder Nadel“. In
chinesischen Texten wird alternativ entweder das Wort zhen
朗昋 („Nadel“/ „Behandlung mit Nadeln“) oder das Wort ci Ⓣ
(„Stechen“) verwendet. Um der historischen Vielfalt der Techniken gerecht zu werden, die mit „Akupunktur“ in der heutigen
Verwendung dieses Terminus nur unzureichend (bzw. zu
spezifisch) abgedeckt würden, ziehe ich es vor, im Folgenden
stattdessen den Terminus „Nadeltherapie“ zu verwenden.
Die Theorie und die Praxis der Nadeltherapien sind seit mehr
als 2.000 Jahren belegt. Bereits die frühesten medizinischen
Texte vermitteln ein ziemlich komplexes Bild dieser Therapieformen mit verschiedenen Traditionen oder Schulen. Es stellen
sich folgende Fragen:
• Wie sind diese komplexen Therapieformen entstanden?
• Auf welchen historischen – ideellen oder realen – Grundlagen
basieren sie?
Zur Beantwortung dieser Fragen kann man zunächst auf Texte
und Bilder zurückgreifen, die als Beigaben in Gräbern des zweiten Jahrhunderts v. Chr. gefunden wurden, deren Inhalte und
Dr. Hermann Tessenow
Türkenstr. 80
D-80799 München
Tel.: +49 89 2800833
[email protected]
1. Stellen der Behandlung
1.1 Linien und Punkte
In der heutigen Akupunktur spielt eine große Zahl bestimmter,
anatomisch genau definierter Behandlungs-„Punkte“ eine wichtige Rolle. Diese Punkte liegen grundsätzlich (aber nicht immer)
auf bestimmten Linien, die man heute als „Leitbahnen“ oder
„Meridiane“ bezeichnet. Letztere sind weitgehend identisch mit
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(realen oder gedachten) Strukturen, die bereits in den frühesten
erhaltenen medizinischen Texten (MWD, 3./2. Jh. v. Chr.) genau
beschrieben werden und dort mit „mai / mo“ 厘/厗, d. h. „Adern“
bezeichnet werden. (Zu diesem Begriff s. Abschnitt 1.2.)
Im medizinischen Textkorpus, das in MWD ausgegraben wurde,
finden sich zwei sehr ähnliche, auf Seide geschriebene Texte,
die sowohl den Verlauf von elf „Adern“ als auch deren diagnostische Relevanz und Therapie beschreiben (im Folgenden mit
MWD I.A und MWD I.B bezeichnet).
Die Beschreibung der ersten der elf „Adern“ in MWD I. A lässt
sich folgendermaßen übersetzen:
„Die Fuß-Groß-Yang-Ader:
Sie entspringt der Höhlung am äußeren Knöchel. Aufsteigend
durchzieht sie die Wade und kommt in der Kniekehle zum
Vorschein. Ein Zweig läuft zu dem unterem xun.1 Der direkte
Verlauf der Ader durchdringt [..]2 und lehnt sich seitlich an
das Rückgrat. Sie […] und steigt auf in den Kopf. Unterhalb
der Stirnmitte geht ein Zweig ab zum Ohr. Der direkte Verlauf durchzieht den inneren Augenwinkel und erreicht die
Nase.
Ihre Leiden: Funktionsverlust der kleinen Zehe; Wadenschmerz;
Krämpfe in den Kniekehlen; Schmerz im Gesäß; Hämorrhoiden; Hüftschmerz; Schmerz, der seitlich an das Rückgrat
drängt; […]-Schmerz; Handschmerz; Kälte in der Stirnmitte;
Taubheit; Augenschmerz; verstopfte Nase; blutige Nase;
andauernde Krämpfe. Bei all diesen Leiden brenne man die
Fuß-Groß-Yang-Ader.“
Es handelt sich hier – gut erkennbar, auch schon am Namen
– um den heutigen Blasen-„Meridian“. Auffällig ist aber die
therapeutische Anweisung: Es wird „Brennen“ und nicht etwa
Nadelbehandlung dieser Ader empfohlen, und zwar ohne
bestimmte Stellen zu nennen, an denen „gebrannt“ werden
soll. Ob es sich bei diesem Brennen um die Verbrennung einer
bestimmten Substanz (vielleicht sogar schon eine Art Moxa)
auf der Haut handelt, ist unsicher [vergl. 1:95 ff.].
Die Beschreibung der übrigen zehn „Adern“ folgt demselben
Schema, und in allen Fällen hat die betreffende Ader eine ziemlich genaue Entsprechung mit einem der heutigen „Meridiane“
(es fehlt nur die Ader, die dem heutigen Hand-Jue-Yin-Meridian [Perikard] entspricht). Auch der ähnliche Text MWD I.B
entspricht annähernd diesem Schema, doch finden sich hier
zwei Reihen von ansonsten ähnlichen diagnostisch relevanten
Symptomen. Der Verlauf der „Adern“ ist weitgehend, aber nicht
immer genau identisch. (Vgl. die ersten beiden Diagramme auf
S. 8 unten.) Am meisten fällt auf, dass in MWD I.B keine einzige Ader bis zu den Fingern und nur eine bis zu den Zehen
reicht (nämlich die Fuß-Jue-Yin-Ader [Leber]), während in
MWD I.A bereits zwei (die Fuß-Jue-Yin-Ader und die FußGroß-Yin-Ader [Milz]) die Zehen und außerdem drei die Finger
einschließen (es sind die drei Yang-Adern der Hand). Zumindest vom Verlauf der „Adern“ her gesehen scheint also die
Textversion von MWD I.A eine gegenüber MWD I.B entwickeltere Stufe der Theorie zu repräsentieren.
Es bleibt festzuhalten, dass in keinem dieser beiden Texte von
einer Nadel- oder Stechtherapie die Rede ist, und dass nur von
der („Brenn“-)Behandlung der jeweiligen „Ader“ als ganzer
gesprochen wird und keine spezifischen Behandlungspunkte
erwähnt werden. Es gibt in beiden Texten nur elf „Adern“, denen
elf der heutigen „Meridiane“ entsprechen.
Abb. 1: Beispielseite der Seidenmanuskripte; Anfang von MWD I.A [1:194]
Eine Weiterentwicklung des Systems der „Adern“ lässt sich im
HDNJ feststellen: Hier gibt es zwölf (den heutigen Meridianen
entsprechende) Adern, die jetzt mit jingmai 兞厘 („Vertikal- oder
Haupt-Adern“) bezeichnet werden, um sie von den sogenannten
luomai 八厘(„Netzadern“) abzugrenzen. Außerdem verlaufen jetzt
alle zwölf Haupt-Adern bis zum Ende der jeweiligen Extremität,
schließen also Finger und Zehen ein. Das ist vor allem deshalb bedeutsam, weil auf diese Weise eine ununterbrochene Verbindung
zwischen allen zwölf Adern hergestellt wird, die u. a. eine Voraus-
1
2
Das im Text stehende chinesische Zeichen und dessen korrekte Lesung sind sonst nicht belegt.
Laut [1, 2] könnte es sich um das Gesäß oder eine Stelle in diesem Bereich handeln.
Die mit […] markierten Stellen sind solche, an denen das Seidenmanuskript Lücken aufweist.
Vergl. 1:192; 2:173).
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setzung für einen Kreislauf des Qi4 in diesen Adern ist und für eine
Diagnostik, die letztlich durch das Abtasten einer einzigen Stelle
des Adernsystems (also z. B. am Hals oder am Handgelenk) Aussagen über den Zustand des gesamten Körpers machen kann.
(Wohlgemerkt ist die Grundlage hierfür die Vorstellung eines QiKreislaufs, nicht die eines Blutkreislaufs.)
Außer diesen zwölf Hauptadern werden bereits im Huang Di
Neijing acht weitere „Adern“ beschrieben, von denen vier einzeln
in der Körpermitte verlaufen (drei vertikal, eine horizontal in
der Höhe der Taille) und die übrigen vier paarig auf beiden Seiten (ebenso wie bei den zwölf Hauptadern).
Näheres zu den Bezeichnungen und zur Realität (Anatomie,
Physiologie, Empirie und Symbolik) all dieser „Adern“ s. u.
1.2. und 1.3.
Schließlich spielt im HDNJ, im Unterschied zu den MWD-Texten,
die Nadeltherapie eine wichtige Rolle. Es ist zu vermuten, dass diese
Therapieform erst im Laufe der Han-Zeit entwickelt wurde. Jedenfalls sind in der frühen Nadeltherapie offenbar die Linien (d. h. das
System der „Adern“) weitaus wichtiger als die Punkte (siehe Kasten).
• Zum einen werden in den frühen Texten insgesamt im
Vergleich zu heute nur sehr wenige definierte Punkte genannt
– im Huang Di Neijing Lingshu auf jeder Seite 61, beidseitig
insgesamt 122, im Huang Di Neijing Suwen maximal 365,
wobei diese Gesamtzahl offenbar auf Grundlage der Zahl der
Tage eines Jahres konstruiert wurde.
• Zum anderen gibt es eine Reihe von Texten, in denen nur
von der Behandlung einer bestimmten Hauptader gesprochen
wird, ohne dass irgendwelche Behandlungspunkte erwähnt
Abb. 2: Diagramm nach MWD I.A3 [3:152 ff.]
3
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werden, ebenso wie bei der Ader-Brenntherapie der MWDTexte. Man könnte sogar vermuten, dass ursprünglich nur
die Linien insgesamt, nicht aber bestimmte Punkte behandlungsrelevant waren.
Abgesehen davon werden in der frühen Nadeltherapie auch Körperstellen oder Körperbereiche behandelt, die eher pauschal beschrieben
werden und unabhängig von exakt definierten Linien und Punkten
sind (siehe dazu den zweiten Teil des Aufsatzes (2.)). (Ob man für
diese Nadeltherapien auch den Terminus „Akupunktur“ verwenden
sollte, ist fraglich.)
Auch abgesehen von der Nadeltherapie spielen die genannten Linien
innerhalb der chinesischen Medizin eine vielfältige und zentrale
Rolle, besonders für die Diagnostik, Physiologie und Pathologie. So
werden die einzelnen Linien jeweils mit bestimmten inneren Organen verbunden, deren spezifische Krankheiten man an der entsprechenden Leitbahn diagnostizieren kann. Auch werden sie (spätestens
im Lingshu) als ein Transportsystem aufgefasst, in dem vor allem
ein feinstoffliches Substrat, Qi genannt, zirkuliert (s. o.).
Folgende Fragen drängen sich auf:
• Welche anatomischen Strukturen sind diesen Linien zuzuordnen?
• Auf welcher Grundlage ist das System dieser Linien entwickelt worden; vor allem: worauf basiert deren Verlauf?
1.2 Welche anatomischen Strukturen sind diesen
Linien zuzuordnen?
Es ist schwer, diesen Linien eine einheitliche anatomische
Struktur zuzuordnen. Folgt man ihrem in den Texten sehr genau
Abb. 3: Diagramm nach MWD I.B [3:152 ff.]
Abb. 4: Diagramm nach Huang Di Neijing Lingshu,
Kap. 10, „12 Hauptadern“ [3:152 ff.]
Die folgenden drei Diagramme stammen aus [3:152 ff .]. Der von den Autoren dargestellte Verlauf der Adern entspricht im Wesentlichen (aber nicht immer genau) den Originaltexten.
Unter „Qi“ 㺣㺲 ist in diesen alten Texten nicht etwa „Energie“ zu verstehen, sondern ein feinstoffliches Substrat, das sowohl in der Atemluft vorhanden ist als auch in der eingenommenen Nahrung. (Das ursprüngliche Zeichen steht wohl für Wolkendunst oder Dampf.) Sicher kann es eine energetische (Lebenskraft spendende) Funktion haben – wenn z. B. die Nahrung im
Körper transformiert wird oder wenn es im Körper kreist. Der Begriff an sich bezeichnet aber nicht diese Funktion, sondern eben Feinmaterie. Das Wort „Qi“ kann auch Materie generell
bezeichnen, da in allem Grobstofflichen das Feinstoffliche enthalten ist.
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beschriebenen Verlauf, so stößt man auf eine Reihe verschiedener, auch flächiger und diffuser Strukturen.
a) Die chinesische Bezeichnung dieser Strukturen, mai, oder
jingmai, (Haupt)„Adern“, darf man nicht ganz wörtlich
nehmen. Nur einige wenige Abschnitte dieser Linien könnte
man u. a. als größere Blutgefäße interpretieren. Es soll aber
in alle diese Strukturen gestochen werden, was eine Art Aderlass wäre, wenn es sich um größere Blutgefäße handeln
würde. Dem widerspricht, dass in der Nadeltherapie der Aderlass (im geläufigen Sinne, als Blutablassen aus größeren
Adern), eigentlich keine Rolle spielt (es gibt nur gelegentlich
Blutlassen aus besonders blutreichen Geweben, sogenannten
luomai, „Netzadern“). Dagegen spielt das Ablassen von Qi
eine wichtige Rolle (s. Teil 2 des Aufsatzes (Punkt 2.3)).
Das Wort mai wird zwar auch in übertragenen Bedeutungen
verwendet; außer Blutgefäßen kann es außermedizinisch z. B.
Wasseradern und Gesteinsadern bezeichnen; ebenso ist eine
innermedizinische Übertragung auf andere, „aderähnliche“,
z. B. längliche Strukturen im Körper denkbar (was übrigens in
der Etymologie des deutschen Wortes „Ader“ eine Parallele
haben würde, das ursprünglich auch Sehnen, Muskeln, Därme
bezeichnen konnte [5:7]). Trotzdem sollte man die Ursprungsbedeutung im Blick behalten: Die gut sichtbaren Blutgefäße
waren der Ausgangspunkt für die Beschreibung von weniger
sichtbaren Strukturen im Körper.
b) Es ist wahrscheinlich, dass diese Linien im weitesten Sinne mit
dem Nervensystem zusammenhängen (und zwar aufgrund der
heutigen Akupunkturerfahrungen und der schon in den frühen
chinesischen Texten zur Brenntherapie und zur Nadeltherapie
Zu den Stellen bzw. Punkten der Behandlung:
a) Älteste Schicht (MWD etc.): Behandlung vermutlich an beliebigen Stellen entlang aller elf bzw. zwölf „Hauptadern“ (bei
beiden Körperseiten insgesamt: 22 bzw. 24 „Hauptadern“)
b) Lingshu 1, 2, etc.: System von 61 (bzw. beidseitig: 122) Stellen
entlang der distalen Verläufe der Hand- und Fußadern“ (von
der Hand bis zum Ellbogen; bzw. vom Fuß bis zum Knie) – je
fünf Stellen für die fünf Yin-(zang-)Adern, je sechs Stellen für
die sechs Yang-(fu-)Adern. Die Zahl 61 (einseitig) ergibt sich aus
fünf sogenannten „Transportstellen“ für jeden der fünf zangSpeicher (5 [ 5 = 25) und aus sechs „Transportstellen“ für jeden
der sechs fu-Speicher (6 [ 6 = 36). Es gibt für diese Punkte zwei
verschiedene Nomenklaturen:
• Einmal werden die fünf bzw. sechs Punkte für jedes Gefäß nach
einer gemeinsamen, generellen Terminologie unterschieden:
ℤ„Brunnen“ – 嗴„Bach“ – 戢 „Umschlagplatz“ – ☮ „Ebene“
(nur bei den fu ㄫ-Speichern) – 兞 „Strom“ – ⚗ „Zusammenfluss/Mündung“.
• Zum anderen wird jeder Punkt unterschiedlich benannt
(die Namen sind identisch mit den heutigen Bezeichnungen).
Die anatomische Lage der Punkte wird genau beschrieben.
c) Späteste Schicht: Suwen 58, 59: Liste von Punkten, die sich für
beide Körperseiten insgesamt auf 365 Punkte beläuft – offenbar
steht hier die Zahl für die Tage des Jahres Pate. Die beiden Kapitel konstruieren diese Zahl aber auf ganz verschiedene Weise.
Vergl. [4: Vol. II, 47 ff.].
d) Nach neuerer chinesischer Tradition ergeben sich für den Körper
insgesamt 618 bzw. – wenn „neue“ chinesische und japanische
Punkte eingerechnet werden – 765 Punkte. Je nach Quelle werden auch über 1.000 Punkte genannt.
genannten Hauptindikationen für die Behandlung, die oft in
„Schmerzen“ bestehen). Nur sind sie nicht etwa einfach mit den
Nerven identisch.
Eine der modernen Studien zu diesem Thema hat ergeben, dass
es eine sehr starke Korrespondenz (91 %) gibt zwischen den
genannten Linien und den charakteristischen Schmerzausstrahlungsregionen von myofaszialen Triggerpunkten (das sind
druckempfindliche, schmerzauslösende Punkte in Muskelfaserbündeln). [Vgl. 6:9 und 7]
Es gibt auch Beziehungen zwischen solchen Schmerzarealen und
Dermatomen, cutivisceralen Reflexbogen, etc. [8, 9].
1.3 Auf welcher Grundlage sind diese Linien entwickelt
worden; worauf basiert deren Verlauf?
Man kann für die frühe chinesische Medizin keine systematischen
Sektionen und keine präzise Anatomie voraussetzen, schon gar nicht
was feinere Strukturen wie Gefäße und Nerven betrifft. Es gab zwar
gelegentlich Sektionen; in China war aber die Zerteilung von
menschlichen Körpern (d. h. auch im Rahmen der Chirurgie) weitgehend tabu, es sei denn es handelte sich um Straffällige.5 Mediziner waren also meist auf Zufallsbeobachtungen an im Krieg Getöteten und Verwundeten und auf Tiersektionen angewiesen, wodurch
z. B. Kenntnisse des Skeletts und eines wesentlichen Teils der inneren Organe ermöglicht wurden. Worauf sonst kann sich aber die
Konstruktion der besagten Linien gestützt haben?
1.3.1 Mögliche empirische Grundlagen
Es lassen sich hierzu u. a. die folgenden Hypothesen aufstellen:
a) Die Linien beruhen auf therapeutischen Zufallserfahrungen:
Wenn z. B. die Massage spezifischer Stellen/Abschnitte des
Körpers zur Minderung oder Aufhebung eines spezifischen
Schmerzes führt, könnte man evtl. alle Stellen/Abschnitte,
an denen man dieselbe Wirkung erzielt, zu einer Linie verbinden.
b) Die Linien beruhen auf Selbsterfahrungen; sie werden von
besonders sensiblen Menschen unmittelbar wahrgenommen.
c) Die Linien sind im Zusammenhang mit frühen makrobiotischen Techniken entstanden:
• c1) Praktizierende von „Qigong“-ähnlichen Atemübungen
etc. erfahren angeblich entlang dieser Linien ein Strömen
von Feinsubstanz, Wärme etc.
• c2) Die Linien wurden evtl. ursprünglich nur zum Zweck
makrobiotischer Techniken konstruiert.
Für die unter c genannten Vermutungen spricht weiteres Material, das aus Gräbern des 2. Jahrhunderts v. Chr. stammt. In
einem Text, der im MWD-Textkorpus auf die Beschreibung der
elf Adern folgt, wird folgende Regel aufgestellt:
„Qi [sollte] sich [im Körper] nach unten bewegen; und es schädigt den oberen Teil [des Körpers]. Es folgt der Wärme und bewegt
sich weg von der Kühle; deshalb haben die Alten Heiligen den
Kopf kalt und die Füße warm gehalten.“ Wenn Qi, abweichend
von der Regel, auf- und nicht absteigt, muss man die Ader feststellen, von der dieser Fehler herrührt, und sie mit Brennen
behandeln. [1:213 f.; 2:276–282]
5
Eine solche Sektion, die im Jahr 1106 an 30 Hingerichteten vorgenommen wurde, wird im Tu
shu bian⦥㦇冥, Kap. „Zangfu quan tu shuo“ 呢叠⏷⦥崹, beschrieben. (Dabei beobachtete besondere Merkmale der inneren Organe werden als Merkmale interpretiert, in denen sich Verbrecher von normalen Menschen unterscheiden!) [Vergl. 10:68 ff.]
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Diese Regel zeigt erstens (wie bereits aus der Beschreibung des
Verlaufs der „Adern“ hervorgeht), dass sich in diesen frühen
Texten noch nicht die Vorstellung eines Qi-Kreislaufs findet. Sie
zeigt m. E. außerdem, dass sie ursprünglich aus der Beobachtung der Vorgänge beim Einatmen herrührt: Qi (hier als Feinstoff verstanden, der mit der Atemluft aufgenommen wird) sollte
im Normalfall vom Kopf ausgehend in alle tiefer gelegenen Teile
des Körpers eindringen und dort bleiben, statt wieder nach oben
zu strömen.
In einem anderen MWD-Text werden Techniken des Atmens
beschrieben, die zu Langlebigkeit führen sollen, und hier spielt
u. a. das tiefe Einatmen eine wichtige Rolle:
„Der Weg, Qi einzuatmen: Man muss es die äußersten Teile des
Körpers erreichen lassen, so dass Essenz (feinstes Qi) entsteht und
nirgends fehlt. So ist Essenz oben und unten überall vorhanden;
woher könnte dann (pathogene) Kälte oder Wärme entstehen?!
Der Atemzug sollte tief und lang sein, so dass das frische Qi
leicht zu halten ist. Das gebrauchte Qi ist das des Alterns, das
frische Qi das des langen Lebens. Wer sich darauf versteht, Qi
zu regulieren, lässt das gebrauchte Qi nachts sich zerstreuen und
das frische Qi frühmorgens sich sammeln …“ „Das Regulieren
des Atmens frühmorgens: Beim Ausatmen sinnt man darauf,
[den Atem] mit dem Himmel zu vereinen, beim Einatmen stellt
man sich die Dimensionen des „Torweg-Doppels“ (d. h. der
Nasenhöhle) so vor, als ob man [das kostbare Qi] in einen tiefen
Abgrund speichert. – So wird das alte Qi täglich ganz aufgebraucht, und das frische Qi ist täglich im Überfluss vorhanden.
So ist der Körper prächtig wie die Wolken und wird ganz von
Essenz ausgefüllt; daher kann man lange bestehen …
Das Regulieren des Atmens tagsüber: Das Aus- und Einatmen
muss kaum spürbar sein, Augen und Ohren sind ganz
aufnahmebereit und klar … Das Regulieren des Atmens am
Abend: Man atmet tief und mit langen und langsamen Atemzügen, so weit dass die Ohren nichts mehr hören. Wenn man dann
ruhig geworden ist, geht man zu Bett …
Das Regulieren des Atmens in der Mitternacht: Wenn man aufwacht, darf man die Lage des Körpers nicht verändern. Man
atmet tief und langsam, und ohne Kraft … Man muss mit den
Poren atmen.“ [Vgl. 1:394–396; 2:905 f., 908–912]
In einem Grab, das sich bei Yongxing in der Provinz Sichuan
befindet und wahrscheinlich aus dem Ende des 2. Jahrhunderts
v. Chr, stammt, wurde eine 28,1 cm hohe, schwarze Lackfigur
gefunden, die das Modell eines nackten Menschen darstellt. Auf
dieser Figur befinden sich rote Linien, die auf den ersten Blick
den im MWD-Korpus beschriebenen Linien bzw. Adern ähnlich
sind. [11:81 ff; vgl. Abb. 5]
Bei genauerer Betrachtung erkennt man aber, dass sich (abgesehen von dreien dieser Linien) der Verlauf sehr von dem Verlauf
der „Adern“ des MWD-Korpus und des Lingshu unterscheidet.
Auch verlaufen diese Linien sehr gerade, sodass man den
Eindruck eines konstruierten Netzes gewinnt, das vom Kopf ausgehend den Körper umspannt. Dies könnte innerhalb von
Bemühungen, das Atem-Qi vom Kopf in alle Extremitäten zu
lenken, ein imaginatives oder reales (etwa durch Schnüre
hergestelltes) Hilfsmittel gewesen sein.6
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Abb. 5: Pl. 1. Replica of the lacquered figurine from tomb no. 2 at Yongxing
(photo by Peter Barker)
Sicher spricht kaum etwas dafür, dass das System der Linien
der Figur von Yongxing ein direkter Vorläufer der MWDAdern ist. Eher gehört es zu einer parallel entwickelten Tradition. Aber beide Traditionen könnten einen gemeinsamen
Vorläufer haben, der die Kultivierung der Atemtechnik zum
Gegenstand hatte.
Literatur
1. Harper D. Early Chinese Medical Literature – The Mawangdui Medical
Manuscripts. London u. New York 1998
2. Ma Jixing泻其␃. Ma Wang Dui gu yishu kao shi 泻䘚⪕♳◊⃵劒摙
(Erforschung und Erklärung der alten Medizinschriften vom Ma Wang-Hügel).
Changsha 1992
3. Ma Wang Dui boshu zhengli xiaozu 泻䘚⪕㻘⬢オ⃵㠃䚕⺞兓 (Team für das
Ordnen der Seidenmanuskripte des Han-Grabes von MWD), Wushier Bingfang,
℣◐ℛ䡔㡈, Beijing 1979
4. Unschuld PU, Tessenow H. Huang Di nei jing su wen – An Annotated Translation
of Huang Di’s Inner Classic – Basic Questions; Berkeley, University of California
Press 2011
5. Kluge F. Etymologisches Lexikon der Deutschen Sprache. 18. Auflage Berlin 1960
6. Dorsher PT, Fleckenstein J. Triggerpunkte und klassische Akupunkturpunkte.
Dt Ztschr f Akup. 2009,52; 1:9–14
7. Irnich D (ed). Leitfaden Triggerpunkte. München: Urban & Fischer, Elsevier 2009
8. Wancura I. Segment-Anatomie – Der Schlüssel zu Akupunktur, Neuraltherapie
und Manualtherapie. München: Urban & Fischer, 2. Aufl. 2010
9. Mayor D. The Chinese back shu and front mu points and their segmental
innervation. Dt Ztschr f Akup. 2008,51;2:26–36
10. Unschuld PU. Chinese Life Sciences – Introductory Readings in Classical Chinese
Medicine; Taos, New Mexico 2005.
11. He Zhiguo und Vivienne Lo. The Channels: A Preliminary Examination of a
Laquered Figurine from the Western Han Period. EARLY CHINA 1996, 21:81–123
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Vergl. 11:115 ff und 122 f.] Als weitere mögliche Interpretationen der Linien der Figur nennen
die Autoren „Linien der Massage“ („massage routes“) und „Ebenen des sich Streckens“ („plains
of stretch“) im Rahmen der im MWD-Korpus dargestellten gymnastischen Übungen. Die letztere
Interpretation erscheint mir weniger plausibel.